An
meine Kinder.
Für
euch, geliebte Kinder und Kindeskinder! beginne ich heute am zweiten Tage
unseres diesjährigen Sommer-Aufenthalts bei meinem lieben Sohne Karl einiges
auch aus meinem Leben aufzuzeichnen, das Ihr, denke ich, später doch nicht ohne
Interesse lesen werdet. Der letzte Zweck aber dieser Aufzeichnungen ist, Euch
ein Bild Eurer unvergeßlichen und unvergleichlichsten Mutter vorzuführen, so wie
es mir in der Seele steht. Zwar tragt Ihr alle, ich weiß es, ein Bild von ihr in
dankbarem und verehrendem Herzen; aber Ihr werdet doch in der Zeichnung Eures
Vaters, ihres Mannes, noch eins oder das andere Neue, eine oder die andere
Ergänzung, Verdeutlichung und Vertiefung finden. Denn nur Mann und Frau, zumal
wenn sie wie wir, länger denn ein Menschenalter zusammen gelebt haben, kennen
sich gegenseitig ganz.
Ich
hätte nun zu dem genannten Zwecke mit der Zeit beginnen können, wo ich sie
kennen lernte; das schien mir aber schließlich doch nur etwas Halbes oder
Unfertiges geben zu können, und so entschloß ich mich auf die freilich nicht so
fern liegende Gefahr hin, in der Arbeit abgerufen zu werden, mit den
Erinnerungen zu beginnen, die sich aus meinem Leben mir erhalten
haben.
Eine
Beichte soll es nicht sein; "Bekenntnisse" will ich nicht machen. Ihr kennt
Euren Vater mit seinen Schwächen, Fehlern und Sünden gut genug; Ihr habt schwer
genug unter ihnen zu leiden gehabt. Aber Ihr habt ihm dennoch zu seiner
unaussprechlichen Freude, zu seinem einzigen Glücke jetzt in seiner
Verlassenheit, Eure Liebe bewahrt; er war ja eben doch Euer
Vater.
Was
ich Euch von mir besonders zeigen möchte, das ist vor allem die Zeit, die
Familie, das Haus, in denen ich groß geworden bin und die bestimmenden
Einwirkungen für mein ganzes späteres Leben empfangen habe. Manches, das Ihr
selbst erlebt und beobachtet habt, wird Euch so erst klar werden; ganz andere
Verhältnisse, als worin Ihr aufgewachsen seid, werden Euch entgegen treten;
einen kleinen Beitrag zur Sittengeschichte möchte ich liefern; soweit es sich
tun läßt, wollte ich Euch wohl die "alte Geschichte" vom Menschen und seiner
Schuld, von seiner Unwürdigkeit und Gottes Gnade vorführen. Und sollte es nicht
aus meiner Erzählung von selbst hervorgehen, so will ich es lieber hier gleich
am Eingange mit Beschämung und Dankbarkeit aussprechen: wahrhaft Schweres habe
ich eigentlich nur erfahren durch eigene Schuld. Was Gott mir versagt, was er
mir zu tragen auferlegt hat, war nicht von wesentlicher, für die Gestaltung
meines Lebens entscheidender Bedeutung. Nur soviel glaube ich sagen zu können:
in gesunder und wahrhaft gedeihlicher Familien-Luft bin ich nicht groß geworden.
Dagegen hat mir der gnädige Gott so viele unverdiente Gnadengaben zugewendet,
daß ich bei einem schuldlosen Leben einer der glücklichsten Menschen auf Erden
hätte sein müssen.
Welche
Fülle des Glücks hatte Er mir allein in der wahrhaft seltenen Frau beschieden,
die Eure Mutter werden sollte! Daß ich ihrer mich nicht wert erwiesen habe,
bleibt die schwerste Erinnerung meines Lebens. Unaussprechlich hat sie mich
beglückt! -
Doch
nun zur Sache.
Die
"Jansen"
Unser
Name, der in verschiedensten Formen und Schreibungen vorkommt und mit Johannsen
und Jensen offenbar einerlei ist, ist ein niederdeutscher, näher ursprünglich
wohl ein friesischer; der ganze Küstenstreif an der Nordsee von der Widau bis
nach Dünkerken ist voll von Jansen: in der gewöhnlich französiert geltenden
Hauptstadt Belgiens habe ich mindestens 4-5 Seiten des Wohnungsanzeigers mit
diesem Namen bedeckt gefunden.
Bekanntlich
hat nun im ganzen Mittelalter ein fortwährender Zuzug von Holländern[1]
in unser Land, namentlich in den Westen desselben und insonderheit in die
Elbmarschen stattgefunden. In dieser geschichtlichen Tatsache findet die
Überlieferung, welche sich in unserer Familie erhalten hat, ihre Bestätigung,
daß unsere Vorfahren mit zwei anderen weit verzweigten Familien, den Danielsen
und den ...[2]
aus Holland eingewandert sind. Eine zweite Bestätigung dieser Einwanderung liegt
in dem Umstande, daß die Milchwirtschaft, nach ihren Meistern und ersten Lehrern
bei uns Holländerei genannt, den Lebensberuf aller Jansen gebildet hat, von
denen sich überhaupt Kunde erhalten hat. Mein Urgroßvater, mein Großvater, mein
Vater, auch mein älterer Bruder, ein Vaterbruder, unsere Vater-Vettern, alle
sind Holländer gewesen, nur einer oder der andere später zu einem verwandten
Berufe übergegangen, Bauer oder Gutspächter geworden.
Der
erste Jansen, dessen Name und Andenken erhalten ist, Jürgen Otto, "im November"
- so lautet seine eigene Angabe - 1712 geboren, war Holländer auf Vielböken,
Kirchspiels Fietlübbe in Meklenburg, dann auf Golbek oder vielmehr Goldbek,
Kirchspiels Klütz ebenda. Er hatte mit seiner Frau, Catharine Margarete Ovens,
geboren 12. Februar 1716, neun Kinder, 7 Söhne und 2 Töchter. Der fünfte seiner
Söhne, Daniel, scheint früh nach Holstein gekommen zu sein, wie eine leise
Einwanderung von Landleuten aus Meklenburg nach Lauenburg und
Schleswig-Holstein, selbst Jütland und den dänischen Inseln vielfach auftaucht
und noch heutzutage nicht ganz aufgehört hat. Er freite die Tochter des
Organisten Wedderkop zu Gnissau und der Anna Elisabeth Rüder, Maria Dorothea
Wedderkop, die erste Persönlichkeit aus der Familie Jansen, von der ich eigene
Erinnerungen aus der Kindheit habe.
Auch
diesem Daniel Jansen wurden 9 Kinder geboren; und zwar das älteste auf
Mönchneversdorf, die beiden folgenden auf Kuhhof, das vierte, mein Vater, in dem
Dorfe Damlos bei Oldenburg, in der "Kathe"[3],
das fünfte auf Rethwisch, Kirchspiels Hansühn, die beiden folgenden zu Neudorf,
die beiden letzten zu Goddersdorf, ein Beleg für die Unsicherheit einer immer
nur einjährigen Meierei-Pachtung. Auch ihm wie seinem Vater starben mehrere in
den ersten Lebensjahren, während alle übrigen, groß gewordenen ein hohes Alter,
von 73 bis zu 84 Jahren erreichten. Er selbst starb schon in seinem 47.
Lebensjahre. Seine Wittwe setzte mit ihrem ältesten überlebenden Sohn, Daniel
Wilhelm, der noch nicht lange konfirmiert, aber von Kind an zu harter Arbeit
gewöhnt war, das Geschäft fort, die Holländerei des Landesoldenburger Gutes
Goddersdorf; wie lange, weiß ich nicht.
Im
Jahre 1805 übernahm mein Vater eine selbstständige Pachtung auf dem großen, dem
Fritz Schwerdtfeger gehörigen Gute Seegalendorf, gleichfalls in Landoldenburg,
und der jüngere Sohn, Karl, scheint in meines Vaters Stelle bei seiner Mutter
getreten zu sein, da der auf meinen Vater unmittelbar folgende Matthias in die
Kaufmannslehre gegangen sein wird.
In
meiner frühen Kindheit, gegen 1830 oder um 1830, lebte meine Großmutter schon
bei ihrer jüngsten Tochter, Sophie Elisabeth, verheiratete Winkelmann, der
damals Inspektor oder vielmehr Verwalter - Inspektor war derzeit nur erst in
Meklenburg der gebräuchliche Titel -
des Gutes Kuhhof war und, wenn ich mich recht erinnere, in dem von einem
"Haus"-Graben umgebenen Herrenhause oder schlechtweg sog. "Hause", d.h. Burg,
wohnte. Später und bis zu ihrem Tode lebte sie bei ihrer ältesten Tochter,
Lucie, verheirateten Heise, der Frau des Holländers auf demselben Kuhhof. Hier
fanden wir sie, als wir 1838 wie gewöhnlich zu dem in der ganzen Gegend
berühmten Markte zu Oldenburg kamen, kurz vorher entschlafen, im zweiten Monat
ihres 87. Lebensjahres. Eine harte Frau war sie: einer Freundlichkeit oder gar
Liebkosung gegen ihre Enkel weiß ich mich nicht zu entsinnen. Dagegen quälte sie
mich, wie mir namentlich von einem Besuche auf Kuhhof bei Onkel Winkelmann in
lebhafter Erinnerung ist, mit scharfem Kämmen, was wohl nötig gewesen sein wird,
dermaßen, daß ich außer mich geriet und drohte, sie totstechen zu wollen. In
ähnlichem Sinn und Geiste wird sie und ihr Mann auch die Kinder erzogen haben;
das war einmal so die Sitte und Art der Zeit: Liebeskundgebungen wurden als
Verzärtelungen angesehen und geflissentlich gemieden. Daß er auch am Tage seiner
Konfirmation seine Tracht[4]
Milch zu Hause tragen mußte, habe ich meinen Vater selbst seinem ältesten Sohn
Wilhelm an dessen Konfirmationstage vorhalten hören, der durch diese
Alltagsarbeit nicht gestört wurde.
Dunkler
als meine Großmutter väterlicher Seits taucht in meiner Erinnerung "Johann-Ohm"
auf (gesprochen als ein Wort). Er muß von meines Urgroßvaters Söhnen der jüngste
gewesen sein, der in dem von Jürgen Otto herrührenden Namenbaum als Johann
Konrad, geboren 1755, aufgezeichnet steht. Er war wohl, soweit ich zu sehen
vermochte, unverheiratet und jedenfalls, was meine Mutter treffend einen
"Schüchterling" zu nennen pflegte. Denn er lebte, wie ich annehme, ohne eigenen
Herd längere oder kürzere Zeit bei den Verwandten, auch, obwohl nicht eben oft
oder lange, bei meinem Vater, seinem ältesten Neffen. Ich erinnere ihn als einen
schweigsamen und schon alten Mann. Später, als er im Wasser den Tod gesucht und
gefunden hatte, erfuhr ich, daß ein unheilbares und schmerzhaftes (Krebs) Leiden
an der Lippe ihn dazu getrieben habe.
Sehr
klar und lebhaft vor der Seele stehen mir die sämtlichen am Leben gebliebenen
Geschwister meines Vaters, 2 Brüder und 3 Schwestern. Am wenigsten der
älteste,
Kai
Matthias
Er
hatte sich gegen die Überlieferung der Familie entschlossen, Kaufmann zu werden
und war so nach Altona gekommen, wo er eine noch in ihren späteren Jahren schöne
und kräftige, kluge und starkwillige Frau aus niederem Stande heiratete. Die Ehe
scheint bald unglücklich geworden zu sein. Der Mann ergab sich dem Trunke, das
kaufmännische Geschäft ging zurück und schließlich ganz ein. Mann und Frau
trennten sich, die Mutter mit den Kindern, welche bei ihr blieben, geriet in die
äußerste Not und Armut. Nur die Unterstützungen an Geld und Lebensmitteln,
welche mein Vater als Haupt der Familie teils selbst hergab, zum kleineren Teil
von den übrigen Geschwistern erwirkte, hielten sie über Wasser. Die Kinder, 3
Söhne, Eduard, Adolf, Hermann und 1 Tochter, Sophie, alles kluge, anstellige und
gesunde Menschen, wuchsen heran und wußten, durch die Not geweckt und
angespornt, sehr früh einen Teil ihres Unterhaltes selbst zu verdienen und bald
völlig auf eigenen Füßen zu stehen. Der älteste ward Makler und brachte es zu
gutem Ansehen und bequemen Verhältnissen; er lebt in hohem Alter noch. Der
zweite ward Uhrmacher, machte weite Reisen zu seiner Ausbildung und gründete
dann ein Uhren- und Chronometer-Geschäft in seiner Vaterstadt. Bald aber zeigten
sich bei ihm die unverkennbaren Spuren der Zuckerharnruhr[5];
er rüstete sich schon zu einem längeren Aufenthalt bei meinen Eltern, wo er von
der schönen Landluft nach Art der Schwindsüchtigen sichere Genesung hoffte: da
starb er.
Der
dritte Sohn war von allen der liebenswürdigste. Schon als Knabe kam er in das
große Damer'sche Geschäft, zunächst nur um die Dienste eines Laufburschen zu
tun. Seine Zuverlässigkeit und Anstelligkeit aber wandten ihm bald in steigendem
Maaße das Vertrauen seiner Herren zu: er kam aufs Kontor, und es dauerte nicht
lange, so verdiente er schon ein stattliches Jahres-Einkommen, sodaß er mit dem
älteren Bruder zusammen nicht bloß Mutter und Schwester ernähren, sondern auch
selbst eine Familie gründen konnte. Aus einem Commis wurde er dann Teilnehmer
des großen Geschäfts, bis er zu bedeutendem Vermögen gelangt ein eigenes
begründete, das ihn dann vollends zum reichen Mann gemacht hat. Er steht jetzt
in der Mitte der 70-ger Jahre und lebt in behaglicher Muße in St. Georg. Seine
Frau, eine geborene Geerdts, lebt auch, seine Töchter sind verheiratet, die
Söhne längst selbstständig; der Zusammenhalt mit den Verwandten, der eine Zeit
lang trotz der Entfernung und einer etwas leichten Lebensauffassung recht enge
war, hat sich wohl auch infolge des zuströmenden Geldes ziemlich gelockert und
gelöst. Mutter und Tochter, beide sehr jener Lebensrichtung zugetan, sind längst
verstorben.
Der
andere jüngere Bruder meines Vaters
Wulf
Karl
wurde
auch Holländer. Während aber die meisten seiner Berufsgenossen nur mit Mühe aus
den schlecht gefütterten Kühen die Jahrespacht zu erzielen imstande waren, wußte
er auf dem Gute Sebent bei Oldenburg, einem der mehreren sog. älteren
gottorpischen Fideikommißgüter[6],
gute Geschäfte zu machen und ein kleines Vermögen zu erwerben, das ihn in den
Stand setzte, in dem lübschen Dorfe Klein-Parin eine schöne Hufe[7]
zu erwerben. Hier habe ich später als Schüler des Lübecker Catharineums ihn oft
besucht und die ganze Familie, Frau und Kinder, 3 Töchter und 1 Sohn, näher
kennen gelernt. Onkel Karl hatte ganz die harte und strenge Lebensführung der
Zeit und der Jansen. Arbeit, harte Arbeit vom Morgen bis in den Abend,
Sparsamkeit und selbst Entbehrung, wenig Worte, kurzes und kräftiges Gebieten,
das jede Widerrede abschnitt, starke Anforderung an sich und an andere, das
waren die hervortretendsten Züge dieses Hauses. Die Frau, eine geborene Lafrenz,
verständig und von kräftigem Willen, teilte seine Auffassung und lebte mit ihm
in herzlichem Einverständnis, das sie trotz einer gewissen Herrschaft über den
Mann doch auch durch rechtzeitige und vernünftige Anbequemung aufrecht zu
erhalten wußte. Sonntags, wo ich sie nur besuchte, gab es jedesmal Fleischsuppe;
um heiß Wasser oder Arbeit oder Schüsseln zu sparen, wurde das Fleisch von
denselben irdenen Tellern gegessen, aus denen man die Suppe genommen hatte. Als
ich einst einen Mitschüler Ibbeken aus dem benachbarten Rensefeld zu Gefallen
gewagt hatte, schon Sonnabends zu kommen und auf ein Nachtquartier Anspruch zu
erheben, wurde ich zwar nicht unfreundlich empfangen, jedoch beim Weggehen
bedeutet, mal wieder zu kommen auf einem Sonntag.
Bei
dieser allein auf den Erwerb des täglichen Brotes gerichteten Lebensführung war
Onkel Karl durchaus doch nicht ohne alle höheren Interessen. Er besaß einen
kleinen Bücherschatz und hatte sich mit einem guten Gedächtnis und klarem Urteil
aus dem dicht auf Löschpapier gedruckten Brockhaus eine solche Menge von
Kenntnissen angeeignet, daß ich z.B. in der Geschichte gegen ihn durchaus den
Kürzeren zog, was doch umso mehr bedeuten wollte, als er nur die Feierabende und
die Sonntage zu solcher Beschäftigung hergab.
Von
zwei besonders schweren Schlägen ward die Familie heimgesucht. In dem Teiche auf
der Hofstelle, der zum Tränken des Viehes zu dienen pflegt, ertrank vor den
Augen des Wohnhauses der erst in Parin geborene jüngste Knabe, 2-3 Jahre alt.
Der andere Sohn,
Heinrich,
ein gesunder, etwas beschränkter, stiller Mensch, der nach seiner Confirmation
gleich einem Knechte bei seinem Vater arbeitete, verfiel in Schwermut und schoß
sich, etwa Mitte der zwanziger Jahre, eine Kugel durch den
Kopf.
Die
älteste Tochter, Karoline, ein grundgutes Mädchen, von großer Anhänglichkeit an
ihre Verwandten - war von sehr schwachem Verstande und erschien dadurch auch
noch in reiferen Jahren zuweilen etwas wunderlich und
kinderhaft.
Die
jüngste, Helene, der Mutter Ebenbild, holte sich der jüngste Sohn der noch
wieder zu erwähnenden Familie Höper-Sütel zu einer reich gesegneten Ehe. Die
zweitjüngste, Charlotte, wurde dann mit einem Nachbar, Köne, gleichfalls sehr
glücklich verheiratet. Sie verloren an der Halsbräune[8]
in wenig Tagen, zwei hoffnungsvolle Kinder; ein Schlag, den die Mutter lange
garnicht verwinden konnte. Die Söhne und Töchter der Helene und des August Höper
sind längst alle selbstständig und verheiratet und wohnen in Land Oldenburg oder
auf Fehmarn um die noch rüstigen Eltern herum; - ein schönes Beispiel gesunder
Familien-Verhältnisse und reiner Sitte.
Eine
merkwürdige, aber unter Kindern gleicher Eltern keineswegs seltene
Verschiedenheit des Wesens stellten die drei Schwestern meines Vaters dar,
Lucie, Magdalene und Sophie. Die beiden jüngsten, beide blond und fast rötlich,
aber mit braunen Augen, beide von mittlerem und kräftigem Wuchse, überhaupt
einander in Schnitt und Form des Gesichtes sehr ähnlich, waren von Natur und
Gemüt ganz verschieden, fast Gegensätze: Tante Lene hart und eigenwillig, Tante
Sophie weich und nachgiebig, von großer Herzensgüte und Mildigkeit, in ihren
älteren Jahren bei dem geringsten freudigen oder traurigen Anlaß bis zur Träne
gerührt. Tante Lucie, größer und stärker, mit braunen Augen und dunklem Haar
verband mit einer glücklichen Gabe, die Dinge des alltäglichen Lebens verständig
zu beurteilen und ausgleichend zu gestalten, ein schönes Maß von Herzensgüte und
Hilfbereitschaft gegen Bekannte und Freunde.
Obwohl
weder von Gestalt noch Gesicht schön - sie hatten alle die fahle Farbe und die
des Ebenmaßes entbehrende Gestalt der Jansen - obwohl auch nicht vermögend oder
nur im Besitze einer guten Mitgift, waren sie doch alle in den gegebenen Jahren
verheiratet und hatten gute und tüchtige Männer, die jüngste Sophie selbst über
ihrem Stande, gefunden.
Lucie
hatte einen Heise, Glied einer sehr verbreiteten Holländer- und Pächterfamilie
zum Mann und hat, soweit ich weiß, nur auf Kuhhof gewohnt: Onkel Heise war zwar
nur von kleinem oder mittlerem Wuchse, aber kräftig und untersetzt und von
feinem, fast edlem Gesichtsausdruck, freundlichen und maßvollen Wesens, etwas
bequem und zu körperlicher Arbeit, wie sie andere seiner Standesgenossen taten,
wenig geneigt. Die Besorgung der kleinen Meierei von Kuhhof überließ er ganz
seinem unverheirateten, bei ihm lebenden Bruder. Er selbst betrieb nur den
kleinen Handel mit Fellen und Sämereien und wenigen anderen landwirtschaftlichen
Bedürfnissen, zu welchem ihm die unmittelbare Nähe der Stadt Oldenburg die
Gelegenheit bot. So oft wir ihn besuchten, und es geschah häufig, erinnere ich
ihn nicht anders als in der Stube auf seinem aussichtgewährenden Platze in der
Fensterecke gesehen zu haben, in würdiger Behaglichkeit seine Meerschaumpfeife
haltend und schmauchend. Abends ging er ständig in eine kleine Gesellschaft
guter Freunde, Oldenburger Bürger, die sich beim Gastwirt Engel zu Spiel oder
Unterhaltung sammelte.
Sie
hatten 5 Kinder, 4 recht stattliche Söhne und eine durch Schönheit und
Liebenswürdigkeit in der ganzen Stadt wohlbekannte Tochter Marie. Diese hatten
sie den großen Schmerz im blühendsten und hoffnungreichsten Lebensalter an einer
hitzigen Krankheit plötzlich zu verlieren. Die Teilnahme der Bekannten und
Verwandten wie Fernerstehenden war ungewöhnlich groß, und die liebenswürdigen
Eigenschaften des so früh dahin gerafften jungen Mädchens fanden nach ihrem Tode
nur um so beredtere Anerkennung. Die Söhne wuchsen gedeihlich heran. Sie waren
der Gegenstand großer Freude und eines mit seltener Offenherzigkeit bekannten
Stolzes bei den Eltern, die selten einen Bekannten oder Unbekannten ohne eine
Lobrede ihrer Kinder entließen. Alle vier, August, Johannes, Adolf, Ferdinand
wurden Landleute, kamen auf adligen Höfen als Kostgänger, Schreiber oder
Verwalter sehr günstig an und erwarben und bewahrten auch sämtlich die
Zufriedenheit und das Vertrauen ihrer meist adligen Herren und Herrinnen. Der
gescheuteste und auch liebenswürdigste, durch männliche Haltung und Erscheinung,
durch offenes und biederes Wesen für sich einnehmende war der älteste, August.
Nachdem er lange als Verwalter, zuletzt beim Grafen Brockdorff-Kletkamp gedient
hatte, verheiratete er sich mit der bildschönen Tochter des dortigen Försters
Nissen, von der einige wissen wollten, es fließe gräfliches Blut in ihren Adern.
Sie pachteten einen Hof in Jütland, unweit Veile, und bewirtschafteten ihn
einige Jahre mit wenig erfreulichem Erfolge. Bald nach der Geburt des zweiten
Kindes, wenn ich nicht irre, starb der Mann im kräftigsten
Lebensalter.
Der
zweite Sohn, Johannes, gewann als Verwalter auf Schönweide die Gunst der
Herrschaft, des Herren und der Frau von Hollen, in so hohem Maße, daß sie ihm
die erste freiwerdende Pachtung auf einem ihrer Güter, Görz in Land Oldenburg,
zu unerhört günstigen Bedingungen, für die Hälfte etwa des gewöhnlichen
Pachtpreises zuwandten. Auch er heiratete ein junges Mädchen von großer
Schönheit und, wie man glaubte,
auch Vermögen, Hermine Kemper, deren Mutter, geborene Lassen von Siggen
und Süssau, der angesehenen und durch hübsche Töchter und Söhne weit bekannten
Familie der Meier, Lenz und Winkelmann angehörte. Kemper war ein eingewanderter
Untertan des Königs Jerome von Westphalen, ein wenigstens in seinen höheren
Lebensjahren völlig verschrobener Mann, der seine wohl etwas beschränkte Frau
entsetzlich gequält haben soll. Als die Frau von Hollen ihren Verwalter entließ,
schenkte sie ihm eine feuerfeste Geldlade: da sollte er jedes Jahr 5000
*[9]
hineinlegen.
Soviel
hat sie wohl kaum je umschlossen. Es dauerte nur wenige Jahre, da hieß es, was
aber kein Mensch glauben wollte, Heise von Görz stände vor dem
Bankbruch[10].
Nicht lange, so wurde der nur durch eine unglaubliche Gleichgültigkeit und
Beschränktheit in Schulden gestürzte Pächter, der sich in fremdem Dienste so
ausgezeichnet bewährt zu haben schien, unter Vormundschaft gestellt, sein Gut
von zwei ihm verwandten klugen und erfahrenen Landleuten, dem Gutsbesitzer
Lassen von Siggen und dem Doppelhufner Heinrich Wiese aus Sütel verwaltet, und
in wenig Jahren hatten die beiden die aufgelaufenen rund 70.000 M Schulden
wieder getilgt. "Ja, das habe ich ja immer gesagt", meinte Johannes Heise, "es
mußte da wohl wieder heraus, ich hatte es ja da hinein gesteckt." Er bekam aber
begreiflich die Pachtung nicht wieder, übernahm eine Kalkbrennerei bei Lübeck,
was auch nicht gehen wollte, verlor seine Frau und geriet mit den Kindern in
sehr bedrängte Umstände. Er fand dann in einem Wirtshause Verwendung zur
Unterhaltung der Gäste mit Billard und Kartenspiel, wozu er sich nach seiner
unglaublich bequemen und phlegmatischen Natur wohl eignete. Ob und wie er jetzt
noch lebt, weiß ich nicht.
Der
dritte Sohn, Adolf, war der schmuckste von allen, auch der im Haushalt und
Erwerben glücklichste. Mehrere Jahre hatte er den kleinen Hof Luisenberg bei
Eckernförde, dann ein Wirtshaus bei Bordesholm. Hier ist er auch schon früh
gestorben. Nur einmal habe ich ihn nach der Zeit unserer Knabenjahre
wiedergesehen.
Der
vierte und jüngste der Brüder, Ferdinand, war mein Altersgenosse und daher von
allen Brüdern auch mein besonderer Maat[11],
ein großer und stattlicher, gleichfalls überall wohlgelittener Mensch. Ihm ist
die Soldatenzeit zum Verderben geworden. Von der Mutter in zärtlicher Fürsorge
etwas zu reichlich mit Geld versehen, geriet er in eine von manchen aus
begreiflichen Gründen sehr gesuchte Freundschaft mit Feldwebel und
Unteroffizieren, die seine Taler in Bier umzusetzen halfen, und nach beendetem
Kriege ging er aus dem aufgelösten schleswig-holsteinischen Heere - nicht der
einzige - als Trinker hervor. Verheiratet mit einer Tochter des wohlhabenden
Besitzers von Kasmark, Behrens, pachteten sie erst den kleinen Hof Riis bei
Apenrade, vertauschten ihn mit einer Ziegelei am Flensburger Fiord, kamen immer
weiter zurück und haben seit längerer Zeit nur noch eine Krugwirtschaft. Ich
habe ihn seit der Kriegszeit nicht wiedergesehen, nur hin und wieder wenig
erfreuliches von ihm gehört. Es scheint fast, als wenn das allzu reichlich und
allzu früh gespendete Lob der Eltern keine ausschließlich fördernde Wirkung auf
die Söhne gehabt hat. Jedenfalls bildet die harte Arbeitsamkeit und
Einschränkung des vorangehenden Geschlechtes, dem der Erwerb des "Brotes" die
erste und fast einzige Lebensaufgabe galt, und das ganz mißglückende Streben
aller Söhne nach der bequemeren und angeseheneren Stellung eines kleinen
Gutsbesitzers oder Pächters, nach einem "herrschaftlichen" Leben, einen
bemerkenswerten Gegensatz.
Magdalene
Jansen
heiratete
einen Probsteier, Wiese, der in dem großherzoglichen Dorfe Sütel an der Ostsee
die eine der beiden schönen Doppel-Hufen besaß und mit der den Probsteiern
eigenen aufgeklärten Strebsamkeit bewirtschaftete. Er ist dort aber schon zu
einer Zeit gestorben, die in meiner Erinnerung nicht mehr klar ist; ein Bild von
seiner Person ist mir nicht geblieben. Wohl aber erinnere ich, daß von den
Kindern mehrere bald nach einander starben, und daß ich zwei der Leichen auf dem
Totenbette gesehen habe. Die eine, etwa 10-12 Jahre alt, erschien mir wie ein
nunmehr vollendeter, irdischer Not und Sünde entnommener Engel mit ihrem Kranze
ums Haupt als ein liebliches Bild; die andere, ältere, schon erwachsen,
vielleicht 16-17 Jahre alt, deren Zwillingsschwester, Dora, in hohem Alter noch
heute lebt, von Jugend auf schwach und kränklich und zuletzt abgemagert zu einem
vollständigen Skelett, erregte mir ein unerwartetes, unnennbares Grausen, das
ich lange nicht wieder loswerden konnte. Nur drei Kinder, Dora, Heinrich und
Ferdinand, blieben am Leben.
Die
Wittwe nahm zur Besorgung der Wirtschaft einen jungen Mann ins Haus, Fritz
Freitag, den Sohn eines Schwagers von meinem Vater, der, wie dieser, mit der
Schwester des zweiten Doppelhufners in Sütel, Höper, in erster Ehe verheiratet
war. Bald merkten wir Kinder aus den Gesprächen und wiederholten Reisen meines
Vaters, der nicht bloß Haupt der Familie, sondern auch Vormund und Curator
geworden war, daß sich in Sütel etwas Unleidliches vorbereitete. Wie oft,
erinnere ich, daß er nach völlig beendetem Tagewerk und rasch genommenen
Abendbrod um 7-8 Abends sein gutes Pferd bestieg, um die drei Stunden nach Sütel
zurückzulegen und nach erledigtem Geschäft zum neuen Tagewerk zurückzueilen.
Geschehen war, was so oft geschieht: der junge Mann und die gereifte Frau waren
sich einiggeworden. Die ganze Familie, am heftigsten mein Vater, waren dagegen,
die Kinder, am unversöhnlichsten die bereits erwachsene Tochter Dora, waren
empört, Fritz Freitag Vater nennen zu sollen. Sie haben es nie über sich
gewonnen. Denn die Verbindung ging trotz allen Widerstandes vor sich und, was
niemand gedacht hatte, führte zu einer kinderlosen, aber glücklichen und langen
Ehe. Die verständige und freundliche Haltung des tüchtigen und ordentlichen
jungen Mannes gegen die Kinder versöhnte allmählich auch diese, und die Frau
konnte sich einen aufmerksameren und zärtlicheren Mann kaum wünschen. Auch das
Verhältnis der ganzen Verwandschaft zu dem anfangs so unwillkommenen Schwager
gestaltete sich zu einem durchaus freundlichen und ungestörten. Als der älteste
Sohn Heinrich die väterliche Hufe übernahm, pachtete der Stiefvater eine in
Nanndorf, ebenfalls in Land Oldenburg, und als diese Pachtung zu Ende ging,
zogen sie nach Eutin. Hier ist Lene Jansen 1868 im 84. Lebensjahre gestorben.
Nach einem Vierteljahre etwa folgte der noch sehr kräftige Mann ihr im Tode
nach. Auch ihr scheint der allem Anschein nach so vielen Bedenken bloßstehende
Schritt einer so ungleichen Verbindung nie gereut zu
haben.
Die
älteste Tochter Dora, ein sehr kluges, mit einem erstaunlichen Gedächtnis
begabtes und in Folge davon durch Lesen sehr unterrichtetes Mädchen, ist, obwohl
von mehr als einer Seite begehrt - sie hatte auch ein eigenes Vermögen - und von
einem ganz unbescholtenen Kaufmann in Hamburg Jahre lang umworben, auch einmal
mit ihm verlobt, konnte sich doch zuletzt nie entschließen und ist unverheiratet
geblieben. Sie lebt in hohem Alter in Eutin, eine tüchtige Wirtschafterin und
Erwerberin, noch jetzt ohne Mädchen. Sie hatte stets eine Art von Leidenschaft,
sich um die Verhältnisse ihrer Mitmenschen zu kümmern und besaß dazu eine nicht
immer harmlose Spürkraft, sodaß es kaum eine Übertreibung ist, wenn ich sage,
sie kannte die Familiengeschichte aller mir einigermaßen namhafteren
Schleswig-Holsteiner und der meisten europäischen Fürstenhäuser dazu bis in die
geheimsten Einzelheiten in einem Umfange, wie es nicht leicht zum zweiten Male
vorkommt. Ihres Lebens aber ist sie mit ihrem unsteten, ruhelosen und
unbefriedigten Sinne kaum je einen Augenblick froh geworden, würde auch
schwerlich jemals einen Mann beglückt haben, der sich nicht willenlos
untergeordnet hätte.
Der
älteste Sohn, Heinrich, gleichfalls ein kluger und gut unterrichteter Mann,
machte, bevor er den väterlichen Besitz übernahm, eine für seine Verhältnisse
große Reise durch Deutschland und Oberitalien, verheiratete sich mit einer
wohlhabenden Bauerntochter aus Nanndorf, Sievers, und bewirtschaftete seine
große Erbhufe allerbesten, landoldenburgischen Bodens mit ererbtem Geschick und
vorsichtiger Verwendung aller von den Fortschritten der Landwirtschaft gebotenen
Mitteln zur Hebung der Erträge des Bodens. Sein Viehstand an Kühen und an
Pferden gehörte zu den vorzüglichsten, landwirtschaftliche Maschinen wurden
nicht gespart, das erst vom Vater neu erbaute Wohnhaus wurde durch ein
stattliches neues ersetzt, ebenso sämtliche Wirtschaftsgebäude und, obwohl ihm
die Söhne, zwei Landleute, ein Jurist und ein Baumeister, viel nötiges und
unnötiges Geld gekostet haben, obwohl er auch von sehr kostspieligen Krankheiten
heimgesucht ist und immer eine mehr als bäuerliche Gastfreundschaft geübt hat,
sind doch seine Vermögensverhältnisse von größeren Verlusten infolge einer
fehlgeschlagenen Pachtunternehmung nicht erschüttert worden. Seine häuslichen
Verhältnisse sind von manchem Schweren, nicht ohne eigenes Verschulden, getrübt
gewesen, haben sich aber zuletzt wieder freundlicher gestaltet. Trotz vielfacher
sehr ernster Krankheitsanfälle waltet er, von einem der Söhne unterstützt, noch
immer, jetzt 72 Jahre alt, mit alter Kraft seines Berufes.
Der
jüngere Bruder, Ferdinand, besuchte mehrere Jahre die Realklassen des Lübecker
Catharineums, wandte sich dann auch der Landwirtschaft zu und erwarb einen Hof
in Angeln, Koltoft, den er dann bei herannahendem Alter günstig wieder
verkaufte, um sich nach Glücksburg auf einen städtischen Grundbesitz
zurückzuziehen. An der Bewegung des Landes und namentlich auch Angelns gegen die
Dänen und für den Herzog Friedrich hervorragend beteiligt, ward er 1867 in den
Reichstag des norddeutschen Bundes gewählt, nicht der einzige der ebensosehr
aufgeklärten und gebildeten wie wirtschaftlich tüchtigen kleineren
Grundbesitzer, die Schleswig-Holstein namentlich in seinem wohlhabenden Osten
und Westen aufzuweisen hat. Seinen einzigen Sohn hat er früh verloren, als er
eben erwachsen war. Zwei Töchter leben; auch seine äußerst kräftige und
entschlossene Frau. Er selbst ist seit längerer Zeit körperlich schwach und
gemütlich der Schwermut verfallen.
Die
Familie Daniel Wilhelm Jansen
Mein
Vater heiratete 1805 die Tochter des anderen Doppelhufners in Sütel, Höper,
Elsabe, eine, wenn ich nach dem mir noch erinnerlichen Bruder und dem ganzen
Sinne und Charakter dieser echten und rechten Bauernfamilie voll Schlichtheit
und Tüchtigkeit, gesunder Einsicht und reiner Sitte urteilen darf, vortreffliche
und körperlich stattliche Frau, von feingeschnittenem, schönem Gesichte. Nach
9-jähriger, wie er selbst in seinen kurzen Aufzeichnungen bekennt, "viel
glücklicher" Ehe wurde sie ihm entrissen.
Sie
hinterließ ihm drei Töchter, Wilhelmine, Auguste, Lisette, meine
Stiefschwestern.
Alle
drei, besonders aber die älteste, haben nicht ohne eigene Schuld ein schweres
Leben gehabt.
Die
älteste, vor der Zeit meines Gedenkens an Fritz Schröder, Sohn des Holländers
von Stendorf, verheiratet, wohnte zuerst auf dem Stendorf benachbarten Bergfeld,
dann auf dem großen Gute Coselau unweit Lensahn. Schon auf Bergfeld war das
Verhältnis zwischen den Eheleuten ein gestörtes. Auf Coselau ergab sich der von
Haus aus leichtfertige, vielleicht auch durch seine Frau gereizte Mann immer
mehr und offener dem Trunke und anderen damit meist in Verbindung stehenden
Dingen. Er machte sich auch mit dem herzoglichen Verwalter unrechtfertiger
Durchstechereien schuldig; der Verwalter verlor seinen Dienst, er seine
Pachtung, die Familie kam auf nichts und wurde in alle vier Winde zerstreut. Er
suchte sein Auskommen in Jütland, wo er nach längerer Zeit verkommen und von der
Güte fremder Menschen lebend sein Ende gefunden hat. Auch seine Frau mußte sich
in die Bitternis fügen, ihr Brot als Meierin "im Dänischen" suchen zu müssen.
Die armen Kinder wurden bei Verwandten beider Seiten untergebracht, zwei Töchter
und zwei Söhne, von denen jedoch den jüngeren die Mutter bei sich zu erhalten
wußte. Das älteste Mädchen, Doris, starb früh. Die jüngere Adolfine nahm ihre
Großmuhme Lene in Sütel und Nanndorf zu sich, bei der sie eine strenge, aber
wohlgemeinte und schließlich auch wohl heilsame Schule mit Folgsamkeit und
stiller Entsagung auf eine heitere Kindheit durchgemacht hat und ein treues,
fleißiges und anspruchloses Mädchen wurde. Im Hause Heinrich Wiese's fand sie in
dessen Hauslehrer Heesch ihren braven Mann, der sie leider nach kurzer
glücklicher Ehe in Heiligenhafen mit einer kleinen Tochter mittellos zurückließ.
Ihre eigene Tüchtigkeit und Fertigkeit in allen weiblichen Handarbeiten, das
Wohlwollen der Heiligenhafener gegen sie und ihren verstorbenen Mann,
Unterstützungen auch von Verwandten überhoben sie bald aller Nahrungssorgen. Sie
fand Aufnahme in dem von einem reichen Kaufmann und Schiffer gestifteten
Wittwen-Heim und beerbte 1889 ihren unverheiratet gebliebenen jüngsten Bruder
Wilhelm, der ein Vermögen von 50.000 M hinterließ.
Der
ältere Bruder nämlich, Julius, als Kind mit dem Vater nach Jütland gekommen,
hatte es dort zu einer selbstständigen Stellung nicht gebracht und zuletzt bei
dem jüngeren Bruder Zuflucht gefunden. Nach Wilhelm's Tode, der ihm ein von der
Schwester zu zahlendes Jahrgeld ausgesetzt hatte, ging er nach Jütland zurück,
wo er aber bald hernach gestorben ist.
Wilhelm,
der jüngste von den Geschwistern, mit der Mutter auf verschiedenen Höfen im
Dänischen aufgewachsen, hatte dort seine Muttersprache völlig verlernt und
völlig dänische Gesinnung angenommen.
Als
mein Bruder Wilhelm in den 70-ger Jahren schwach und unfähig wurde, seine
Wirtschaft selbst zu versehen, nahm er diesen seinen Neffen als Haushalter an,
und da er treu und anspruchlos seine Pflicht tat, hielt es nach dem Tode meines
Bruders (2. Januar 1879) nicht schwer, ihm bei dem Inspektor Kaufmann die
Nachfolge in der Pachtung zu erwirken. Nachdem er hier 10 Jahre gut gewohnt
hatte, mußte er, weil er in die neue Einrichtung der Meierei sich nicht fügen
wollte, ungern genug nach dem Gute Crumesse in Lauenburg übersiedeln, wo er noch
in demselben Jahre einem schon länger entwickeltem Leberleiden
erlag.
So
war Adolfine von allen Kindern allein noch übrig und sah sich mit einem Schlage
in die bequemsten Verhältnisse versetzt. Sie hatte überdieß bald die Freude,
ihre Tochter, der sie eine vortreffliche Erziehung zu geben gewußt hatte, mit
einem zwar schon älteren, aber angesehenen und braven Manne, auch entfernten
Verwandten, Kästner, verheiratet zu sehen, der nur ein Viertelstündchen von
Heiligenhafen wohnte. Teils bei ihrer Tochter, teils aus der eigenen gesicherten
Wohnung lebt sie jetzt als beglückte Großmutter einen späteren Lebensabend nach
schwerer Jugend und harten Geschicken.
Meine
zweite Stiefschwester, Auguste, hatte ganz das feingeschnittene Höpersche
Gesicht und im Grunde eine glückliche und heitere Natur. Früh aus dem
väterlichen Hause entfernt und auf Dienst oder Aufenthalt bei fremden Leuten
angewiesen, hatte sie, was Goethe vom Weibe verlangt, das "Dienen"[12],
die Dienstbereitschaft und Zuvorkommenheit in hohem Maße gelernt und ist bei
mehr als einer Familie nicht sowohl Haushälterin als Vertrauensperson des Hauses
gewesen. Der Aufenthalt im Schröderschen Hause gereichte keiner Seite zum Segen.
Gegen ihre Stiefgeschwister bewies sie viel Liebe und Freundlichkeit, gegen ihre
Stiefmutter, die ihrerseits mütterliche Gefühle gegen die Stiefkinder nicht
kannte, alle Achtung und Ehrerbietung. Nur besuchsweise hat sie wohl nach der
Wiederverheiratung ihres Vaters das Vaterhaus wieder
gesehen.
Geschwisterliche
Gefühle gegen die Stiefgeschwister haben wir Kinder zweiter Ehe oder wenigstens
ich, der jüngste, nie gekannt, immerhin später, als wir erwachsen waren, ein
gutes Verhältnis zu ihnen gefunden. Auch ihre letzte schwere Krankheit hat
Auguste nicht im Vaterhause durchgemacht; sie starb am Krebs in ihrem 54. Jahre
zu Oldenburg bei der Schwester ihres Schwagers Davids.
Christian
Davids, Sohn eines Haushalters auf Meierhof bei Eutin, kam als Böttcher in unser
Haus, ein junger, blühender, durch seltene Körperkraft ausgezeichneter Mann von
klarem Blicke und glücklicher Laune. Ich erinnere mich sehr wohl, daß er mir
Jungen, der ich viel bei dem Gesinde, namentlich auch dem Böttcher mich
aufzuhalten pflegte, sehr bald erklärte, eine von meinen Schwestern wolle er
haben. Nicht lange, so entdeckten die Eltern zwischen ihm und der jüngsten
Stieftochter Lisette, die damals bei uns zu Hause war, ein geheimes
Liebesverhältnis, dem mit scharfem Verbot und strenger Aufsicht entgegen
getreten wurde. Umsonst. Davids mußte das Haus verlassen, Lisette gleichfalls.
Um die Hochzeit bin ich überhaupt nicht gewahr geworden. In Neustadt, wo er sie
eingemietet hatte, gebar sie ihr erstes Kind. Aber in ihrem Manne steckte ein
guter Grund von Einsicht und Kraft. Bald hatte er eine Haushalterstelle auf
Redingsdorf, und das Verhältnis zu den Eltern und Geschwistern stellte sich
wieder her. Dann war er im Stande, die Tangstedter Meierei zu pachten, wo sein
Schulfreund Völckers Verwalter war, und zuletzt fand er auf dem von Hollen'schen
Gute Schönweide eine so vortreffliche Pachtung, daß er in noch mittleren Jahren
soviel erworben hatte, um in Eutin in eigenem Hause sorgen- und arbeitsfrei
leben zu können. Schon aber hatte sich unbemerkt in ihm, dem äußerlich noch
immer blühenden Manne, die schleichende Krankheit der Zuckerruhr ausgebildet,
welche auch diese seltene Körperkraft und Gesundheit langsam, langsam zerstören
sollte. Viele Jahre lang hatte sie schon ihr Werk getan, als der von ihm
zugezogene Prof. Bartels in Kiel auf seine Mitteilung, er litte an der
Zuckerkrankheit, erwiderte: da sehen Sie mir nicht nach aus. Es war nur zu
gewiß. Der Durst wurde immer größer und peinigender; die Zähne fielen einer nach
dem andern aus, die ganze untersetzte und kräftige Gestalt verfiel. Er sah dem
Unausbleiblichen mit voller Kenntnis ruhig entgegen. Der Tod erfolgte 18
...[13]
nach schweren Kämpfen.
Die
Kinder leben sämtlich in meist befriedigenden Verhältnissen. Der älteste ward
Holländer, Wilhelm, der zweite, Daniel, Müller, der dritte Georg, Postbeamter.
Die Töchter sind oder waren alle verheiratet, die älteste, Auguste, ein sehr
verständiges und gut unterrichtetes Mädchen, mit dem Förster Schwedt, jetzt in
Hütten bei Eckernförde; die zweite, Bertha, mit dem Pächter von Kirchnüchel im
Gute Kletkamp, dem Schwager meines Bruders, Karl Sieck, einem durchaus braven
und guten Mann, der aber leider auch infolge des Krieges ein Sklave des Alkohols
geworden war, die kleine, nicht sehr vorteilhafte Pachtung trotz bedeutenden
Zusatzes nicht halten konnte und in Malente in ärmlichsten Verhältnissen früh
gestorben ist. Seine Frau fand Aufnahme bei der Mutter. Die 4 Kinder nahmen sich
gut und schlugen sich tapfer durch: der älteste, Karl, jetzt selbstständiger
Gärtner in Hannover, kürzlich mit einem vortrefflichen Mädchen verlobt; der
andere, Paul, in Kiel, Bauführer und Techniker; das älteste Mädchen,
Gesellschafterin bei einer reichen Frau und neuerdings verlobt mit dem Prof.
Tönnies, die jüngere, Elli, Putzmacherin und gleichfalls durch eigene Arbeit
sich durchbringend. Die Mutter, nach dem Tode ihrer Mutter, Lisette Davids,
Erbin eines kleinen Vermögens, lebt in Kiel.
Die
jüngste von Davids und Lisette's Kindern, Doris, die mir aus ihrer Kindheit als
ein allerliebstes, unschuldiges kleines Mädchen vorschwebt - ich habe sie
nachher nicht mehr gesehen - hat nach einer ersten unglücklich endenden
Liebschaft einen Landmann Reimers geheiratet, dem es bei großer Familie nur
knapp zu gehen scheint.
Das
sind die Töchter meines Vaters aus seiner ersten Ehe und ihre Nachkommen. Von
Wilhelmine leben nur noch die Tochter Adolfine Schröder, die Enkelin Anna
Heesch, verheiratete Kästner und ein Urenkel, 1893 geboren. Die Familie Davids,
durch 6 Kinder und eine ganze Reihe von Enkeln und Enkelinnen dargestellt,
scheint längere Dauer zu versprechen.
1816
schloß mein Vater eine zweite Ehe.
Seine
Wahl war gefallen auf Margarete Höper, die mittlere Tochter von Heinrich Höper
in Heringsdorf und seiner zweiten Frau, Anna Voss, die dann meine Mutter werden
sollte. Die vorhergehende Bekanntschaft zwischen den beiden wird eine sehr
oberflächliche gewesen sein. Die erste Anfrage stieß auf entschiedene
Ungeneigtheit; es sind noch Bräutigams-Briefe übrig, in denen mein Vater die
Bedenken der Umworbenen mit langen Stellen aus seinem besonderen
Lieblings-Schriftsteller, dem damals noch viel gelesenen und als Ratgeber und
Beichtvater zugezogenen trefflichen Gellert zu heben versucht. Die Zureden der
Eltern werden das 22-jährige unerfahrene Mädchen, die offenbar ohne persönliche
Neigung auch wohl vor der schweren Stellung einer Stiefmutter zu drei bereits
über die erste Kindheit hinausgewachsenen Kindern gebangt haben wird,
schließlich bestimmt haben, ihr Jawort zu geben. In dem lübschen Stiftsdorfe
Heringsdorf[14]
ging die Stelle an den ältesten Sohn oder die älteste Tochter über, und die
übrigen Kinder gingen nahezu leer aus. So wird der bäuerlichen Auffassung die
Hand des Holländers von Seegalendorf als eine gute Versorgung erschienen sein.
Der Ehebund wurde geschlossen.
Ich
will gleich hier sagen, daß er ein glücklicher nicht gewesen oder, wenn er es
gewesen, doch nicht geblieben ist. Solange ich denken kann - ich sage es mit
Schmerzen und Scham - hat der Geist der Liebe und des Friedens in unserem Hause
nicht gewaltet, und nur zu tiefe und unverwischbare Einwirkungen hat die Luft,
die wir als Kinder atmeten, in unseren Herzen und in unserem Wesen
zurückgelassen. - (So wird wohl auch in der Hauptsache die Sammlung von
Verlobungskarten zu erklären sein, die ich mir bereits in einem Alter anlegte,
wo den meisten das alte und ewig neue Wort: "Ehestand, Wehestand" noch nicht aus
naher Beobachtung und eigener Erfahrung nahe getreten war. Ich hatte auch schon
als Knabe ein Trauerspiel dieses Titels in Arbeit, das über einige Seiten nicht
hinaus gediehen ist.) - Der barmherzige Gott decke mit seiner Gnade alle unsere
Fehler zu. -
Mein
Vater war eine sehr kräftige und tüchtige, aber auch eine sehr leidenschaftliche
und zu gewaltigen Ausbrüchen des Jähzorns nur allzu geneigte Natur. Das
Schlimmste und Schwere dabei war, daß ein solcher Ausbruch nicht, wie es meine
geliebte Frau so oft von ihrem lieben, gleichfalls sehr jähzornigen Vater
dankbar gerühmt hat, einem erneuten Sonnenschein Platz machte, sondern Tage,
selbst Wochen schwerer Verstimmung und dumpfen Unmuts nach sich zog. - An Eurem
Vater, an Eurer Mutter, werdet Ihr, liebe Kinder, sofort die Züge Eurer
Großväter wiedererkennen.
Zu
dieser Natur-Anlage kam die ererbte Familiensitte, welche in Kundgebungen der
Liebe und Herzlichkeit Verweichlichung und Verzärtelung sah und von dem Apfel
nichts wußte oder hielt, der nach Luther's schönem und lieblichem Bilde neben
der Rute liegen soll. Meine Mutter war nicht geartet, diesen unheilvollen
Einwirkungen auf die Kinderherzen ein geeignetes und heilsames Gegengewicht zu
bieten. Sie war von nur beschränkter Auffassung und sehr vernachlässigter
Schulbildung, folglich von sehr engem, geistigem wie sittlichem Gesichtskreis,
den auch kein Verkehr außerhalb des einfachen, stillen Bauerndorfes ihrer
Eltern, kein Hinauskommen über das heimische Dorf irgendwie erweitert hatte. Daß
sie als zweite Frau auch gegen ihre Stiefkinder mit der Hand des Mannes irgend
welche Verpflichtung übernommen hätte, ist ihr wohl nie zum Bewußtsein gekommen.
Ihre eigenen Kinder dagegen liebte sie mit aller mütterlichen Zärtlichkeit und
Blindheit, und wenn der Zorn und die Strenge des Vaters uns unbewußt zum Jähzorn
und zum Launen anleitete, so trug die Verzärtelung und blinde Nachsicht der
Mutter dazu bei, solchen schlimmen Neigungen nur noch mehr die Zügel schießen zu
lassen.
Den
Gewaltausbrüchen des Mannes war sie gleichfalls nicht geartet, durch ein
richtiges Maß von Festigkeit und Fügsamkeit entgegen zu wirken. Durch allerlei
kleine Mittel, Listen und Täuschungen, zu welchen die Angst sie trieb, reizte
sie oft seine Leidenschaft und Rauhheit nur noch mehr. Unzählige Male lieferte
ihre Neigung, sich oder das Haus ein wenig zu schmücken, der grundsätzlichen
Gewöhnung und Richtung des Mannes auf die allerstrengste Einfachheit und
Entsagung im ganzen äußeren Leben die Anlässe zu den heftigsten, meist vor
Kindern mit Gesinde sich abspielenden Auftritten. So beschränkte sich der
Verkehr zwischen den Eheleuten mehr und mehr auf das Notwendige, auch in den
besseren Tagen; eine herzliche Aussöhnung wurde nie bemerkbar; auf den Kindern
ruhte ein schwerer Druck, den nur der leichte Sinn der Jugend und die mancherlei
Freuden der Kindheit zumal auf dem Lande mit allen seinen wechselnden
Erscheinungen im Kreislauf des Jahres vergessen machten.
Aus
dieser Ehe entstammten drei Kinder: Wilhelm, Doris und Euer Vater
Karl.
Als
Kind habe ich meinen Bruder wenig gekannt. Da er 6 Jahre älter war als ich,
hielt er sich zu seinen Schul- und Spielgenossen, nicht zu mir und meiner
Schwester, die wir uns näher aneinander schlossen. Zwischen ihm und dem Vater
muß schon früh ein ganz gestörtes Verhältnis eingetreten sein, das später in ein
geradezu feindseliges ausartete. Die Rauhheit und Härte von der einen, der Trotz
und Ungehorsam von der anderen Seite mag es in der Hauptsache erklären. Als er
konfirmiert war und von Hause kam - er wollte gern auch wie seine Vettern
Landmann werden und kam als Kostgänger zu einem Pächter Huß auf Rethwisch in die
Lehre - schien es sich bessern zu wollen, wie denn die Trennung ja immer eine
mildernde Wirkung auszuüben pflegt. Es war ein Unglück, daß es ihm nicht gelang,
nachher als Schreiber oder Verwalter bei einer angesehenen Herrschaft eine
dauernde Stellung zu gewinnen. Er kam wieder zu Hause und konnte in der
väterlichen Wirtschaft nicht wohl anders denn als Knecht Verwendung finden.
Begreiflich, wenn er sich in eine solche Stellung nicht zu fügen verstand und
ein wenig mit zu regieren und zu sprechen wünschte. Begreiflich ebenfalls, wenn
das bei der Natur des Vaters, dem die des Sohnes nur zu sehr ähnelte, zu den
bedauerlichsten Auftritten führte, unter denen Mutter und Schwester - ich war
damals schon vom Hause - unsäglich gelitten haben.
Der
Tod des Vaters machte diesem betrübenden Zustande ein Ende. Meines Bruders
Stellung wurde insofern eine ganz andere, als er nunmehr für meine Mutter,
welche die Inhaberin der Pachtung blieb, die Leitung der ganzen Außenwirtschaft
übernahm. Sein leidenschaftliches und verbittertes Wesen, seine häufigen Zorn-
und Wuth-Ausbrüche minderten sich aber nicht, sondern nahmen vielmehr einen oft
geradezu bedenklichen und bedrohlichen Charakter an. Meine arme Schwester, auch
sonst von einem tiefen und stumm getragenen Schmerze gequält, ward 1854 durch
einen unerwarteten, frühzeitigen Tod ihrem schweren und freudeleeren Dasein
entnommen. Bald darauf überließ Mutter auf mein Zuraten die namentlich erst in
den letzten Jahren immer besser gehende Pachtung ihrem Sohn, den der Inspektor
Stuckenberg, obwohl er meiner Mutter zuredete, sie nicht aus der Hand zu geben,
auch als Holländer annahm. Er konnte nun heiraten, wozu es ja seinen schon
vorgerückten Lebensjahren nach Zeit wurde. In Lucie Sieck, einer Tochter des
Pächters von Kirchmühlen, fand er eine gute, anspruchslose, nur nicht recht
kräftige und feste Frau, wie es zu einer günstigen Gestaltung der Ehe
wünschenswert gewesen wäre. Auch das Verbleiben meiner Mutter im Hause, die
gegen alles fremde Blut ebenso abgewandt, fremd und lieblos bleiben konnte, wie
sie das eigene mit zärtlichster Liebe und rührender Fürsorge umfaßte, wird
keinen günstigen Einfluß gehabt haben. Wilhelm's Leidenschaftlichkeit minderte
sich auf die Dauer nicht. Im Winter von 65 auf 66 nahm sie einen immer
bedenklicheren Charakter an, und im Mai 1866 mußte ich ihn, nachdem alle Zureden
und Hoffnungen sich als vergeblich erwiesen hatten, aus seinem Hause in die
Anstalt Hornheim bei Kiel bringen. Nach etwa 3/4 Jahren war er so weit genesen
oder beruhigt, daß er zu den Seinen wieder entlassen werden konnte. Eine große
Schwäche und Hinfälligkeit brachte er mit zurück. Im November 1873 verlor er
seine schwer geprüfte Frau, selbst schon damals in seinen Bewegungen
schwerfällig und gehemmt, in seiner Gesundheit völlig zerrüttet. Bald trat ein
unheilbares Leiden immer deutlicher hervor; erst nach 6-jährigem, langsam
langsam sich verschlimmerndem Leiden, am 2. Jan 1879 hauchte er seine Seele
aus.
Die
jüngste Schwester seiner Frau, Marie Sieck, die sich schon der Wirtschaft des
Schwagers wie der Pflege und Erziehung der Kinder aufs treueste angenommen
hatte, vertrat von nun an Vater- und Mutterstelle zugleich an den noch sämtlich
unmündigen Kindern, für die durch einen unerwartet großen Nachlaß des Vaters auf
das erwünschteste gesorgt war.
Der
älteste von ihnen, Wilhelm, schon seit einigen Jahren zur See, hat alle
Schwierigkeiten, Härten und Gefahren dieses Berufes wacker und glücklich
bestanden, sein Dienstjahr in der deutschen Marine mit Erfolg abgeleistet, und
ist vor kurzer Zeit in seinem 35. Jahre von der Hamburg-Amerikanischen
Dampfschiffahrts-Gesellschaft vom ersten Offizier zum Kapitän befördert
worden.
Die
älteste Tochter, Grete, ist mit einem braven Manne, dem Verwalter Bielfeld auf
Schrevenborn verheiratet, jetzt schon Mutter von 3 Kindern, der älteste Knabe 9
Jahre alt.
Die
zweite Tochter, Bertha, ist gleichfalls verheiratet mit einem Holz- und
Kohlen-Kaufmann Müller in Heiligenhafen. Der zweite Sohn, Wulf, ist Landmann
geworden, hat sich 1892 mit Minna Boysen von Eichthal verheiratet und die
schöne, wenn auch etwas teure Pachtung des Gutes Hemmelmark am Eckernförder
Meerbusen zu übernehmen gewagt. Beide jüngeren Geschwister sind auch schon
beerbt. Der älteste ist noch nicht verheiratet. Alle vier haben sich gut geführt
und eine gute Lebensstellung gewonnen.
Meine
Schwester Doris, vier Jahre älter als ich, war von Kind auf meine Spielgefährtin
und auch ihrerseits an mich als den natürlichen Genossen gewiesen. Zwar weiß
ich, daß wir uns oft aufs heftigste zankten und ganz entzweiten; doch führte uns
das natürliche Gegenseitigkeits-Bedürfnis auch immer wieder zusammen, und
nachdem ich von Hause gekommen war, bildete sich ein immer engeres
Vertrauensverhältnis zwischen uns aus, das keine Störung erfahren
hat.
Ein
schweres Leben war ihr beschieden. Nicht nur litt auch sie unter dem Druck, der
auf dem ganzen Hause lag, mehr noch als die Knaben, welche das frohe Spiel mit
den Altersgenossen in Feld und Wald so leicht der schwülen Luft des Hauses
vergessen ließ; sie hatte, so lange ich denken kann, mit Krankheit, namentlich
mit endlosen Fieber-Anfällen zu kämpfen. Als besonders gräßlich schweben mir die
Lachkrämpfe vor, denen sie von Zeit zu Zeit ausgesetzt war; ihr Bild, wie sie
sich dann im Bette erhob, die Arme und Hände spreizte, das abgemagerte Gesicht
von unheimlichem Lachen verzerrt - es war in der Schlafstube des alten Hauses
auf Lensahn - steht mir noch heute auf das deutlichste vor Augen. Trotz des viel
unterbrochenen Schulbesuchs hatte sie sich bei guter Begabung und gewissenhaftem
Fleiße doch bis zu ihrer etwas verfrühten Confirmation eine recht gute
Schulbildung erworben, welcher ein nicht sehr langer Aufenthalt in Eutin in
einem Pensionate nur wenig hinzufügte.
Mit
dem Übergang aus der Kindheit in das jungfräuliche Alter gestaltete sich ihre
Gesundheit günstiger; sie hatte eine recht anmutige Gestalt; auch ein
regelmäßiges und wohlgebildetes Gesicht; aber rote Haare und Sommersprossen
ließen einen ungemischt günstigen Eindruck ihrer Erscheinung nicht aufkommen.
Sie blieb zu Hause, und obwohl sie nicht mehr, wie z.B. Lisette noch, nach dem
Kuhhaus und der "Regel"[15]
zu melken gegangen ist, mußte sie doch im Hause tüchtig heran und trotz ihrer
nie völlig entwickelten Körperkräfte ganz die schweren Dienste einer Meierin
tun, das Butter-Kneten und -Einschlagen in die Tonne, das Käse-Machen, das frühe
Aufstehen mit oder gar vor Sonnenaufgang, die Flachsbearbeitung, die großen
Schlachtereien im Herbste und vieles mehr. Nur im Winter behielt sie einige
Muße, um ihrem Bildungs- und Lesebedürfnis zu genügen, das sie in hohem Maße
hatte. Feste und Ferien waren selten; nur die Besuche im Dorf und der
Nachbarschaft bei Bekannten und Jugendfreundinnen, namentlich aber bei den
Verwandten in Land Oldenburg gewährten eine freundliche Abwechselung, aber nicht
genügend, um die Last des täglichen Lebens, namentlich seitdem Wilhelm ins Haus
zurückgekehrt war, wesentlich zu erleichtern. Mit viel Geduld und Entsagung hat
sie es getragen. Wahrhaft hohen Sinn und große Seelenstärke und sittliche
Standhaftigkeit hat sie bewiesen in den beiden Fällen, wo das eine Mal um ihre
Hand, das andere Mal um ihr Herz geworben wurde. Ein wohlgestellter
Hufenbesitzer in dem lübschen Dorfe Klein-Schlamin, der sie nur gesehen, kaum je
gesprochen hatte, war ganz von dem lebhaftesten Verlangen erfüllt, sie zur Frau
zu gewinnen und warb, wie es Bauernsitte war und ist, durch Mittelspersonen
lange und wiederholt um ihre Hand. Vater und Mutter redeten beide zu, das
Anerbieten einer so gesicherten Versorgung nicht von der Hand zu weisen; ohne
Vermögen, wie sie wäre, würde sie nach dem Tode der Eltern zu dem harten Lose
verurteilt sein, ihr Brot bei fremden Leuten zu suchen. Ich stand auf meiner
Schwester Seite, deren einziger Grund, wie mir schien, nicht zu widerlegen war:
bei aller Folgsamkeit gegen ihre Eltern, bei aller Furcht vor dem Vater, der
freilich nicht gebot, nur überredete, erklärte sie ohne jegliches Schwanken und
Zweifeln, sie könne vor dem Altar keinen Meineid schwören. Keine
Nützlichkeitserwägung hat sie auch nur einmal einen Augenblick wankend
gemacht.
Schwer
erschüttert wurde ihr Seelenfriede durch eine andere nicht so ehrenhafte
Werbung.
Der
Schreiber des Gutes Lensahn, Stuckenberg, Sohn des allgewaltigen Inspektors
Stuckenberg von Nienrade, war lange gewohnt, einen guten Teil seiner vielen
Mußestunden in der Holländerei zu verbringen, wo ihm schon wegen seines
Einflusses auf die mehr oder minder erwünschte Gestaltung der Pachtung eine
freundliche Aufnahme gesichert war. Mein Bruder war sein Schulfreund und
Dutzbruder, meine Eltern hatten ihn als wohlgesinnt und leutselig gern, eine
kräftige, blühende Mannesgestalt empfahl ihn überhaupt. Es war kein Wunder, daß
auch meine Schwester seinen durch Blicke, Händedrücke, Worte kundgegebenen
Werbungen nicht unzugänglich blieb und seine Neigung erwiderte. Rechtzeitig
genug aber merkte sie, daß er eine eheliche Verbindung nicht ernstlich suchte
oder doch seines Vaters wegen für unmöglich hielt. Und nun offenbarte sie mir
ihr ganzes, lange allein mit sich herumgetragenes Geheimnis, ich schrieb sofort
an ihn: Entweder - oder. Er war zu allem bereit, und nun hatte meine arme
Schwester den schweren, schweren Kampf zu kämpfen, sich von dem liebsten und
seligsten Erdentraum loszureißen. Sie hat ihn mit wahrem Heldenmute siegreich
durchgeführt. Aber ihr Lebensmut und ihre Lebenskraft war gebrochen. Meine
Anstellung, Verlobung und Hausbegründung warf, glaube ich, - denn sie war mir
seit lange mit einer gewissen Verehrung zugetan - noch einmal einen
Freudenschein in ihr Leben. Im April feierte sie still, blutenden Herzens die
fröhliche Hochzeit August Heise's auf Kletkamp mit, von der ihre letzte,
wehmutsvolle Aufzeichnung noch Kunde gibt. Am 2. Juni 1854 erlag sie einer
Schleimhautentzündung. Meine Mutter war untröstlich. Sie hat diesen Verlust
nicht mehr verwunden.
Doris
aber war zur Ruhe.
Aus
meiner Kindheit
Am
17. September 1823 ward ich in dem alten, jetzt längst verschwundenen
Holländer-Hause auf dem großen und schönen Gute Seegalendorf, Kirchspiels
Oldenburg, geboren. Mein Vater, so hat uns Mutter oft erzählt, war hoch erfreut
wohl darüber, daß es wieder ein Junge war, und liebkoste einmal wieder seine
Frau. Ich muß auch sagen, daß er mir, soweit ich denken kann, immer eine
besondere Liebe zugewandt hat und sich von allen Kindern am meisten mit dem
jüngsten und letzten zu beschäftigen pflegte, ahnungslos, wie es scheint, daß
all diese Liebeskundgebungen die Furcht nicht nehmen konnten, mit der seine
Zorn-Ausbrüche später das Kinderherz erfüllte. Getauft bin ich von dem damaligen
Diakonus in Oldenburg, Pollitz; die Taufrede ist noch unter meinen Papieren
vorhanden. Gevatter standen der Gutsherr Fritz Schwerdtfeger, der nächst älteste
unter den fünf Brüdern Schwerdtfeger, die damals eine der reichsten und
angesehensten Gutsbesitzer-Familien in ganz Schleswig-Holstein darstellten; dann
Onkel Karl Sebent und Tante Elsabe, Mutters einzige rechte
Schwester.
Aus
meinen 3½ Seegalendorfer Jahren ist mir nichts erinnerlich als die alten hohlen
Weiden in der Nähe des Hauses, in denen meine Schwester und ich mit Vorliebe ihr
Wesen zu haben pflegten. Jedoch muß der Weihnacht[16],
dessen Gedächtnis sich mir darum eingeprägt hat, weil "Klüterklas"[17]
ins Wasser gefallen und ausgeblieben war, auch noch auf Seegalendorf, wohl nach
angetretenem, dritten Lebensjahr fallen.
Maitag
1827 siedelte mein Vater, ich weiß nicht, aus welchem Grunde, nach einem
Meierhofe von Seegalendorf, Christianstal, jetzt Friedrichstal über, wo wir das
stattliche Pächterhaus zur Wohnung bekamen, deren große Räume mir noch sehr klar
im Gedächtnis sind. Auch hier sehe ich mich in beständiger Gesellschaft meiner
Schwester. Einzelne Vorgänge aus dem nur einjährigen Aufenthalt sind mir sehr
deutlich im Gedächtnis geblieben. So die abendlichen Gänge mit meinem Vater, der
in einer Schilfhütte an der Wasserkuhle des nächsten Feldes den dort fallenden
wilden Enten auflauerte; so auch der dort gefeierte Weihnacht, dessen Gaben uns
lange beschäftigten und erfreuten. Sehr wohl entsinne ich mich einer im Winter
1827/28 durchgemachten Krankheit, der Frieseln[18],
besonders wegen der abscheulichen zu verschluckenden Tränke. Daß ich dem Doktor
Bleek aus Oldenburg, als er über die Kälte klagte, die er auf den offenen Wegen
in dem baumlosen Land Oldenburg empfunden hatte, den Wunsch aussprach: "ick
wull, dat't noch mal so kold wier", werden mir Eltern und Geschwister später
erzählt haben.
Dagegen
sehe ich mich eines Tages ernstlich entschlossen, auszuwandern und das böse
Vaterhaus zu verlassen. Was man mir wieder einmal zu Leide getan, weiß ich nicht
mehr; wohl aber, daß ich meine Stiefel, - wenn sie nur einigermaßen saßen und
paßten, eine ganz besondere Freude meiner ganzen Kindheit, sodaß ich die neuen
regelmäßig mit zu Bett nahm, - daß ich also meine Stiefel auf den Stock steckte,
über den Nacken nahm und davonging. Um aber den Meinigen von dem ihnen
bevorstehenden Verluste noch rechtzeitig Kunde zu geben, machte ich an den
Trallen[19]
der Kellerfenster im Vorübergehen ein möglichst starkes Gerassel, das aber
seines Zweckes verfehlte. Auf der nächsten Koppel machte ich erstmal Halt und -
nach nicht zu langer Zeit tauchte ich allmählig im Vaterhause wieder
auf.
Schon
nach Jahresfrist mußten wir wieder umziehen, aus welchen Gründen, weiß ich
nicht, und zwar aus dem für alle heimatlichen Land Oldenburg hinweg nach dem zum
gottorpischen Fideikommiß gehörigen Gute Lensahn, dessen Kühe mein Vater
gepachtet hatte. Alle zogen ungern, am meisten wir Kinder. Die Fahrt war lang
und ermüdend, und als wir die nackten Wände der alten und verfallenen Meierei
sahen und in die ungereinigten, vernachlässigten Räume eintraten, wurde die
Sehnsucht nach dem schönen, geräumigen Hause, das wir verlassen hatten, nur noch
größer. Dazu kamen die Unbequemlichkeiten und Entbehrungen, welche jeder
derartige Umzug mit sich bringt, für mich namentlich die schmerzliche Entbehrung
der sog. Krumen, d.i. hart getrockneten frischen Weißbrotes, die zu Milch und
Kaffee gegessen und darin aufgeweicht, für mich lange eine ebenso beliebte als
gesunde Nahrung gebildet haben. Wir hatten damit die Stätte erreicht, wo Vater,
Mutter, Bruder, Schwester ihr Lebensende, auch ich meine eigentliche Heimat
finden sollte.
Mit
dem Jahre 1829 fing ich an, in die sog. kleine Schule im Dorfe Lensahn zu gehen,
um zunächst die einfachen Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens zu
erlernen. Die Lensahner, wie alle Dorfschulen der gottorpischen
Fideikommißgüter, in deren Besitz der jedesmalige Großherzog von Oldenburg war,
erfreuten sich einer sehr angelegentlichen Fürsorge der Gutsherrschaft und einer
genauen Überwachung des damaligen Pastors Petersen, des bekannten langjährigen
Herausgebers der Provinzial-Berichte. Besonders viel Wert wurde auch auf die
Ausbildung der Mädchen im Nähen, Stricken und Spinnen in der sog. Arbeitsschule
gelegt, welcher die Frau des
Lehrers vorzustehen hatte: Großherzogliche Prämien für die beste Spinnerin oder
Näherin spornten zu Leistungen an, welche der Schule einen gewissen Ruf
verschafften, da sie dem vom vorigen Jahrhundert her überkommenen Losungswort
der Gemeinnützigkeit Rechnung zu tragen schienen. Die Lern-Schule hatte, wie
lange nicht alle Dorfschulen, eine untere und obere Stufe. Auf der unteren war
noch die von England übernommene Lancastersche oder sog. wechselseitige
Schuleinrichtung in Übung, nach welcher namentlich zum Buchstabieren und
Lesen-Lehren die gereiftesten Schüler der oberen Stufe in die kleine Schule
geschickt wurden. Unter der Leitung eines solchen umstanden kleinere Gruppen von
Abc-Schützen die an den Wänden rund umher aufgehängten Lese-Tabellen; in dem
Gewirr von Stimmen aller dieser Halbkreise suchte der einzelne möglichst das
eigene Wort und das des jugendlichen Lehrers herauszuhören; der Lehrer selbst,
ein Seminarist oder Präparand führte während dieser Übungen nur eine allgemeine
Oberaufsicht. Geschrieben und gerechnet wurde nur noch auf
Schiefertafeln.
Von
den Persönlichkeiten unserer wechselnden Lehrer habe ich keine Erinnerung. Nur
weiß ich noch sehr wohl, daß ich mich eines Tages nicht genug wundern konnte,
warum doch wohl der eine derselben, welcher an eine andere Schule oder nach dem
Seminar abging, bei seinem Abschied so gewaltig weinte. Es mögen wohl besondere
Verhältnisse gewesen sein, welche ihm so reichliche Tränen
entlockten.
Von
dem Unterricht, der doch auch den kleinen Katechismus mit umfaßt haben wird,
wüßte ich weder zu sagen, daß er mir eine Freude, noch daß er eine Last gewesen
sei. Auch zu Liebe oder Haß für einen Lehrer habe ich es in der kleinen Schule
nicht gebracht. Wohl aber fand ich großes Wohlgefallen an dem steten Verkehr mit
den anderen Knaben und Mädchen und den herrlichen Spielen, die früh morgens vor
dem Beginn, dann in den Pausen, besonders aber in der Mittagszeit teils in den
Schulräumen, teils auf dem Spielplatze mit restlosem Eifer und von mir früh mit
leidenschaftlicher Hitze und lebhaftem Ehrgeiz getrieben wurden. Die ferner
wohnenden Schüler, wie alle vom Hofe Lensahn, blieben nämlich des Mittags da und
verzehrten in der Schule ihr mitgebrachtes Essen, 3 oder 4 tüchtige Schnitten
Schwarzbrot mit Wasser aus der Pumpe dazu. Regen, Frost oder Schnee kümmerten
uns wenig; Kleider und Stiefeln oder Schuhe und Strümpfe hatten nach Kräften auf
dem Leibe wieder zu trocknen. Im Winter mußte bereits im Dunkeln, um 7 Uhr,
ausgerückt werden. Denn die etwa halbstündige Entfernung wurde bei der Art, in
welcher eine kleine oder größere Gesellschaft fröhlicher Kinder das Spiel mit
jeder Arbeit und Leistung zu verbinden pflegt, in nicht viel weniger als einer
vollen Stunde zurückgelegt. Schöner bei weitem als der Hingang, der doch hin und
wieder durch ein böses Gewissen oder Vorgefühl getrübt wurde, war die Heimkehr.
Wenn die sinkende Sonne die Nähe des Schulschlusses andeutete, im Winter ihre
letzten Strahlen durch die Bäume des Spielplatzes in die Fenster drangen und die
ganze Schule sich dann zum Gesange anschickte und zum Abendgebet anhob, wie
feierlich kamen mir oft diese Augenblicke vor! Ich bin aber ziemlich sicher, daß
durch meine Gedanken die Lust des Feierabends, die auf dem Heimwege zu
unternehmenden Spiele, Späße und Scherze, das leckere und über alle Begriffe
späterer Jahre wohlschmeckende Vesper-Brot, das uns erwartete, die schönen
Freistunden in Stall oder Garten und Feld, im Sommer das Bad, im Winter das Eis
mit all der wohl bekannten Lust und Freude einer gesunden Jugend, - daß durch
meine Andacht, sage ich, alle diese Bilder dicht bevorstehender Freuden in
buntem Zuge auch mit hindurchzogen.
Mein
Übergang in die "große Schule", obwohl er sonst ein Ereignis war, ist mir nicht
mehr erinnerlich. Wohl aber hat sich das Bild des Lehrers, der hier
unterrichtete, recht tief eingeprägt. Der Organist Grundmann, kein ungeschickter
Lehrer nach den Anforderungen damaliger Zeit, war einer von jenen Trinkern, die
doch immer auf den Füßen zu bleiben und einigermaßen die Fähigkeit zur
Fortführung ihres Amtes zu retten wissen. Nur an seiner bösen Laune, die er am
meisten an den Kindern solcher Eltern ausließ, welche ihm mißfielen oder irgend
einen Verdruß bereitet haben mochten, merkten wir, daß er zu viel getrunken
hatte. Unglaublich aber, wie er dann die Gefühle der unschuldig leidenden Kinder
durch übel versteckte Anspielungen und verächtliche Äußerungen gegen ihre Eltern
zu verletzen sich nicht schämte. Gewöhnlich machte erst eine Tränenflut der
wehrlosen und allzu geduldigen oder zu dem rechten Worte zu ungeschickten und
zaghaften Opfer solchen ungerechten seelischen Züchtigungen ein Ende. Wo er
einmal auf Widerspruch und kecke Verteidigung stieß, nahm er sich sichtlich
später in Acht, und die wenigen fuhren bei ihm am besten, die ihm am dreistesten
entgegentraten. Meine Schwester und mich hat er wiederholt in der angegebenen
feigen Weise entgelten lassen, was mein Vater vielleicht gegen ihn versehen
haben mochte. Wiederholt stieg in mir Schmerz und Entrüstung bis zu einer Höhe,
daß ich nahe vor einem Ausbruch stand; gewagt aber, meinen Gefühlen Luft zu
machen, hab' ich törichter Weise nie, wenn ich auch das Unrecht noch so schwer
und klar empfand und durchschaute. Dabei konnte er zu anderen Zeiten ungemein
weich sein, und oft genug beim Vorlesen schöner Stellen aus geistlichen oder
weltlichen Liedern, beim Vortrag biblischer Geschichten habe ich ihn Tränen
vergießen sehen. Rühmen muß ich auch seine große Uneigennützigkeit. Die
Privat-Stunden in der Musik z.B., die man zu nehmen pflegte, und auch ich nahm,
obwohl ich musikalisches Gehör und Begabung durchaus nicht hatte, ließ er sich
nur von Zeit zu Zeit mit einem alten Käse, einem Geschenk von der großen
Schlachterei und ähnlichen Naturalien bezahlen, deren geringen Geldwert mein
Vater kaum merkte. Obendrein behielt er mich, als ich später die beiden
wöchentlichen Musikstunden am Mittwoch- und Sonnabend-Nachmittag hatte, ohne
jede Vergütung zum Mittagstisch, da er nach dem Vormittags-Unterricht erst essen
und nach dem Essen auch schlummern mußte. Ich mußte so diese Stunden, die Jahre
lang durch die Schelte, die es bei meinem Ungeschick gab, als eine wahre Qual
auf mir gelastet haben, mit einem ganz unverhältnismäßigen Aufwand an Zeit und
einer empfindlichen Trübung meiner Jugendfreude erkaufen.
Der
Unterricht wurde auch in der großen Schule mit Lied und Gebet eröffnet. Dann
folgte die Religionsstunde. Mittwoch und Sonnabend waren Aufsage-Tage aus dem
kleinen und großen Katechismus, dem Gesangbuche und der Bibel. Auswendiglernen
wurde mir nicht schwer; daher hatten diese sonst gefürchteten Stunden für mich
nichts Schreckliches. Die vier übrigen Religionsstunden waren der biblischen
Geschichte und wohl auch der Erklärung der Katechismen gewidmet. Daß die
Religionsstunden einen erbaulichen Charakter angenommen oder mich je innerlich
erfaßt hätten, erinnere ich nicht. Auch von der Methode der übrigen
Unterrichtsfächer weiß ich wenig. Geschrieben wurde in das Schönschreibebuch
nach Vorschriften, die man sich aussuchte und mit denen man die Seiten in den
nötigen Wiederholungen füllte. Gerechnet wurde aus zwei Lehrbüchern, dem
Valentin Heins und für die Vorgeschrittneren aus dem Kroymann. Die berechneten
und richtig befundenen Exempel wurden in ein gebundenes, dickes Heft
eingetragen. Das Kopfrechnen wurde namentlich im Winter in den schon dunklen
Abendstunden viel und mit Vorliebe geübt, war auch wegen des damit verbundenen
Wettbewerbes den meisten willkommen. Noch lieber waren uns die Fragestunden:
jeder hatte seinem Nachbar eine Frage zu beantworten und vorzulegen aus
irgendeinem Gebiete des Unterrichtes, am meisten natürlich aus der biblischen
Geschichte. Eine richtige Lösung der gegnerischen, ein Verstummen auf die eigene
Frage bereiteten große Genugtuung. Lesen mit einigermaßen richtiger Betonung
nach Komma, Kolon und Punkten wurde auch in der großen Schule noch viel geübt.
Von anderen Gegenständen, die heute in der Dorfschule einen breiten Raum
einnehmen, war damals keine Rede; Physik, Naturgeschichte, Welt- oder
vaterländische Geschichte, Geographie oder Landeskunde gab es nicht. Als ich von
meinem Onkel Ohrt den großen Cannabich[20]
geschenkt erhalten hatte und hoch beglückt mit dem Buche zu Grundmann kam, ob er
mich nicht darin unterrichten wolle und was der Unterricht kosten werde, entließ
er mich mit der Antwort, er wolle sich das Buch ansehen und die Sache überlegen.
Dabei blieb es, und ich fing an, auf eigene Hand dann das dicke Buch auswendig
zu lernen, blieb aber schon auf der zweiten Seite stecken. Als Nachschlage-Buch
hat es mir in meinem ganzen späteren Leben immer die besten Dienste getan. Daß
wir Deutsche und Schleswig-Holsteiner wären, wurde uns nicht gesagt; daß wir zu
Dänemark gehörten, lehrten uns Lieder, die wir singen mußten und auch ohne
Anstand oder Bedenken sangen und uns aneigneten. Der Vers aus einem derselben
hatte sich mir unvergeßlich eingeprägt, als ich ihn bei meinen Studien für
Lornsen wieder auffand. Doch kann ich nicht sagen, daß die Schule auf Erzeugung
dänischer Gesinnung einen Wert gesetzt oder Erfolg damit gehabt hätte. Wir
hatten eben von einem nationalen Bewußtsein und von dem Gegensatz zu anderen
Nationalitäten keine Vorstellung. Die großen Städte Hamburg und Amsterdam waren
uns durch Hörensagen ziemlich bekannt als große und reiche Handelsplätze und
Stätten großer Wunderwerke; Amsterdam teils durch den viel gebrauchten Tabak no.
1: Petum optimum subter solem[21],
den beste tabac onder de zon, die auf dem beigegebenen Bilde über einer
Neger-Landschaft ins Meer sank, teils durch die uralten Beziehungen, in denen
unsere Halbinsel zu allen Zeiten mit dem ganzen friesischen Küstensaum gestanden
hat. Als ich später selbst die große Wunderstadt mit eigenen Augen sah, glaubte
ich in der Heimat, in Hamburg zu sein. Auch in den Kinderreimen spielte
Amsterdam eine Rolle[22],
während London, Paris oder gar Berlin und Wien nie in unseren Gesichtskreis
traten.
Die
deutsche Dichtung blieb für uns ein völlig verschlossener Schatz; nur war es
Sitte, einige weltliche Lieder von Gellert, Pfeffel, Gleim u.a. in ein eigenes
Liederbuch zu schreiben; von Schiller's oder Uhland's Balladen, von Arndt's oder
Körner's Kriegsliedern - von den schillerschen oder anderen Dramen garnicht zu
reden - ist uns in der Schule auch nicht eine Silbe bekannt geworden. Dagegen
wurde es für notwendig gehalten, in einem gebundenen, alphabetisch geordneten
dünnen Hefte alle gangbaren und nicht gangbaren Fremdwörter mit ihren
Erklärungen aufzunehmen und nach Kräften sich anzueignen. Auswahl und Umfang war
ganz in das eigene Belieben gestellt. In dem sich füllenden Wörterbuch glaubte
man aber einen nicht verächtlichen Schatz zu besitzen.
Eine
solche Schule konnte keine Anregung geben, keine Entwicklung der schlummernden
Geisteskräfte, Gefühls- und Willensrichtungen erzeugen. Dennoch würde auch ich,
wie meine Geschwister, wohl ruhig in ihr meine schulpflichtigen Jahre zugebracht
haben, wenn nicht durch eine glückliche Fügung ganz unerwartet meinem
Bildungsgange und meinem ganzen Leben eine Wendung gegeben wäre, die ich aus
mehr als einem Grunde nie aufhören werde, dankbar zu
segnen.
Um
Ostern 1835 kehrte nach bestandenem Examen der Candidat der Theologie Joachim
Andreas Reimers aus Oldenburg in das Haus seiner Eltern zurück. Das waren sein
Stiefvater, der Gastwirt und Höker[23]
Christian Ludwig Reimers in Lensahn, und dessen Frau, Joachim's rechte Mutter,
verwitwete Reimers, eine kluge und willensstarke, das Haus regierende Frau, die
ihrerseits bei ihrem zweiten, sehr wohl gestellten Manne vier Stiefkinder
vorfand, 3 Töchter und einen Sohn Ludwig. Da die Zahl der Pfarramts-Candidaten
damals groß und eine Wartezeit von 8-10 Jahren etwas gewöhnliches war, so
pflegten dieselben sich als Hauslehrer zu beschäftigen oder durchzubringen. Es
wurde nun bald bekannt, daß der junge Candidat, der in dem damals noch ziemlich
stillen Lensahn eine Aufsehen machende Erscheinung war und zu dem ich mit der
allertiefsten Ehrfurcht als einem Wunder von Gelehrsamkeit hinaufschaute,
beschlossen habe, im elterlichen Hause mit der Absicht zu bleiben, seinen
Halbbruder Ludwig, meinen Alters- und Schulgenossen zu unterrichten, auch einige
andere Knaben, wenn sich deren fänden, an dem Unterricht teilnehmen zu lassen.
Ich hörte bald mit Neid und Aufregung, daß der Unterricht schon begonnen, daß
auch der älteste Sohn Grundmann's, der Lehrer zu werden gedachte und, einige
Jahre älter als wir, der väterlichen Schule völlig entwachsen war, eingetreten
sei, daß außer Geschichte, Geographie, Physik und anderen für uns bisher ganz
unbekannten und verheißungsvollen Dingen, auch Latein, die Sprache der
Gelehrten, gelehrt wurde. Mein Herz geriet in die größte Bewegung. Ich hatte den
brennendsten Wunsch, an dem Unterricht teilzunehmen; denn so oft mir ein
unbekannter Name aus der Geschichte oder ein mir unbekanntes Wort von
weittragendem Inhalt vorkam, fühlte ich ein unnennbares Verlangen, in diese mir
ganz verschlossene Welt des Wissens, die ich nur noch ahnte, einzudringen und
wußte doch die Personen oder Mittel nicht zu finden oder auch nur zu benennen,
welche mich hätten einführen können. Jetzt war offenbar, obwohl ich von der
Bedeutung der lateinischen Sprache nichts weiter als eine dunkle Ahnung hatte,
die Gelegenheit, den ersten Schritt zu tun. Aber, wie sollte ich es machen?
Meinen Vater geradezu bitten, mich in diese neue Privatschule zu schicken, wagte
ich nicht, dazu hielt ich ihn für viel zu arm und unsere ganze Stellung für viel
zu unsicher und niedrig.
Ein
Wort über sie und ihre Einwirkung auf mein Gemütsleben wird vielleicht gerade an
dieser Stelle an seinem Platze sein. Denn teils sind Euch die Verhältnisse eines
ostholsteinischen Gutes überhaupt unbekannt, teils sind die heutigen
Verhältnisse doch auch noch von denen der 30-ger Jahre dieses Jahrhunderts nicht
unerheblich verschieden.
Auf
diesen großen Gütern nämlich wirkte doch der alte Geist und Sinn der
Leibeigenschaft, obwohl sie seit 1805 rechtlich zu bestehen aufgehört hatte,
noch immer fort; es lebte sogar im Dorfe Lensahn noch wenigstens einer, der alte
Liman, der selbst Leibeigener gewesen war. Die Leibeigenschaft machte die Bauern
in den zugehörigen Dörfern, die Tagelöhner ebendaselbst, teils Land- teils
Haus-Insten[24],
je nachdem sie mit Land zum Halten einer Kuh oder nur mit einer Wohnung
ausgestattet waren, die sog. Bau-Knechte[25],
auf dem Hofe, welche die zur Bebauung der Hof-Ländereien nötigen Gespanne zu
führen und zu besorgen hatten, zu dem lebendigen Inventar des Gutes, ebenso
untrennbar damit verbunden wie die Pferde und Kühe, die Wagen und Pflüge. Der
Gutsherr, ausgerüstet mit gewissen Hoheitsrechten, Justiz- und Polizei-Gewalt,
hatte zu seinen "Untertanen" auf diesem altslawischen Boden[26]
geradezu die Stellung eines kleinen Fürsten. Er wurde durch seinen Verwalter,
seinen Schreiber, seinen Feld- und Scheun-Vogt[27]
den Leuten gegenüber vertreten. Die Gerechtigkeitspflege übte in seinem Namen
ein Gerichtshalter, die Polizei ein Landreuter[28].
War der Gutsherr, wie auf Lensahn, dauernd abwesend, so war der Verwalter mit
der ganzen Machtfülle des Gutsherrn ausgerüstet und stellte in dem betreffenden
Kreise die gebietende und alles entscheidende Persönlichkeit dar. Wenn nun auch
die Leibeigenschaft, wie gesagt, mit dem 1. Januar 1805 rechtlich zu bestehen
aufgehört hatte, die Untertanen nicht mehr rechtlich an die Scholle, auf der sie
geboren, gebunden waren, tatsächlich fesselte sie schon die Sorge um das
tägliche Brot an das Gut, von dem sie entweder die Hufe gepachtet, die Kate mit
Garten und Land angewiesen erhalten und Jahr aus, Jahr ein außer gewissen
Zuwendungen, wie des freien Arztes, Apothekers, Schullehrers, Arbeit und
Tagelohn hatten. So dauerte denn auch die Abhängigkeit von dem Gutsherrn oder
seinem Stellvertreter fort; den Untertanen saß sie einmal im Blute, für den
Gutsherrn lag sie in seinem Interesse.
Eine
vereinzelte Stellung hatte nun auf solchem Gute, wenn die Milchwirtschaft nicht
von dem Herrn, durch einen Haushalter unmittelbar selbst betrieben wurde, der
Holländer. Der hatte die Kühe von dem Herrn oder seinem Bevollmächtigten, dem
Verwalter, unter Umständen, wenn das Gut als Ganzes verpachtet war, von dem
Pächter, allemal nur auf ein Jahr gepachtet für eine Summe, die nach der Zahl
der gehaltenen Kühe berechnet wurde. Die Kuh kostete in jener Zeit der niedrigen
Preise aller ländlicher Erzeugnisse, namentlich aber der Fettwaren, 13, 14 bis
16 alte Courant-Thaler oder 39-48 alte Courant-Mark, nach jetziger Münze also
etwa 50-60 Mark. Die Fütterung, Pflege und Hut hatte die Herrschaft zu leisten,
außerdem die Meierei, die Wirtschaftsgebäude, die Feuerung und das nötige Futter
für seine Pferde dem Holländer zu liefern. Da nun die Herrschaft meist geneigt
war, vom Futter zumal im Winter zu knappen und vor allen Dingen kein Korn, nur
Heu und Stroh herzugeben, so war es eine gewöhnliche Erscheinung im Winter, daß
die Kühe geradezu hungerten und ein bedeutender Teil derselben durch Mangel an
nahrhaftem Futter soweit herunterkam, daß sie nicht mehr stehen konnten und zur
Einnahme von Futter und Wasser gehoben, einige auch in Gurten und Stricken
hangen mußten. Diese Mißhandlung der Tiere, auch der eigenen, galt damals für
eine richtige Wirtschaftsweise. Natürlich gaben so entkräftete Kühe keine Milch
und Butter, lieferten also die Ware nicht, welche dem Pächter nötig war, um die
15 *[29]
herauszubringen. Die Folge war, daß er nicht selten, statt einen kleinen Gewinn
zu erzielen, von dem Eigenen zusetzen mußte und keinen Augenblick sicher sein
konnte, ob er die Pacht des folgenden Jahres auch wieder zu übernehmen wagen
dürfe. Andererseits war es aber auch jedes Frühjahr zweifelhaft, ob der Herr
geneigt sein würde, ihm die Kühe zu demselben oder zu ermäßigtem Preise oder
überhaupt wieder zu überlassen. Denn er brauchte, ohne irgend einen Grund
angeben zu dürfen, nur zu sagen: ich gebe Ihnen die Kühe nicht wieder, und der
Holländer mußte ziehen.
Auf
Lensahn kam nun hinzu, daß der Verwalter, Stuckenberg, zwar ein sehr tüchtiger
und in der ganzen Gegend gewissermaßen berühmter Landwirt, auch nicht geradezu
ein böswilliger Herr war, aber, geboren, wie man wissen wollte, aus fürstlichem
Blute und auferzogen in den Überlieferungen der Feudalzeit, so geeignet wie
geneigt war, das ganze herrschaftliche Ansehen den "Untertanen" gegenüber
geltend zu machen. Er verwaltete drei herzogliche Güter: den Meierhof Nienrade,
wo er auch wohnte, den Haupthof Lensahn, wo zwar ein Herrenhaus, aber keine
Pächter- oder Verwalter-Wohnung war und das Allode[30]
Manhagen mit allen dazu gehörigen Dörfern und Bauerschaften. Er war eine
stattliche Persönlichkeit und ausgezeichnete. Seine Anwesenheit auf dem von
einem Schreiber verwalteten Lensahn war ein Ereignis. Wenn er auf seinem
kräftigen und blanken Braunen auf dem Nienrader Wege dahergesprengt kam, dann
zitterte alles, es möchte irgendetwas nicht recht befunden werden. Denn er hatte
ein scharfes Auge und ein gewaltiges Wort. Namentlich auch wir Kinder fürchteten
ihn und vermieden seine Begegnung. Meinen Vater habe ich zwar nie gegen ihn
kriechen sehen, auch kaum jemals schlecht behandelt gesehen; er wurde auch mit
Sie, nicht wie Bauern und Tagelöhner mit Er oder Du angeredet. Nichts
destoweniger war er sich stets der völligen Abhängigkeit von seinem Belieben und
seiner Launen klar bewußt, und die mancherlei Mißlichkeiten seiner
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung konnte er nicht wohl anders als
schwer empfinden. Am drückendsten fühlte er die Unsicherheit und Bedarftheit
seiner äußeren Lage, und zu meinen schwersten Kindheitserinnerungen gehört es,
daß er namentlich gegen Besuchende, Verwandte oder Freunde, seinen Besorgnissen
den offensten und stärksten Ausdruck zu geben pflegte, ohne je eine Ahnung davon
zu haben, wie schwer er mit jedem solchen Worte: wenn wir erst in der Kate
sitzen..., wer weiß, wie bald wir in der Kate sitzen..., nächstes Jahr sitzen
wir wohl in der Kate u.a., das Herz seiner Kinder und zumal seines jüngsten
bedrückte, der das Bild der Kate nicht wieder loswerden konnte und jeden
Augenblick den Bankbruch seiner Familie voraussah. Auch unter der mißlichen
gesellschaftlichen Stellung meines Vaters habe ich früh und viel gelitten; wir
gehörten nicht schlechtweg zu den Gutsbauern, wollten es auch nicht eben,
standen und stellten uns vielmehr mit dem wohlhabenden Gastwirt, mit dem Müller,
mit dem Organisten oder Förster u.a. gleich. Mein Vater verdankte es sogar
seinen persönlichen Eigenschaften, seinem Rufe als tüchtiger Wirt,
hervorragender Züchter, Kenner und Bändiger von Pferden, meisterhafter Fuhrmann,
seiner Geradheit und zweifellosen Rechtlichkeit, auch einer gewissen Gewöhnung,
mit Herrn zu verkehren, endlich dem L'hombre[31]
und Whist-Spiel, daß er für seine Person in dem Hause des Oberförsters, des
Pastors, besonders auch unseres nahen Nachbars, des Gutsbesitzers Schwerdtfeger
von Wahrendorf, bei dessen ganzer Familie er von Seegalendorf her gut
angeschrieben war, fast wie ein Gleicher unter Gleichen verkehrte. Bei dem
Pächter von Güldenstein, Heise, einem Vetter unseres Onkels Heise, wurde auch
die ganze Familie, Frau und Kinder, zu den großen Festen und Gesellschaften mit
eingeladen. Alles dies half aber über die Tatsache, daß wir eben nur Holländer
waren, nicht hinweg. Die ganze Meiereiwirtschaft mit den vielen rohen und wilden
Mädchen und Knechten, den schweren und zum Teil schmutzigen Arbeiten schien kein
sehr sauberes Geschäft, und gerade diese Seite ließ sich die ganze
Schulgenossenschaft, wenn sie verletzen und necken wollte, besonders angelegen
sein, durch Worte wie "Käsbieter" und "Käsknieper"[32]
gegen mich hervorzukehren. Mehr noch durch das letztere als durch das erste
konnte ich zur höchsten Wut entflammt werden, und mehr als einer hat sie mit
kräftigen Schlägen und Stößen meiner kräftigen Arme heimgezahlt
gekriegt.
Diese
ganzen Verhältnisse unserer Familie und unseres Hauses, die Härte und
Zornmütigkeit des Vaters, die Unsicherheit unseres Daseins, die Gedrücktheit
unserer gesellschaftlichen Stellung wirkten nun mit einer von der Mutter
ererbten Scheu und Sorgesucht zusammen, um in mir, seit ich denken kann, eine
Verschüchterung, ein Angstgefühl und eine Blödigkeit zu erzeugen, unter der ich
mein ganzes Leben hindurch, am meisten in meiner Kindheit und Jugend, bis in
mein Mannesalter hinein schwer gelitten habe. Das Erscheinen vor fremden Leuten,
das Sprechen mit ihnen war mir eine Qual; laut wurde ich nur gezwungen; von
Erzählen, Unterhaltung, offenem Herausgehen, unbefangener Selbst-Darstellung war
keine Rede; und so sehr ich unbefangene Knaben meines Alters wie z.B. die
außerordentlich artigen und wohlerzogenen Söhne auf Güldenstein bewunderte und
beneidete, so oft ich wegen meines unbegreiflichen Verstummens und Versteckens
zur Rede gestellt und wohlmeinend ermahnt oder verlacht und verhöhnt wurde, es
half alles nichts. Auch in der Schule, auf dem Gymnasium noch bis in Prima
hinein, selbst als Student konnte ich nicht entweder-oder frei vor der ganzen
Klasse sprechen, ohne zu erröten, selbst dann oder vielmehr dann erst recht,
wenn die Antwort richtig und gut war. Ich erinnere noch sehr deutlich, daß ich
einst eine von unserem Direktor Jacob uns als ihm unlösbar gebliebene Frage bloß
deshalb nicht beantwortete, weil mich die Scheu und Blödigkeit zurückhielt. Es
handelte sich um eine Stelle aus Cicero: quo quotidie maximae convocationes oder
contiones fiunt[33];
es blieb ihm unerklärlich, warum es nicht qua hieße. Ich fühlte schon damals mit
meinem guten Sprachgefühl, wie ich jetzt beweisen kann, richtig heraus, daß der
Verbalbegriff in contio oder convocatio das quo nötig mache, wagte es aber nicht
zu sagen, da ich puterrot geworden wäre. So ist es mir öfter gegangen und ganz
hat sich diese Blödigkeit bis auf den heutigen Tag nicht verloren, ein Beweis,
wie tief sie sich festgesetzt hatte.
Wenn
so Scheu und Ängstlichkeit, Entsagung und Schweigen mir im Blute lagen, durch
Erziehung und häusliche Verhältnisse nur noch gefördert wurden, so ist es
begreiflich, daß ich trotz meines glühenden Wunsches, des sich bietenden
besseren und höheren Unterrichts teilhaft zu werden, ihn verlauten zu lassen
nicht wagte. Es scheint aber, als wenn mein Vater, der selbst ein Bedürfnis
hatte zu lesen und sich zu unterrichten, der regelmäßig seine Zeitung, der sogar
das schon etwas höher greifende Kieler Correspondenzblatt las, der wohl auch bei
einzelnen Gelegenheiten eine leichte Auffassung und ein glückliches Gedächtnis
an mir bemerkt haben mochte, von selbst auf den Gedanken gekommen oder von
anderen mit Leichtigkeit gebracht ist, die Gelegenheit nicht unbenutzt zu
lassen. Wie dem sei, ich wurde zu meiner unaussprechlichen Freude des
hochgelehrten Candidaten Schüler und trat mit Ehrfurcht und hoher Erwartung in
die geheimnisvolle neue Welt, die sich nun mir öffnete und voll der größten
Schätze sein zu müssen schien. Mit brennendem Eifer merkte ich auf und ergriff
und verarbeitete ich das Vorgetragene. Für fremde Sprachen, namentlich auch das
Latein, bekundete ich bald eine entschiedene Begabung, sodaß ich darin selbst
den viel älteren und sonst viel gereifteren Reinhard Grundmann aus dem Felde
schlug, mein anderer Mitschüler Ludwig Reimers aber nur mit Mühe einigermaßen
Schritt halten konnte. Deklination und Conjugation an den Paradigmen der damals
gangbarsten Grammatik von Bröder habe ich auswendig gelernt und eingeübt. Eine
hohe Genugtuung war es, als ich zum ersten Mal aus den zusammenhängenden
Lesestücken im Anhang der Grammatik ihr Geheimnis zu entreißen vermochte. Das
Französische, in dem der Candidat selbst nicht ganz fest war, machte mir weniger
Freude, erschien mir auch wegen seiner viel mehr verschlissenen Formen nicht so
einfach und durchsichtig wie das Lateinische. Im Deutschen wurde die
grammatische Sicherheit durch die bekannten Vorlageblätter mit absichtlich
fehlerhaftem Inhalt eingeübt, deren Abschriften gegenseitig von den Schülern
nachgesehen wurden. Die Zahl der angestrichenen Fehler richtete sich
einigermaßen nach dem mehr oder weniger ungetrübten Verhältnis, das gerade
zwischen den Schulgenossen herrschte. Die Aufsätze wurden mir nicht schwer; da
ich zu Hause gleich meiner Schwester sehr viel gelesen habe und fortwährend las,
nicht immer das Beste und Geeignete, sondern meist die umlaufenden Journale,
auch Romane und Novellen ohne Aufsicht und Verbot, so hatte ich ohne weiteres
Studium von selbst eine gewisse Leichtigkeit des Ausdrucks gewonnen, die mir bei
dieser Aufgabe sehr zu Statten kam. Die Geschichte von Gumal und Lina[34],
die uns neben den Reisen der Familie Gutmann[35]
vorgelesen wurde, habe ich freiwillig zu Hause nacherzählt und
niedergeschrieben. Von der Entdeckung von Amerika[36]
schrieb ich ganz auf eigene Hand eine Darstellung in ein eingebundenes, noch
vorhandenes Heft. Wenig Freude machte mir der Vortrag auswendig gelernter
Gedichte. Zumal der Forderung des Lehrers, den Vortrag auch mit Handbewegungen
zu begleiten, konnte ich mich trotz aller Ehrfurcht und Folgsamkeit, trotz aller
sonstigen Scheu und Blödigkeit, ihm Ursache zur Unzufriedenheit zu geben, nicht
überwinden. Es kam schließlich zu einem peinlichen Auftritt, bei dem ich aber
doch immer in einem richtigen Gefühle ohne Selbstvorwürfe blieb. Als ich wieder
einmal dastand in der kleinen Stube und, wie gewöhnlich, die Arme am Körper
herunterhängen ließ, ward er unwillig und forderte mit gebieterischer
Entschiedenheit, ich solle gestikulieren. Auch jetzt war es mir in jedem Sinne
des Wortes undenkbar und unmöglich; ich stand wie eine Statue. Da fuhr er in
höchstem Unwillen vom Sofa auf, schleuderte das Buch, in dem er das Gedicht
nachlas, mir vor die Füße auf den Fußboden, daß es klatschte und stürzte zur
Türe hinaus. Wann und wie er wiederkam, ob der Unterricht an dem Tage vorbei
war, ist mir nicht mehr erinnerlich; nur weiß ich, daß von Gestikulieren später
nicht wieder die Rede war. Er mochte selbst die Unnatürlichkeit der Forderung
eingesehen haben. Das Gute hatten jedoch diese Übungen, daß ich einen reichen
Schatz der schönsten, meist schiller'schen Balladen mir für die Dauer aneignete.
Auch die "Glocke" wußte ich von Anfang bis zu Ende mit voller Sicherheit
auswendig und sagte sie mit Leichtigkeit, mit sicherer Betonung und warmen
innerem Anteil und Verständnis her. Noch als ich später Soldat war, vermochte
ich so ziemlich das ganze lange Gedicht wieder zusammenzubringen, und manche
langweilige Stunde auf Posten, namentlich bei Nacht, habe ich mir durch Hersagen
und Wiedererinnern gerade dieses mir besonders lieben Gedichtes in angenehmer
und anregender Weise gekürzt.
Um
diese Zeit, vielleicht schon früher, wird es auch gewesen sein, wo ich aus dem,
ich weiß nicht wie, in meine Hände gelangten Leipziger Liederbuche für den
deutschen Studenten[37]
die besten Lieder der patriotischen Lyrik der Freiheitskriege kennen lernte.
Arndt's, Körner's, Max von Schenkendorff's vaterländische Gesänge las, lernte,
sang und deklamierte ich mit hochgehobenem Herzen; vor Begierde brannte ich von
Blücher, Scharnhorst, Körner u.a., von den Befreiungskriegen und der ganzen
neueren deutschen Geschichte näheres zu erfahren. Ferdinand von Schill, den
"tapferen Helden"[38]
wußte ich gegen einen unserer Tagelöhner, Frank, gewöhnlich nur der Hufer
genannt, der unter Ewald den Zug gegen Stralsund mitgemacht und natürlich ganz
die französische Auffassung zurückgebracht hatte, tapfer, wenn auch ohne Erfolg
zu verteidigen. Er beharrte darauf, ihn einen Räuberhauptmann und Rebellen zu
schelten und, da er, wie nicht selten, ziemlich angetrunken war, - auf
Veranlassung des Erntebieres[39],
bei dem der Vorgang statthatte, - so entkam ich wegen meines kecken
Widerspruches nur mit genauer Not seinen Scheltworten und Handgreiflichkeiten.
Von der Zeit an hatte das deutsche Lied, das wieder einmal an einem bescheidenen
und verborgenen Beispiel seine werbende Kraft entfaltete, mich zu dem klarsten
und lebhaftesten Bewußtsein meines deutschen Volkstums zurückgeführt; eine neue
Welt hatte sich mir erschlossen, in die ich mit Eifer weiter einzudringen
suchte; mit Begeisterung las ich, wenn ich des Morgens auf dem Unterrichtszimmer
noch allein war, verstohlen die kurze Darstellung der Schlachten von 1813-15 von
Kohlrausch[40],
die ich in der Bibliothek meines Candidaten herausfand. Es waren bleibende und
nachhaltige Eindrücke, die ich so in aller Stille und geführt vom Zufall in mich
aufnahm.
Denn
unser Candidat Reimers war offenbar, obwohl seine Studien doch in die national
und politisch bewegten ersten dreißiger Jahre des Jahrhunderts fielen, doch nach
dieser Seite seines inneren Lebens, vielleicht infolge seines sehr ernst
gefaßten und betriebenen Studiums der Theologie und geistlichen Berufes, völlig
unentwickelt und ungeweckt geblieben. Nie erinnere ich von ihm ein Wort
deutscher Vaterlandsliebe oder staatsbürgerlichen Gesinnung gehört zu haben.
Auch der geographische und der geschichtliche Unterricht bevorzugte Deutschland
in keiner Weise; selbst von der ihm als Theologen doch so naheliegenden
deutschen Reformation, von dem großen Welterneuerer Luther erinnere ich nie auch
nur je ein wärmeres und beredteres Wort oder eine ausführlichere und
zusammenhängende Darstellung gehört zu haben. Er selbst wird wohl auf diesem
ganzen, von der Schule und auf der Universität Kiel gänzlich vernachlässigten
Felde auch nicht zu Hause gewesen sein. In der Physik, die unter den
Lehrgegenständen nicht fehlte, die übrigens auch einen Gegenstand der
theologischen Haupt-Prüfung bildete, mag er seinen Schülern auch nur um eine
Stunde voraus gewesen sein.
Den
größten Wert legte er aber auf den Unterricht in der Religion. Er war ein streng
gläubiger Christ von Harmsischer Richtung und pries sein Geschick, das ihn zu
einem Verkünder der christlichen Heilslehre berufen habe, gelegentlich mit
Begeisterung und Beredsamkeit, an der es ihm nicht fehlte. Jede erste
Morgenstunde war der Religion gewidmet. Die Wärme, womit er uns vor allem die
Person des Mittlers und Versöhners vorzuführen wußte, konnte ihre Wirkung auf
unsere kindlichen Gemüter unmöglich verfehlen, und als ich später seine Schule
verließ, um in Lübeck eingesegnet zu werden, brachte ich bereits ein gutes
Verständnis der Heiligen Geschichte und der christlichen Heilslehre sowie eine
feste und einfältige Überzeugung von der zweifellosen Wahrheit des lutherischen
Bekenntnisses mit.
Den
tiefsten und bleibendsten Eindruck machte auf mich seine Behandlung des sechsten
Gebotes, das, soweit ich beobachten konnte, meist mit einer übel angebrachten
Scheu vor dem Hinwegziehen des Schleiers besprochen zu werden scheint, den teils
eine natürliche, gesunde und berechtigte, teils aber auch eine falsche und übel
angebrachte Scham über alle diese Fragen gebreitet hält. Meist sind die Kinder,
und auf dem Lande mehr noch als in der Stadt, über diese Dinge durch den
garnicht abzusperrenden Verkehr mit den Dienstboten besser unterrichtet, als man
denkt, meist wenigstens die Phantasie von den geschlechtlichen Verhältnissen
früh erfüllt und vergiftet, unzüchtige Gedanken und Reden etwas gewöhnliches und
weit verbreitetes unter den Schulkindern. Diese Tatsachen waren unserem Lehrer
wohl nicht verborgen geblieben; er erkannte die ganze Gefahr solcher Gewöhnungen
und hatte offenbar den wohlüberlegten Entschluß gefaßt, uns einmal mit heiligem
Ernste und nackter Offenheit über die furchtbaren Folgen der Unkeuschheit für
das ganze Leben des Menschen die Augen zu öffnen. Er sprach mit tiefster eigener
Bewegung, mit größter Wärme und Beredsamkeit, mit rücksichtslosem Eingehen auf
das Einzelne, mit gerader Nennung der rechten Namen. Tief ergriffen, in
feierlichem Schweigen hörten wir ihm zu. So hatten wir über diese Dinge noch
nicht reden gehört. Ich kann von mir selbst sagen, war aufs tiefste erschüttert
und nicht bloß für die flüchtige Stunde. Bis über das Grab hinaus bin ich ihm
dankbar geblieben.
Meine
geliebte Frau hab' ich oft erzählen hören, wie die letzten Stunden der
Konfirmanden bei ihrem hoch verehrten Vater den gleichen Darlegungen und
Ermahnungen gewidmet gewesen sind, wie auch er mit dem heiligsten Ernst und
rücksichtslosester Offenheit den angehenden Jünglingen und Jungfrauen die ganze
Furchtbarkeit der Verfehlungen, zumal der kindlichen Verfehlungen gegen die
Keuschheit ans Herz zu legen für eine seiner heiligsten Verpflichtungen als
Seelsorger gehalten und geübt hat. Es könnte nur zum Segen ganzer Geschlechter
gereichen, wenn dieser wichtige, ja entscheidende Punkt in allen Schulen so früh
wie möglich von den Lehrern je nach ihren geistigen und sittlichen Kräften in
gleicher Weise behandelt würde. Denn ahnungslos verfallen schon Kinder oft den
Sünden, deren furchtbare Folgen sie meist erst kennen lernen, wenn es zu spät
ist.
So
hatte der Unterricht einige Jahre gedauert, und die Zeit meiner Einsegnung nahte
heran. Die Frage, die schon lange erwogen war, welchen Beruf ich ergreifen
sollte, verlangte allmählich eine Entscheidung. So große Freude ich am Landleben
hatte, so gern ich mich in Wald und Feld tummelte, soviel Liebe ich auch
namentlich zu jungen Tieren hatte, den zutunlichen und so vertraut und
verständnisvoll plappernden Gänsen, die wir Gößeln nannten und deren Erscheinen
zu den ersten Frühlingsbotschaften und Ostergefühlen gehörte, zu jungen Hunden
und den drolligen, unfreiwillig komischen, weißen und zarten Ferkeln, weitaus
vor allem aber zu den neugeborenen Füllen, bei denen ich Stunden lang im bloßen
Anschauen zubringen konnte und deren fröhliches Springen nachher auf frischer
Weide mein ganzes Entzücken war, so gern ich auch ritt und fuhr, so sehr alles
dies auf den Landmannstand führen zu können schien: eine Lust oder Neigung,
Landmann zu werden, habe ich zu keiner Zeit verspürt. Die Holländerei war mir
vollends schrecklich. Andere Berufe lagen mir fern. Maler zu werden, schien mir
lange Zeit schön, da ich mit einigem Talente und mit ganz besonderer Lust und
Freude sowohl bei Reimers als auch noch in Sonderstunden bei einem der
wechselnden Unterlehrer Delfi[41]
aus Segeberg das Zeichnen betrieb. Da ich aber hörte, daß das eine brotlose
Kunst sei, stand ich davon ab. Zum Studieren hatte ich die größte Lust, und nach
dem Urteil meines Lehrers und anderer urteilsfähiger Bekannten des Hauses auch
durchaus die Begabung. Mit welchem Neid und Interesse sah ich zu den Kieler
Studenten empor, als zu Pfingsten ihrer eine ganze Schar nach dem lieblichen
Güldensteiner Mühlenholz ganz in unserer Nähe einen Ausflug gemacht hatten und
auch nach Lensahn in das Reimers'sche Gasthaus kamen. Was schienen sie mir alle
für hohe Denkerstirnen, kluge Augen und schöne Gesichter zu haben! Welch ein
seliges Los, Student zu sein! Und unsern zeitweiligen Revier-Jäger, den Sohn des
später erst mir bekannt gewordenen Malers Tischbein, der aber mehr Naturforscher
als Jäger war und mehr mit seinem Hammer als mit der Flinte erschien, der in
Heidelberg studiert und von dort eine ganze Reihe der schönsten Pfeifenköpfe
mitgebracht hatte, wie schloß ich ihn in mein Herz mit seinem bildschönen
Gesicht, der gewölbten, anmutig geschwungenen, in der Mitte gespaltenen Stirn,
seinen blauen milden Augen, seinem schwarzen Haar und Bart, dem feinen Mund und
wohlgeformten Kinn, zumal da er bei seinen öfteren Besuchen in unserem Hause
mich blöden und ungeschlachten Jungen anzureden und hervorzuziehen die
Freundlichkeit hatte. Viele, viele Jahre später, die er in dem oldenburgischen
Fürstentum Birkenfeld zugebracht hatte, habe ich ihn als Forstmeister in Eutin
aufgesucht und wiedergesehen, um ihm noch meinen Dank auszusprechen für
Wohltaten, von denen er nicht wußte; mit seinem feinen und kräftigen Kopf, dem
langen hellgrauen Doppelbarte, den schönen Augen war er noch immer einer der
idealsten Greise, die man sehen konnte.
So
stand freilich mein ganzer Sinn nach der Universität. Da es aber immer hieß, das
Studieren koste Summen, die nach Tausenden zählten, da immer so gesprochen
wurde, als müßten sie gewissermaßen im voraus auf einem Brett hingezählt werden,
niemand aber, soweit ich erinnere, auch auf die Erleichterungen hinwies, welche
eigene Einschränkung und die doch recht zahlreichen Stipendien ermöglichten, so
wies mein Vater diesen Gedanken als einen unmöglich auszuführenden zurück. Ich
vermute, daß ihn auch die Furcht geleitet hat, sein Verwalter werde ihm, wenn er
mit so kostenreichen Plänen hervortrete, sofort die Pachtung höher schrauben.
Eigenes Bitten oder Drängen kannten wir nicht. Als ich einmal in dem
leidenschaftlichen Wunsche nach einer Taschenuhr einen Brief zu schreiben gewagt
hatte: "Lieber Vater! Sei so gut und schenke mir eine wohlfeile Uhr zu 1
*"[42],
war mit der ungnädigen Bemerkung, das wäre ja eine sehr unverständige Bitte
gewesen, die Sache ein für alle Mal abgemacht. Entsagung galt als Notwendigkeit,
und die Notwendigkeit ist sanft.
So
hatte ich mich auch schon getrost und völlig darein ergeben, Schullehrer zu
werden und demnächst auf das Seminar zu gehen. Etwas von der Wissenschaft
kostete ich ja auch so.
Dennoch
kam es anders und, wie ich noch jetzt mit dankbarem Herzen sagen muß, besser und
glücklicher, als ich zu hoffen oder zu bitten gewagt hatte: Quando quisque sibi
plura negaverit, a dis plura feret[43].
Die Zureden seiner Bekannten und Freunde, namentlich, vermute ich, des damaligen
Schreibers auf Lensahn, Struve, eines Verwandten von Verwalter Stuckenberg, der
damals bei meinem Vater sehr viel Vertrauen genoß und von meiner Begabung auch
vor meinen Ohren mehr Aufhebens machte, als begründet und gut war,
wahrscheinlich auch über die schlimmen Folgen beruhigt hat, die möglicher Weise
von Nienrade drohen könnten, diese Zureden und wohl auch genauere Erkundigungen
über den jährlichen Bedarf eines Gymnasiasten und Studenten, führten endlich,
ohne daß ich um die einzelnen Verhandlungen weiter gewahr geworden bin, meinen
Vater zu dem Entschluß, mich studieren zu lassen. Sofort wurde nun der
Unterricht bei Reimers danach geändert und zugeschnitten, daß ich womöglich in
die Tertia, wohin ich nach meinem Alter mindestens gehörte, Ostern 1839
aufgenommen werden könnte. Besonders wurde nun Griechisch angefangen, eine
Sprache, die ich schon schwieriger fand als das Lateinische, die mich aber
besonders wegen ihres außerordentlichen Wohllautes ungemein anzog. Ich erinnere,
daß ich die Musik in dem Worte *********[44],
sobald ich es zum ersten Male las, so lieblich fand, daß ich nicht müde wurde,
sie mir durch lautes Vorsprechen immer zu wiederholen. Als Schule wurde die
Lübecker ausgesucht, keine holsteinische, auch nicht die nahe Eutiner, teils
wohl, weil Reimers seine Bildung dort erhalten hatte, teils weil sie - und nicht
mit Unrecht -, eines ganz besonderen Rufes sich erfreute. Obwohl schon 15 und zu
Ostern 1839 15½ Jahre alt, sollte ich doch erst 1840 auch in Lübeck konfirmiert
werden. So war alles festgestellt. Der Winter wurde eifrigst benutzt. Ostern
stand das große Ereignis bevor.
So
sollte ich denn Abschied nehmen vom Elternhause, von meiner Heimat, in der ich
das Jahrzehnt des erwachenden Bewußtseins verlebt und bei allem mannigfachem
Druck und Herzenskummer doch so manche, manche Freuden in kindlicher
Sorglosigkeit genossen hatte. Es ist die schöne Kunst der Kindheit, auch das
augenblicklich bitterste Leid im fröhlichen Verkehr mit Genossen bei Spiel und
Scherz auf Stunden, auf Tage gänzlich zu vergessen. Die Zeit, wo der Schmerz
einen Umfang annimmt, ein Gewicht und eine Schwere erhält, daß er keinen
Augenblick weicht, daß er Monate, Jahre lang ungeschwächt fortnagt, daß er
überall ganz auf dieser Erde nicht erstirbt, kommt erst später. Das Gefühl der
Gesundheit, der ich mich eigentlich ununterbrochen erfreute, die Empfindung
täglich zunehmender Körperkraft kamen hinzu, um mich in jenen Jahren der
Kindheit oft mit ausgelassenster Freude zu erfüllen. Leider riß mich meine
leidenschaftliche Natur nur allzu oft zu Übertreibungen, Mutwillen und
Ausschreitungen hin, die traurige Störungen, eigene und fremde Verletzungen und
neues Herzeleid im Gefolge hatten. Keinen Vers hab' ich durch eigene traurige
Erfahrungen mir früher und tiefer eingeprägt als die Lehre bei der Geschichte
vom fröhlichen Lämmchen: "Die Freude, die man übertreibt, verwandelt sich in
Schmerzen"[45].
Schlimm, daß die überzeugte Anerkennung dieser Wahrheit mir doch wenig genützt
hat.
Eine
Hauptquelle, die täglich neu sprudelte, war der vielfache Verkehr mit den Schul-
und Altersgenossen, sei es mit der ganzen Schar der Schuljugend zu
Gemeinschaftsspielen, sei es mit wenigen oder auch nur einem trauteren Freunde
und Bekannten. Auf dem Spielplatze der Schule wechselten im Kreislauf des Jahres
die Spiele mit unbewußter Regelmäßigkeit. Um die Osterzeit, wenn die Luft klarer
und reiner zu werden begann, das Erdreich trocken und fest wurde, zwischen Kalt
und Warm ein erwünschtes Mittel eintrat, fing das Ballspiel an, das eine große
Anzahl von Knaben auf einmal beschäftigte. Zwei der besten Spieler traten
zusammen; der eine warf dem andern einen Knittel zu, den der andere an einer
beliebigen Stelle mit der Hand zu umfassen hatte. Dann legte der erste seine
Hand an die des anderen um den Stock, und wer dann im weiteren Wechsel Hand um
Hand das Ende des Stockes so faßte, daß er ihn noch mindestens über den Kopf zu
schleudern vermochte, war "binnen" d.h. an der Spitze derjenigen Partei, welche
zuerst den Ball zu schlagen hatte. Dann wählten sich beide Zug um Zug aus dem
"Umstand", der corona, diejenigen aus, welche sie für die besten Spieler
hielten. Die "binnen" waren, sammelten sich an dem Ende des Platzes um ihren
Führer; die "draußen" waren, stellten einen, um dem Schlagenden den Ball
"aufzugeben", die übrigen verteilten sich bis nach dem anderen Ende des Platzes,
um entweder den in möglichst hohem Bogen und möglichst weit fortgeschnellten
Ball, ehe er zur Erde fiel, zu fangen oder den von der Gegenpartei, der
geschlagen hatte und nun den Lauf zu dem am entgegengesetzten Ende gesteckten
Ziele hin und zurück zu machen hatte, ohne von dem Ball des Gegners in dem
Zwischenraum zwischen außen und innen getroffen zu werden, mit dem aufgenommenen
Ball zu treffen. Wenigstens soweit mußte er, wenn getroffen, dem Binnen-Male,
das scharf bezeichnet war, nahe gekommen sein, daß er die Entfernung
überspringen konnte. War der geschlagene Ball gefangen, so war das Spiel für die
drinnen verloren, sie kamen nun ihrerseits nach außen. War der Laufende
innerhalb der beiden Male vom Wurf der Gegner getroffen, so war es gleichfalls
aus; es wäre denn, daß der Getroffene so geschickt und glücklich war, sofort
einen der Gegner mit dem rasch ergriffenen Balle wieder zu treffen. Kraft und
Übung zum möglichst weiten Fortschlagen des Balles, schnelle Beine und gute
Lungen zum Laufen, Gewandtheit im Ausweichen vor dem Wurfe, Augenmaß und
Geschick zum Fangen des Balles oder zum Treffen des Laufenden waren die
erforderlichen Eigenschaften eines guten Spielers. Schlagen und Laufen konnte
ich mit am besten; im Fangen und Werfen hatten einige eine besondere Begabung.
Da Anstrengung und Erholung sich teilten und abwechselten, hielt die Lust am
Spiele meist lange vor, es mußte denn sein, daß ein Zank, nach dem
gebräuchlichen Kunstausdruck eine "Kretelei"[46],
es endete. Ob einer den Ball wirklich "gekriegt" hatte, d.h. ob er wirklich am
Körper getroffen oder vielleicht nur am Zeuge gestreift war, ob ein getroffener
wirklich das noch entfernte Mal im Sprunge voll erreicht hatte oder nicht, waren
häufig vorkommende Streitfragen, die nicht selten dem Spiel ein schroffes Ende
bereiteten.
War
die Zeit des Ballspieles zu Ende, so kam ein anderes Spiel als vorherrschendes
an die Reihe. So namentlich das sog. "Duntzer"[47].
Ein einzelner mußte vom befriedeten Male aus mit gefalteten Händen einen aus der
ganzen übrigen Masse erhaschen oder wenigstens berühren. Dann war dieser der
Gegenpartei verfallen. Beide zusammen, Hand in Hand, liefen dann wieder aus, und
suchten mit der freien Hand einen dritten und vierten zu treffen, die dann beim
nächsten Auslauf schon auf drei oder vier anschwollen. Wurde die Kette, was
leicht vorkam, je länger sie wurde, von hinten zerschlagen, so mußten alle
Glieder rasch zurück hinter die trennende Linie, über welche hinweg dann noch
ein Faustkampf geführt zu werden pflegte. Erst wenn auch der letzte "annektiert"
war, endete das Spiel oder wenigstens sein erster Akt.
Viel
gespielt, obwohl nicht so sehr auf dem Schulplatz und von der ganzen Knabenschar
der Schule, war auch das sog. "Akreh"[48],
ein Wort, dessen Herkunft mir dunkel ist; anderswo nannte man es auch
"Anstehen". Einer "stand an" mit abgewandtem Gesichte oder geschlossenen Augen;
sein Platz war das Mal; bis er 20 oder 30 gezählt hatte, mußten alle übrigen
sich versteckt haben. Dann war es des Anstehenden Aufgabe, sie zu finden; war er
ihrer oder eines derselben ansichtig, so hatte er zum Male zurückzurennen und
rief "Akreh, Akreh für N.N.". Kam der Entdeckte ihm am Male zuvor, so hatte er
sein Spiel verloren.
"Fünfstein"[49]
spielten vorzugsweise die Mädchen, doch auch Knaben, wenn seine Zeit gekommen
war. Fünf möglichst zierlich geschnitzte und handliche Holzwürfel gehörten dazu,
die auch jeder dann in der Tasche bei sich zu führen pflegte. Die Aufgabe war,
während man einen derselben in die Höhe warf, die anderen in verschiedene Lagen
und Gruppen auf dem Tische so rasch hinzupflanzen, daß man den herunterfallenden
noch wieder fangen konnte; ebenso mußten sie dann auch einzeln oder in Haufen
wieder vom Tische aufgenommen werden.
Auch
Hinkebock[50]
hatte seine Zeit. Auf der möglichst ebenen Erde wurde ein langes Rechteck mit
abgerundetem Ende gezeichnet und in eine Anzahl verschiedener Kammern und
Abteilungen geteilt. Dann wurde eine tönerne Scheibe in die erste Kammer
geworfen. Auf einem Beine hüpfend hatte man, ohne jemals den Strich zu berühren,
die Scheibe mit dem Fuße aus der Abteilung und über den Grenzstrich zu stoßen,
wobei diejenigen, die Pantoffel trugen, im Vorteil waren. Wurde der Strich
berührt, blieb auch nur die Scheibe auf ihm liegen, so war das Spiel verloren,
und der andere kam dran.
Ein
ganz besonders beliebtes und eifrig gespieltes Spiel war Jagd. Der Großherzog
von Oldenburg hielt in seiner Residenz Eutin einen "Jägerhof", bestehend aus
einem Oberjäger, mehreren Jägern, einem Burschen und Knechten sowie der ziemlich
starken Meute der "Jagdhunde", einer mittelgroßen roten, auch wohl bunten Art
von Spürhunden, die von denjenigen Jagdhunden, welche der einzelne Jäger oder
Förster auf Hasen, Hühner, Schnepfen u.s.w. zu verwenden pflegte, sehr
verschieden war. Im Herbst, Ende Oktober oder Anfang November, kam die Jagd nach
Lensahn, um der Reihe nach die schönen und großen Waldungen der Fideikommißgüter
abzujagen. Lange Zeit vorher spielte dann die Lensahner Schuljugend "Jagd". Ein
Oberjäger wurde bestimmt, meist war es Reinhard Grundmann, der älteste Sohn des
Organisten, später langjähriger Lehrer und Organist, der mit ebensoviel Eifer
als Geschick die Lensahner Schule zu einer Meisterschule erhob, auch die Bildung
einer dritten Ober-Klasse durchsetzte, in welche nur diejenigen aufrückten,
welche ununterbrochen auch den Sommer hindurch den Unterricht zu besuchen
imstande waren. Das Dienen der Tagelöhner-, z.T. auch der Bauern-Kinder während
des ganzen Sommers hemmte die Arbeit des Lehrers in der Mehrzahl in einer Weise,
welche demselben eine große Entsagung auferlegte.
Dem
Oberjäger wurden seine Jäger beigegeben, die Hunde und das Wild bezeichnet, und
nun ging die Jagd los, nach Kräften genau so, wie man es voriges Jahr in
Wirklichkeit gesehen hatte.
Bald
hallten alle Wege des Dorfes wieder von dem Knallen der neuen Hundepeitschen,
lange, dicke, aus Garn gedrehte, nach dem Ende gleichmäßig sich verjüngende, mit
Teer umschmierte und mit einer kuhhaarenen Spitze zum besseren Klatschen
versehene Peitschen mit kurzem, dickem Stiel, die nicht, wie die
Kutscher-Peitsche, hoch in der Luft von rechts nach links, sondern seitwärts am
Körper längs, von vorn nach hinten geschwungen wurden. In der Verfertigung wie
Handhabung brachten es einige zu großer Geschicklichkeit und beneideten
Erfolgen. Der Hauptgegenstand aller Unterhaltungen war nur noch die Jagd und die
Peitschen. Endlich kam die ersehnte Zeit heran, das Gerücht meldete den Tag der
Ankunft des Jägerhofes im Wirtshaus von Lensahn. Nicht wenige gingen ihm
stundenlang entgegen und zogen stolz mit ihm ein. Die Jagden in den einzelnen
Gehegen wurden dann auf die einzelnen Tage der Woche verteilt, die Treiber auf
die Sammelplätze bestellt, und die große Woche begann.
Für
die Bauern gehörte es zu den alten Feudallasten oder "Hofdiensten", wie man sie
nennt, für seine Hufe 2 oder 3 Treiber zu stellen, meist noch schulpflichtige
Knaben, z.T. auch junge Knechte. Wir anderen schlossen uns als Freiwillige und
Liebhaber an. Ausgerüstet mit der Peitsche oder einem kräftigen Stock, versehen
mit Mundvorrat auf einen Tag und allerlei schönem Nachtisch, namentlich Obst und
Nüssen, sammelten sich früh Morgens die Treiber am Eingange des Geheges, um von
dem Orts-Förster um den ganzen Umfang desselben, an denjenigen Stellen
namentlich verteilt zu werden, wo ein Durchbruch des Wildes zu erwarten und
abzuwehren war. Zugleich wurden auf den Wildpfaden und Engwegen die Schützen
verteilt; der Jägerhof kam heran: voran der Oberjäger auf schmuckem Schimmel,
das kreisförmige Waldhorn um Schulter und Brust, die Meute rund um die Füße
seines Pferdes in buntem Gewimmel, paarweise zusammengekoppelt - bei schöner
Herbstsonne unter blauem Himmel vor den gebräunten Buchenwäldern ein
herzerfreuender Anblick; lustig klangen dann die Waldhörner der Jäger durch die
stille Herbstlandschaft. Vor dem Tore des Geheges wurde Halt gemacht. War das
Zeichen gegeben, daß die Umstellung vollendet wäre, wurden die Hunde
losgekoppelt; erregt durch die Erwartung des Jagens, wurden sie noch von einer
dichten Umstellung von Jägern und Jungen mit Peitschen und Rufen zurückgehalten
und "bös" gemacht. Dann ertönte das Zeichen: mit lautem Gebell und Geheul
stürzten sie sich in gestrecktem Laufe in den Wald; der Oberjäger ritt ihnen
langsam, das übliche Stück schmetternd, in das Holz nach, die Jäger schwangen
sich auf ihre Pferde, um an den bedeutsamsten Stellen einen Überwachungsposten
einzunehmen und einen Ausbruch des Wildes zu verhüten. Eine Zeitlang verstummte
die Meute wohl, dann schlug sie umso lauter wieder an, ein Zeichen, daß sie eine
frische Fährte gefunden hatte. Nicht lange, so knallten die Schüsse; war das
gehegte Wild getroffen, so schallte das Halali des Oberjägers. Brach es durch
die Umstellung, ins Unbegrenzte, galt es dann vor allem, die Hunde an der
Verfolgung zu verhindern und wieder in das Gehege zurückzutreiben. So ging es
fort, bis der Bestand des Holzes erschöpft schien. Der Oberjäger blies ab; nach
einiger Zeit kam er, von der schweißtriefenden und hechelnden Meute umwimmelt,
aus dem Walde zurück; die Schützen trafen sich an der Ausgangsstelle; die
erlegten Tiere wurden herbeigebracht, die Erlebnisse ausgetauscht; die Jäger
kamen herangesprengt, zählten und koppelten die müden und befriedigten Hunde und
ließen, wenn einige noch fehlten, das helle Jägerhorn so lange und so laut in
den Wald hinein erschallen, bis auch der letzte Streifer sich wieder eingefunden
hatte. Dann ging es zum nächsten Gehege. Mehr als zwei wurden an einem Tage
gewöhnlich nicht abgemacht. Die Treiber wurden entlassen und zum folgenden Tage
neu bestellt. So ging es die Woche durch. Wie herrlich war das alles für eine
von Festlichkeiten nicht verwöhnte Dorfjugend, insonderheit für uns Söhne der
etwa so zu nennenden Honoratioren, die wir als Bummler dem Zuge folgten,
allenthalben die interessantesten Vorgänge mit beleben durften und den kräftigen
Hunger mit dem leckersten Brod, dem besten Obst aus dem vollen Brodbeutel oder
Ränzeln zu stillen vermochten. Ermüdet und gesättigt kamen wir heim, aber nur,
um am folgenden Tage mit erneuter Lust wieder auszuziehen.
Meist
hatte der letzte Tag noch ein Nachspiel.
War
es alte Überlieferung, war es eine halb ungewollte Folge des Zusammentreffens
verschiedener Dorfschaften und einander fremder Gesellen, die der Haber der
Jugend stach, kurz, es kam gewöhnlich, ehe die Jagd endete, zu einer großen
Schlägerei zwischen den Lensahnern und Beschendorfern oder auch anderen Dörfern.
Bei einer derselben entging ich einer wirklichen Gefahr nur mit genauer Not und
dank meiner kräftigen Arme und guten Beine. Die Lensahner und Beschendorfer
hatten gerauft und die letzteren waren aus dem Felde geschlagen. Sie zogen ab
und zwar auf demselben Wege, den ich nach unserem Hause zu nehmen hatte. Ob sie
mich als einen ihrer schlimmeren Gegner anzusehen gelernt hatten, es mag wohl
sein, da bei solchen Gelegenheiten Eifer und Hitze mich hinzureißen pflegten,
einerlei, sie wollten Rache an mir nehmen. Als ich in der Meinung, sie seien
längst abgezogen, mich auch auf den Rückweg machte und schon in die Nähe des
Hofes Lensahn gekommen war, erscholl es mit einem Male hinter dem Knick: Nu is't
Tid! Eine ganze Schar brach gegen mich und die 2 oder 3 Genossen, die mich
begleiteten, hervor. Im blinden Triebe der Selbsterhaltung riß ich aus, stellte
mich aber bald an einer günstigen Stelle mit dem Rücken gegen Knick und Wall und
fuchtelte mit einem guten Knittel dermaßen durch den offenen Halbkreis um mich,
daß keiner den Versuch wagte, Hand an mich zu legen. Da das auf die Dauer nicht
auszuhalten war, ersah ich eine günstige Stelle und einen günstigen Augenblick
und brach unerwartet und überraschend durch die Umlagerer hindurch. Meine guten
Kräfte, von der Angst beflügelt, machten es ihnen unmöglich, mich einzuholen;
keiner von ihnen vermochte eine Hand nach mir auszustrecken. Zum Glück war das
erste Haus des Hofes und die Lensahner Schmiede nicht mehr fern; hier bog ich
hinein, fand Aufnahme und Schutz und schenkte den gänzlich abgeblitzten den
wohlverdienten Hohn und Spott nicht.
Waren
die schönen Tage der Jagd entflogen, so lebte man in ihrer spielenden
Nachbildung noch lange fort. Wir verstiegen uns auch wohl in kleinen Gebüschen
zu einer ernsteren Nachahmung mit wirklichen Hunden und Pistolen oder
Schlüsselbüchsen.
Gesuchte
Stätten jugendlicher Ergötzungen bildeten die mehreren Teiche bei Hof und Dorf
Lensahn: der "Haus-", d.h. Burggraben, der meist den ganzen Hof umgeben hatte,
jetzt nur an der einen Seite tief genug gehalten war, um eine reichliche
Wassermasse zu fassen; der von ihm durch einen hohen Damm getrennte Dorfteich,
der seinen Namen, trotzdem er nun Jahrhunderte lang am Hofe lag, treu, wie
solche Überlieferungen pflegen, aus jener Zeit herüber genommen und bewahrt
hatte, wo Wagrien mit seiner wendischen Bevölkerung von den Holsten und
Stormaren überzogen und endlich niedergeworfen wurde, d.h. 1139 und folgende
Jahre[51].
Da war "Windischen Lensahn" niedergelegt und zum Lohn für einen der
ritterschaftlichen Sieger als Gut oder Hof eingerichtet. Auch die
"Gräber-Koppel" unmittelbar daran wird das Andenken der slawischen
Begräbnisstätte festgehalten haben. Am größten und tiefsten war der Mühlenteich,
eine gleichfalls durch einen hohen "Deich" (= Teich) oder Damm hergestellte
Aufstauung einer im Gute Güldenstein an der östlichen Abdachung des
Bungsberg-Rückens entspringenden und in den Westecker See mündenden Aue beim
Dorfe. Ein großes Fest war es schon, wenn im Herbst einer oder der andere dieser
Teiche abgelassen und gefischt wurde. Aus dem immer seichter werdenden Wasser,
in dem das Gewimmel der zusammengedrängten verschiedenartigen Fische immer
lebendiger und bunter wurde, holten die Tagelöhner die Kätscher voll einen nach
dem anderen hervor und stürzten den Inhalt auf dem Sortier-Tisch aus; dann
begannen der Verwalter, die Schreiber und Kostgänger, mein Vater u.a., auch wir
Knaben wohl, die einzelnen Arten in bestimmte Zuber zu werfen, in den einzelnen
Arten wieder die ganz kleinen, mittleren und großen zu sondern. Ein meist kaltes
und frostiges Geschäft, aber dennoch interessant. Am interessantesten waren die
sorgfältig gezogenen Karpfen im Hausgraben, die immer wieder eingesetzt wurden,
nicht ohne vorher gewogen zu sein. Einige wogen, wenn ich recht erinnere, in die
20 Pfund; ausgestopft ist einer von diesen, an Größe etwa einem Tümmler oder
Delphin gleicher Karpfen, noch heute in der Fischbrut-Anstalt von Gremsmühlen zu
sehen.
Im
Sommer boten diese Teiche recht erträgliche Badeplätze, an denen, da wir nicht
schwimmen konnten und nicht erfinderisch genug waren, diese einfache Fertigkeit
aus uns selbst zu lernen, nur die richtigen Grenzen der Vertiefung eingehalten
werden mußten, wenn kein Unglück passieren sollte. Wie gänzlich wir, von aller
Aufsicht und Einschränkung frei, unseren Neigungen und Trieben überlassen waren,
beweist allein die Tatsache, daß wir an heißen Tagen mehr als einmal zu Wasser
gingen. Ich erinnere mich sehr wohl, daß ich einst dreimal an einem Tage, und
zwar auch noch mit vollem Magen, gleich nach dem Mittag, gebadet habe. Eine
ungewöhnlich heftige Erkältung mit hartnäckigem und beschwerlichem Husten war
die Folge, die einzige Erkältung, die aus meiner Kindheit mir im Gedächtnis
geblieben ist.
Kein
Sommervergnügen kam aber den herrlichen Freuden des Winters gleich; der Winter
war ohne Frage für uns, wenigstens für mich die allerschönste Jahreszeit. Wie
gut weiß ich noch, daß ich als kleiner Bursche, wenn ich morgens aufkam, und der
erste Blick aus dem Fenster auf die wirbelnden Flocken des ersten Schnees fiel,
in laute Freudenrufe ausgebrochen bin. Dann wurden die zusammengewehten
Riffe[52]
durchwatet, der Schlitten hervorgeholt und mit den Genossen der Windmühlenberg
oder die Höhe auf dem Kästkamp, einer Koppel am Gehege Stenbek, aufgesucht, wo
es dann in sausender Fahrt bergab und in mühsamem, aber unverdrossenem Ziehen
immer aufs neue bergauf ging. Von nassen Füßen spürte man nichts, von Kälte noch
viel weniger; wer ein ordentlicher Kerl sein oder werden wollte, das hatte ich
von meinem Vater gelernt, der dürfe sich aus dem Wetter überhaupt nichts machen.
Sein Beispiel und seine Verhöhnung jeder Weichlichkeit hielt jede Verzärtelung
fern.
Noch
größer war die Lust des Fahrens oder Schurrens oder Schlittschuhlaufens auf den
meist spiegelglatt gefrorenen Teichen, die wir betraten, sobald die geringste
Aussicht war, daß sie hielten. Von Überwachung oder selbst Warnung beim ersten
Frost oder nach längerem Tauwetter durch meine Eltern erinnere ich auch hier
nichts; nur weiß ich, daß unser Lehrer Grundmann einer Anzahl von uns, die auf
dem Mühlenteich gewesen waren, was ich garnicht zu leugnen für nötig hielt,
einen kräftigen Denkzettel mit dem Stocke verabfolgte. Das "Schurren", auch wohl
"Glummern" genannt, war das durch längeren Anlauf ermöglichte Fortschnellen auf
einer glatten Bahn, das desto lustiger war, je mehr Teilnehmer in kurzen
Abständen hinter einander daher fuhren und je öfter der Fall eines einzelnen den
Sturz der Nachfahrenden nach sich zog. Mit wahrer Leidenschaft aber huldigten
die wenigen der Dorfjugend, welche in den Besitz der sehr einfachen und ärmlich
nur mit Schnüren und Bändern befestigten, ewig unsicher sitzenden Schlittschuhe
gelangt waren, von der deutschen Dichtung selbst verherrlichten
Vergnügen.[53]
Stunden, Nachmittage, Abende, wenn der helle Mondschein es gestattete, wurden,
zumal wenn eine große Schar von Mitfahrenden die Lust erhöhte und immer wieder
erneuerte, auf den Schlittschuhen zugebracht. Allerlei Spiele ließen sich auf
Schlittschuhen ausführen; nur an kunstvolle und anmutige Bewegungen dachte man
nicht; wer auch rückwärts laufen konnte, galt schon für was besonderes; schnell
laufen, meist mit vorwärts geneigtem Oberkörper, war alles, was man suchte; in
die Wette laufen wurde daher fleißig geübt, was dann bei dem brennenden Eifer zu
siegen und dem unglaublich schlechten Sitzen der Schuhe vieles Fallen und
Hinstürzen herbeiführte. Die blauen Flecke namentlich auf den Hüftknochen bin
ich oft den ganzen Winter nicht los geworden. Dies herrliche Spiel ist wohl das
einzige, das auch in den späteren Jahren seinen hohen Reiz nicht verliert und
die große Annehmlichkeit hat, von jedem Einzelnen ohne Beihilfe auch nur eines
zweiten betrieben werden zu können. Als ich 1847/48 in Berlin studierte, fand
ich den Mut, einen preußischen Taler an ein Paar ordentlicher, starker und mit
Riemen versehener Schlittschuhe zu setzen, die ersten dieser Art, die ich besaß,
- und auch die letzten. Welcher Schatz! Und wie habe ich ihn in jenem für mich
gemütlich sehr schweren Winter auf den Moabiter Wiesen ausgebeutet! Zum ersten
Male sah ich damals auch einen Würdenträger, den Rektor der Universität Johannes
Müller, zum ersten Male auch Frauen laufen. Fortgesetzt habe ich die Übung als
reifer Mann noch lange. Erst die Bemerkung, daß die beim Laufen entstehende
Erhitzung bei scharfem Winde mich mit Erkältung bedrohte und noch mehr der
Umstand, daß meine geliebten, noch immer sehr wohl erhaltenen Schlittschuhe auf
unerklärliche Weise verschwunden waren, veranlaßten mich, die schöne Übung
aufzugeben. Ich hatte es zuletzt zu großer Sicherheit und im Kunstlauf zu einer
nicht ganz gewöhnlichen Fertigkeit gebracht.
Zu
den jährlich regelmäßig mehr als einmal wiederkehrenden Unterbrechungen des
Alltagslebens gehörten die Marktfreuden. Seit unvordenklicher Zeit,
wahrscheinlich von der ersten Verbreitung des Christentums, vielleicht von der
wendischen Zeit her, wo Starigrad, Stargard, Oldenburg die weitbekannte
Hauptstadt Wagriens war, bildete die jetzt so herabgekommene Landstadt am
Hauptübergange von der Insel, die bis heute Land Oldenburg heißt, nach dem
Festlande den Mittelpunkt eines überaus regen und weit ausgedehnten
Marktverkehrs. Drei Mal im Jahre, zur Fastenzeit, an St. Margarethen[54]
und im Oktober vereinigte der volle 8 Tage dauernde Oldenburger Markt Verkäufer
und Käufer aus weitester Entfernung. Nicht bloß über ganz Land Oldenburg und
Fehmarn, sondern bis an den Bereich der Städte Lütkenburg, Eutin und Neustadt
dehnte sich die Anziehungskraft des Oldenburger Marktes aus. Wie nach dem
Braruper in Schleswig, so rechnete man Zeitbestimmungen, Fristen,
landwirtschaftliche Arbeiten nach dem Oldenburger Markte, ohne freilich soweit
zu kommen, daß man schlechtweg "vör" oder "na" Brarup zu sagen pflegte.
Herrschaften und Dienstboten, Vornehme und Geringe glaubten ohne den Besuch des
Oldenburger Herbst-Marktes nicht leben zu können. Die Bedürfnisse des Jahres an
Kleidung und Fußzeug, an Spaten, Forken, hölzernen Gefäßen, Spielsachen und
Schmucksachen, Uhren und Ringen und was dessen mehr war, wurden hier befriedigt.
Die Schule fiel selbstverständlich aus; denn der regelmäßige Besuch aller drei
Märkte und fast immer gleich am ersten und Haupttage verstand sich von selbst.
Wäre ich einmal nicht zu Markte gekommen, ich hätte es für ein schweres Unrecht
angesehen. Mit einem für unser Alter, für unsere Bedürfnisse und Verhältnisse
recht reichlich bemessenem Marktgeld von 8-12 Schillingen ausgerüstet, stürzten
wir Bekannte und Verwandte, namentlich die Heises, Jungclaußens und Wieses, uns
in das Marktgetümmel und Gedränge. In nicht allzu langer Zeit war unser Geld im
Carrußel-Fahren, das meinige mehr noch in den mir ganz besonders schmeckenden
Zuckermandeln und Makronen, weniger in weißen Kuchen, auch wohl in einem
leckeren Speck-Aal vertan. Zu Mittag erwartete uns bei Onkel und Tante Heise ein
stets gedeckter Tisch, schöne kräftige Suppe mit Fleischklößen und Reis, danach
das Suppenfleisch mit Kartoffeln und Petersilien-Brühe. Nachmittags wurde der
Wirtschaft wegen schon zu guter Zeit der Rückweg angetreten. Die Stimmung
pflegte nach dem Hochton des Tages und seinen bis dahin unbemerkten
Anstrengungen ziemlich gesunken zu sein und hielt sich nur dann, wenn einmal der
regelmäßig wiederkehrende Stiefel-Kauf, was sehr selten war, ein befriedigendes
Ergebnis gehabt und passende, gut sitzende Stiefel geliefert hatte oder man
vielleicht auch ein schönes Taschen- oder Federmesser, ein Schreibbuch mit
schönem Umschlag, einen Sonnenring[55]
oder ein ähnliches, lang ersehntes Spielzeug mit zurückbrachte. Dann freute man
sich schon auf den anderen Morgen, sie in Gebrauch zu nehmen und mit hoher
Genugtuung den minder glücklichen Schulgenossen zu zeigen.
Eine
reiche Quelle von Vergnügen bot in jedem Frühjahr die Tierwelt, namentlich die
Vögel. Ohne jede Ahnung des Leides, das man der unschuldigen Creatur zufügte -
und hierbei, wie bei so manchem anderen, muß ich unserer unvergeßlichen Mutter
mit tiefer Beschämung gedenken, die auch als kleines Kind schon nie einem Tiere
auch nur ein Leid zuzufügen vermochte - mit gänzlicher Gefühllosigkeit, ja
Rohheit, also wußten wir uns in den Besitz eines oder mehrerer Tiere, Vögel oder
Vierfüßler zu setzen, am gewöhnlichsten einer Krähe oder einer Elster, denen der
sogenannte "Kikelrehm"[56]
geschnitten und das Nachsprechen einzelner Worte beigebracht zu werden pflegte;
auch wohl eines Strandvogels, von Sütel her, eines Hähers, eines Kiebitz, auch
selbst einer Eule und eines Habichtes. Daß ich letzterem junge, nackte Sperlinge
ganz oder zerhauen vorzuwerfen vermochte, kann ich nur mit tiefer Scham und Reue
gedenken. Junge Hasen und Igel hielten wir, trotz des Jagdrechts der
Gutherrschaft, Wochen lang in der traurigen Haft einer zugedeckten Tonne; trotz
aller Vorsicht unsrerseits waren sie regelmäßig eines schönen Morgens
verschwunden. Ganz besonders schwer liegt mir auch der Tage lang wiederholte
Schmerzenslaut eines Finkenpaares auf der Seele, dem ich, bevor sie eben flügge
geworden, die Brut genommen und in ein Bauer gesetzt hatte in der Hoffnung, sie
würde von den Alten groß gefüttert werden. Die Erwartung erfüllte sich nicht,
die Jungen starben; der Tage lang ununterbrochen ausgestoßene helle und
bezeichnende Klagelaut der Alten zerriß mir das Herz.
Vogelnester
zu finden und zu wissen, hatte einen ungemeinen Reiz. Einige unter uns hatten
dafür eine ganz eigentümliche, mir unter andern völlig abgehende Spürkraft.
Nicht ohne weiteres teilten sie das reizende Geheimnis eines still versteckten
Nestes einem anderen mit, der es auch mit Rücksicht auf seine Eier-Sammlung zu
erfahren wünschte, außer der oben erwähnten, die einzige Art Sammlung, die mich
so weit gefesselt hat, daß ich sie bis zu einer gewissen Vollständigkeit
fortgeführt habe. War es dann erst mehreren bekannt geworden, so war die Störung
oder Zerstörung die ziemlich unausbleibliche Folge.
Viel
Freude und viel Leid haben mir auch meine zahmen Tiere bereitet. Außer den
Füllen, die ich, so sehr sie meine Lieblinge waren, doch nicht als mein eigen
ansehen durfte, namentlich die Tauben und die Hunde. Das Halten von Tauben stieß
anfangs auf Schwierigkeiten; daß der Holländer sich Tauben zu halten beigehen
ließ, ward von dem Verwalter etwas befremdend und bedenklich für die Strohdächer
gefunden. Indeß - es wurde erlaubt. In einem sehr notdürftigen Schlage, der
hängend im Hühnerstall angebracht werden mußte, - in dem 1835 gebauten und 1836
bezogenen neuen Wohnhause ihn anzubringen, war mein Gedanke und meine kühne
Anregung an die Maurer, wurde aber sofort von oben durchkreuzt - wurden die
ersten wenigen Tiere eingesperrt, die aber nicht mal ein einziges Paar ergaben.
Auch als mehrere und nun Paare angeschafft wurden, wollte die Zucht sich nicht
entwickeln. Durch den dunklen und engen Eingang in das dunkle Behältnis wollten
die scheuen Tiere des Abends, als sie endlich ausgelassen wurden, nicht wieder
hinein, blieben dann auf dem Dache sitzen und flogen wieder weg oder wurden von
Raubtieren geholt. Wochen lang, so treu ich sie hegte und fütterte, hatte ich
nur Herzeleid. Bis spät in die Nacht hinein beobachtete ich, lockte und wartete:
alles umsonst. Wie oft bin ich weinend und endlich verzweifelnd in das Haus
gegangen. Desto größer war die Freude, als endlich ein und bald auch mehrere
Paare Nester bauten, Eier legten, brüteten und Junge kriegten. Neuen Schmerz gab
es aber, wenn von den beiden Jungen, denn mehr Eier legten sie zu einer Brut
nie, das eine oder wenn gar beide wieder starben, was nichts Seltenes war, da
sie außerordentlich zart zur Welt kommen. Erst sehr allmählig, bei gesicherterem
Fortgange der ganzen Zucht, wurde ich dickhäutiger dagegen; Lust und Interesse
an dieser niedlichen Vogelwelt hat sich aber nie verloren. Trat ich aus der
Hintertür des Hauses, kamen sie mir entgegen geflogen, um mich zum Futterplatze
zu begleiten. Stunden lang konnte ich ihrem Verkehr und Behaben unter einander
zusehen, den Kundgebungen der ehelichen Liebe und Zärtlichkeit, namentlich dem
Krauen des Kopfes von Seiten der Gattin, der Feindschaft und der Eifersucht.
Denn diese können auch ganz sanfte Tiere hartherzig, ja blutdürstig machen. Nur
ein einziges Mal nämlich habe ich es in den Jahren 1836 bis 39 beobachtet, daß
ein Paar sich trennte. Der Täuber, ich habe nicht herausgekriegt, aus welchem
Grunde, schloß eine neue Ehe und zeugte mit der neuen Frau Kinder. Da war es nun
schon damals mir doch höchst merkwürdig, daß die verlassene Taube die Zeit der
Abwesenheit der Eltern benutzte, um ihre Eifersucht an den unschuldigen Kindern
auszulassen. Sie flog zu dem Neste und hackte ihnen die Köpfe blutig; so oft ich
zur Stelle war, konnte ich sie schützen, und wenn ich recht erinnere, sind sie
doch auch groß geworden. Vorgänge in der Menschenwelt finden ihre Parallelen in
der Tierwelt. Später, als Soldat, habe ich beobachtet, daß auch Gewohnheiten der
Tierwelt bei den Menschen, namentlich, wenn sie in Heerden zusammenleben, von
selbst sich darstellen.
Von
Hunden muß ich hier namentlich meines "Löper's" gedenken. Ich hatte diesen ganz
ungewöhnlichen Namen selbstständig für ihn erfunden, um seine raschen Beine zu
bezeichnen. Obwohl ich nun dieses deutschen und wirklich benennenden Namens mich
in keiner Weise zu schämen hatte, wagte ich mich doch nicht recht dazu zu
bekennen. Einmal, auf eine Frage, wie der Hund hieße, erinnere ich mich, in
dieser dummen Scheu die widerspruchsvolle Antwort gegeben zu haben: "He hett
keen Nam, he heet Löper".
Mit
diesem kleinen gelben, kupferigen Hunde verband mich nun mehr als je mit einem
anderen eine wahre Freundschaft. Wenn die Zeit nahte, wenn ich aus der Schule
kommen mußte, lag er regelmäßig wartend vor dem Tor des Vorplatzes oder auf
dessen Mauer. Kaum ward dann meine Figur an der Wegebiegung sichtbar, so setzte
er sich in Galopp und im Nu war er bei mir, in den stärksten Ausbrüchen seine
Freude kundgebend. Um so größer war mein Schmerz, als dieses treue Tier auf eine
fast tragische Weise endete. Mein Vater ordnete an, er solle, auf einer weit
entfernten Koppel, die dort auf einer Wasserkuhle nachts bleibenden Gänse gegen
den Fuchs bewachen. Er wurde also dort angebunden. Dem einsamen Haustier ist es
ohne Menschengesellschaft unheimlich geworden. Er heulte die ganze Nacht, und an
den stillen Sommerabenden drangen diese Schmerzensschreie bis in mein Bett, zu
tiefstem Mitgefühl meinerseits. Eines Abends heulte er nur kurz, dann ward es
still. Ich freute mich, er habe die Angst wohl überwunden. Am andern Morgen hing
Löper tot von der äußeren Umzäunung herab. Er war von innen über den Zaun
gesprungen, der Strick war zu kurz gewesen, durch sein Zappeln hatte er sich
selbst erdrosselt. Mein Schmerz war unaussprechlich. Lange konnte ich ihn nicht
verwinden.
Viele
Freude verdankten wir Kinder auch dem Umstande, daß unser Vater im Besitz von
Wagen und Pferden war, der notwendigen Bedingung unter anderen auch eines
lebhaft unterhaltenen Verkehrs mit den Verwandten und Bekannten in Land
Oldenburg, Stadt Oldenburg, Parin und anderswo. Außer den älteren Tieren für
Milchwagen und Buttermühle und dem jungen, noch nicht eingeschulten Nachwuchs
wurde mindestens ein Gespann zum Ausfahren stets bereit und in guter Verfassung
gehalten, das uns dann an Sonn- und Festtagen unter der sicheren und geschickten
Hand meines Vaters rasch durch die teilweise nicht unbeträchtlichen Entfernungen
trug, die uns von den zu Besuchenden trennten.
Das
waren vor allem am regelmäßigsten die Geschwister meines Vaters, die schon
genannt sind, und Schwestern und Mutter meiner Mutter. Unsere liebsten Besuche
waren die in Heringsdorf und in Sütel. In Sütel waren gute Verhältnisse, große
Gebäude, ein reichhaltiger Garten, der frei zur Verfügung stand, schöne
Bilderbücher und Sachen und zwei Vettern von passendem Alter, dazu der ältere,
Heinrich, ein besonders einschlägiger Kopf. Auf Kuhhof bei Heise's hielten wir
außer an den Markttagen nur an, tauschten das Notwendigste aus und fuhren
weiter. Ebenso bei Winkelmanns. In Sütel und Heringsdorf aber wurde ein ganzer
Tag zugebracht, zuweilen selbst für beide nicht weit von einander gelegenen
Dörfer 1½ bis 2 Tage verwendet. Das Verhältnis zwischen den Geschwistern und
Verschwägerten war im Ganzen ein gutes, ja herzliches und nahes; ein zweimaliger
Besuch dorthin und dorther jährlich war die Regel. Nur zweimal weiß ich, daß
eine entschiedene Störung eingetreten war: einmal mit der wohl etwas
anspruchsvollen Frau von Onkel Matthias, das andere Mal gleichfalls mit der sehr
bestimmten Frau von Onkel Karl. Die schon erwähnte gewagte Heirat von Tante Lena
unterbrach doch, soweit ich erinnere, den geschwisterlichen Verkehr nicht. Der
Besuch war jedes Mal auf beiden Seiten eine rechte ungeheuchelte Freude, die
Geschwister und Schwäger begrüßten sich, soweit ich mich erinnere, immer mit
einem Kuß, namentlich Jungclaußen in Heringsdorf, wie es unter den Geschwistern
und Schwägern meiner Frau lange Zeit auch Sitte war. Das Beste, was das Haus
bot, ward aufgetragen; bei uns zu Ostern und Pfingsten, den ziemlich
regelmäßigen Besuchszeiten, ein gemästeter Kalbsbraten von einer Zartheit und
Schmackhaftigkeit des Fleisches und aller Zutaten, wie ihn nur eine Holländerei
zu bieten vermag. Die Besprechung der Wirtschaftsverhältnisse, die Besichtigung
des Viehstandes und der Felder, auch wohl der Koffer und Schränke mit ihrem
Gehalt, ein Gang ins Holz, eine Besichtigung auch wohl des Lensahner
Herrenhauses, ein Gang an die Ostsee in Sütel, bildeten die Hauptunterhaltung.
Uns Knaben ging die Zeit nur zu rasch dahin. Dann kam die lange Rückfahrt bei
abgespannten Kräften, bei sinkender Nacht, oft bei scharfem Winde und hartem
Wetter auf offenem Wagen; ohne Schutzleder, Fußsack oder anderen Schutz als
höchstens einen losen "Mantel", einen weiten Überwurf, der oben am Halse durch
eine Spange mit Kette zusammengehalten wurde. Mit ganz erstarrten Gliedern kam
man oft von solcher Fahrt zurück, wußte aber nicht anders, als daß es sich so
gehörte.
Die
Heringsdorfer Verhältnisse bedürfen noch einer besonderen Erwähnung, weil sie
einen Einblick tun lassen in die ganze Enge, Einfachheit und Beschränktheit des
damaligen Bauernlebens selbst bei den sogenannten Eigenbauern, d.h. den
Grundbesitzern in den lübschen Stiftsdörfern, zu denen auch Heringsdorf gehörte.
Die "Stelle" des Heinrich Höper, der vor meiner Denkzeit gestorben ist, hatte
damals seine älteste Tochter, zugleich sein einziges Kind erster Ehe,
verheiratet mit Onkel Jungclaußen, der als Schreiber von einem benachbarten Gute
aus und als junger, stattlicher, gewandter Mann von einiger Bildung, leicht Herz
und Hand der Erbin gewonnen hatte. Sie hatten 3 Kinder, Heinrich, der zu meinem
Bruder, Wilhelmine, die zu meiner Schwester, Johannes, der zu mir im Alter
paßte. Die Wittwe von Heinrich Höper, Anna geb. Voss, meine Großmutter, lebte
seit lange auf dem sog. Altenteil in einem kleinen, bescheidenen Nebenhause mit
zwei Stuben, die zugleich vermöge des "Alkovens", d.h. der in die Wand
eingelassenen und mit einer Glastür geschlossenen Schlafstelle, als Schlafstuben
dienten. Die Ausstattung des Altenteils war eine ärmliche, wurde meist in natura
und so kärglich wie möglich geliefert. Von einer Überwachung richtiger
Ableistung der übernommenen Verpflichtungen gegen die Schwiegermutter und
frühere Eigentümerin war nicht die Rede; es haperte auch mit der Zinszahlung an
die beiden Schwägerinnen, meine Mutter und meine Tante Elsabe, nachmals
verheiratete Ohrt in Groß-Schlamin und später Heringsdorf. Wenn wir dann dort
besuchten, und meine Mutter, ihre älteste rechte Tochter mit uns durch den
schmalen Gang - noch erinnere ich seinen eigentümlichen Geruch und den Klang
unserer Tritte auf der Lehmdiele - in das kleine, bescheidene Zimmer mit
sandbestreutem, weißbretternem Fußboden traten, das von hoch angebrachten
Fenstern mit matt gewordenen Scheiben mäßig erhellt war, fanden wir sie
regelmäßig in ihrer Postille des Sonntags-Evangeliums lesend. Wenn sie uns
erkannt hatte, leuchtete ihr altes, gutes Antlitz freudig verklärt auf und an
den Worten: Gott, büs Du dat, mien Grethen! konnten auch wir Kinder den Ton der
Mutterliebe und Freude nicht verkennen. Auf die Frage meiner Mutter, wie es denn
gehe, fiel regelmäßig dieselbe Antwort, die sich mir für immer eingeprägt hat:
Ach, mien Grethen, wo schull't gahn? Bekümmert, besorgt, verzagt! Der nie
gehobene Grund lag in dem wenig erfreulichen Verhältnis zu den Besitzern der
Stelle, die sie, wie es scheint, kümmern und darben ließen, worüber sie aber zu
klagen nur gegen ihre rechte Tochter wagte. Nie erinnere ich, daß Großmutter mit
herüber gekommen wäre oder mit gegessen, auch nur Kaffee getrunken hätte. Auch
mein Vater kam bei seiner Schwiegermutter nicht; aus welchem Anlaß, weiß ich
nicht; nur erinnere ich, daß er die gute alte, immerhin beschränkte und
vorurteilsvolle Frau einmal im Zorn ein bitterböses Weib nannte. So hat sie bis
zum Jahre 1853 in ihrer stillen Kate ein völlig vereinsamtes, freudenleeres
Dasein geführt, von uns Kindern geliebt, weil unsere Mutter sie liebte, und
innig bemitleidet, da es ja auch uns nicht entgehen konnte, daß sie sich zu
keiner Lebensfreude mehr aufraffen konnte. Selten gingen wir von ihr, ohne mit
einem blanken 2 M- oder 3 M-Stück, 32 und 48 Schilling lübsch[57],
beschenkt zu sein, hamburgische, in Schleswig-Holstein nicht mehr umlaufende
Münzen Hamburger Prägung, vielleicht noch herstammend aus der Zeit, wo nach
ihrer Erzählung ihr "alter Herr" - so nannte sie ihren Mann, - aus Furcht vor
der Aushebung nach Hamburg entwichen war und dort als Kutscher gedient hatte.
Dabei mutete uns ihre gänzlich unverdorbene, plattdeutsche Rede fremdartig an,
obwohl auch wir ja plattdeutsch im Hause sprachen, abgesehen von dem Vater, der
mit mir und auch meiner Schwester hochdeutsch sprach. Sie verwandte mit
unbewußter Beredsamkeit oratorische Figuren mit Vorliebe; außer der Häufung von
drei Sinnverwandten, die schon oben erwähnt, ist mir auch die Dreizahl: "dood un
weg un ut de Weld ut" im Gedächtnis geblieben. Ja, sie konnte, wie auch unter
Umständen meine Mutter, sich zuweilen zu wahrhaft dichterischem Schwunge
erheben. Ihr Elternhaus in demselben Dorfe, zur Zeit im Besitze ihres Bruders,
eines ganz schweigsamen Alten, den ich nie anders als mit der Pelzmütze auf dem
Kopfe und der langen Kalkpfeife im Munde hinter seinem Tische in der kleinen
Wohnstube gesehen zu haben erinnere, trug die Züge der alten Zeit noch
ausgeprägter an sich: ein echtes sächsisches Bauernhaus ohne Schornstein mit 2
Wohnräumen an der großen, rauchgeschwärzten, speckbehangenen Diele - dem
*******[58],
atrium, the hall - und der sog. "Kemna"[59],
einem mehr Pack- und Vorrats- als Wohnraum, dessen sonst mir nirgends
vorgekommene Benennung vielleicht mit kemenate zusammenhängen mag. Wie eng und
bange der Sinn der Menschen gewesen sein mag, die in diesem dunklen, von Bäumen
verdüsterten Hause, in diesen ärmlichen und niedrigen Wohnräumen groß geworden
und lebten, ließ sich an dem Hause selbst schon ermessen. Die Frau des alten
Onkel Voß hat bis in ihr Alter die Furcht vor dem Gewitter nicht los werden
können und versteckte sich wie ein Kind in Decken und Kissen. Den ihnen im
Jünglingsalter entrissenen einzigen Sohn hat sie aber so wenig je verschmerzt
wie meine Mutter ihre Tochter Doris. "Bekümmert, besorgt, verzagt" ist das träge
sächsische Blut auch in jüngeren Geschlechtsfolgen
geblieben.
In
einer Reihe von Häusern kam mein Vater allein und zwar meist erst nach
Feierabend, im Winter bei dunkler Nacht, so beim Pastor Petersen, beim
Oberförster Vogel, als oft notwendiger Dritter oder Vierter beim Spiel, zu Fuß
oder zu Pferde bei jedem Wetter und Wege rasch bereit; am häufigsten auf
Wahrendorf bei dem jüngsten unter den schon erwähnten Schwerdtfegern, bei denen
er überhaupt einen großen Stein im Brette hatte. Hier ward er auch zu den großen
Festen geladen, die sich in diesem, wie es schien, unerschöpflich reichen Hause
rasch einander folgten. Alle Schwerdtfeger machten ein großes Haus und, - wenn
ich von dem ununterbrochenen Getriebe der gemachten oder empfangenen Besuche
hörte, das stattliche Gefährt, gezogen von einem kräftigen Viergespann,
daherrollen sah, so glaubte ich alle Mal den reichen Mann der Bibel zu sehen,
der alle Tage herrlich und in Freuden lebte[60].
In so vornehmer Gesellschaft wußte mein Vater, da sie der Mehrzahl nach an
Bildung nicht wesentlich höher stand und ihm großes persönliches Vertrauen
zuwandte, sich mit Sicherheit zu bewegen, obwohl ihm an den auf seine Kosten
gemachten Späßen das Bewußtsein der gesellschaftlichen Überlegenheit der Wirte
und seiner sonstigen Gäste merkbar werden mußte. Ich hatte, als ich einmal
mitgenommen und Zeuge davon war, meine eigenen Gedanken
dabei.
Diesem
Verhältnis zu den Schwerdtfegern verdanke ich eine meiner ersten größeren
"Reisen", zu denen mein Vater, weit mehr als Standesgenossen und Verwandte
sonst, immer Zeit, Geld und Lust zu haben pflegte. Das war ein Besuch bei dem
ältesten Schwerdtfeger auf Wensin, einem schönen, unweit Segeberg, an dem
langgestreckten Warder- oder Rohlstorffer- oder Wensiner-See gelegenen Gute.
Gewaltig imponierte mir das große alte Herrenhaus mit Doppeldach und Giebel
unmittelbar am See. Sehr freundlich und durchaus als Ebenbürtige wurden wir
aufgenommen. Die mir ziemlich gleichaltrigen jüngeren Söhne, namentlich
Heinrich, mit dem ich auch später noch auf der Schule wieder zusammengetroffen
bin, suchten mir alles mögliche Vergnügen zu machen. Sie setzten ohne weiteres
voraus, ich sei auch ein Gutsbesitzer-Sohn; nur das wollten sie gern wissen, ob
mein Vater auch wie der ihrige zwei Güter hätte. Ich war viel zu blöde, mit der
Wahrheit herauszukommen, und entschlüpfte durch ein zweideutiges Nein. Im
Stillen war ich voll Staunen über den großartigen Zuschnitt, in dem das Leben
hier geführt wurde. Jedes der zahlreichen Kinder hatte sein eigenes Zimmer. Alle
zusammen verfügten über einen vollständigen dreistühligen, nur in kleinerem
Maßstab gehaltenen "Cur"-Wagen[61],
der von 4 Eseln gezogen und von einem der Brüder geleitet wurde. Noch mehr
wunderte ich mich, nicht ohne Beschämung und gute Vorsätze über die in unserem
Hause nicht heimische Verträglichkeit der Geschwister unter einander. Es kam
vor, daß sie sich erzürnten, ja, mit Peitschen hieben; aber im nächsten
Augenblicke reichten sie sich versöhnt die Hände.
Zu
den größeren Reisen gehörte auch die nach dem 5 Meilen entfernten Lübeck mit
seinen hohen, in unserer Nachbarschaft sichtbaren, aber, soweit ich weiß, doch
nie mit Bewußtsein gesehenen Türmen. Um von ihnen oder den Altertümern der
Stadt, ausgenommen das Holstentor, einen Eindruck zu haben, war ich noch zu
klein. Im Gedächtnis blieb mir nur die großartige Wirtschaft im Gasthof "zu den
fünf Türmen", wo wir wohnten, weit über unsere Verhältnisse, - und das
Wachsfiguren-Cabinet, in dem die Schweiß triefende und sich abwischende
Tänzerin, der Sultan mit den schönen Prinzessinnen, die sich links und rechts
umsahen, mir unbegreifliche Wunder deuchten.
Eine
wahrhafte Unternehmung aber schien mir die Reise nach Hamburg, zu der lange
vorher zugerüstet wurde. Ich las die Gesänge des
schleswig-holsteinischen-lauenburgischen Gesangbuches, die hier für solche Fälle
geboten werden; denn es war mir nicht gewiß, ob man von einer solchen Reise mit
heiler Haut zurückkommen würde. Natürlich wurde die Reise in den Winter verlegt;
im Sommer hat der Holländer keine Zeit. An einem Februar-Tage, wohl Mitte der
30-ger Jahre, auf offenem, mit zwei tüchtigen Braunen bespannten
Stuhlwagen[62]
ohne den, für uns noch nicht erreichbaren, Luxus der Federn fuhren wir ab, früh
Morgens 5 Uhr. Als der Tag anbrach, waren wir schon bei Eutin. Das Wetter war
kalt und neblig, und der Nebel ging zuletzt in einen feinen, durchdringenden
Regen über, und tüchtig durchnäßt kamen wir schon früh am Nachmittage in einem
meinem Vater von früher her bekannten, einfachen Wirtshause am Ende der nach
Hamburg führenden Straße an. Wir wurden mit wahrer Gastfreundlichkeit empfangen,
vortrefflich bewirtet und gepflegt, unsere Kleider und Schuhe getrocknet, kurz
als Bekannte und Freunde in einer Weise behandelt, die ihres Eindruckes auf uns,
besonders auch meine Base Dora Wiese, meine Schwester Doris und mich nicht
verfehlte und heutzutage in den Wirtshäusern nicht mehr üblich ist. Am anderen
Tage ging's weiter durch die verrufene Segeberger Heide, eine öde, unbewohnte
Gegend mit so schlechten und von dem Regen verschlimmerten Wegen, daß oft
sämtliche der mehreren, neben und durch einander laufenden Geleise kleinen Seen
glichen, durch welche die Pferde den nicht sehr schweren Wagen nur mühsam weiter
schleppten. Schon waren sie nahe daran, zu ermatten, als zu unser aller großen
Erleichterung der Eppendorfer Steindamm bei sinkendem Tage erreicht wurde. Mit
weit geöffneten Augen kamen wir durch das Dammtor, an dem großen
Theater[63]
vorbei, auf dem Gänsemarkt an und nahmen Herberge in "Stadt Kiel". Zwei Tage
hatten wir gebraucht hin, zwei brauchten wir her, der Aufenthalt dort wurde auf
die Hälfte der viertägigen Reise, 2 Wintertage festgesetzt; mehr konnte es nicht
leiden. Von dieser Zeit gingen nun noch die Besuche ab; bei Adolf, dem schon
ansässigen der drei Söhne unserer Tante, die bei ihm lebte, kamen wir
unerwartet, einander, abgesehen von meinem Vater, unbekannt, zu größter
Überraschung an. Die Entzweiung war ausgeglichen, ich weiß nicht, wann und wie,
Tante Jansen noch eine kräftig, fast jugendlich aussehende Frau mit ergrauendem
Haar und sehr redegewandt, fiel meinem Vater mit großer, uns ungewohnter Rührung
und Zärtlichkeit um den Hals und konnte sich, wie es schien, von ihrer Bewegung
lange nicht erholen. Ihr Mann, der für sich lebte, kam auch, seinen Bruder zu
sehen; er erschien gedrückt und schwer und fühlte sich wohl überflüssig. Die
Verhältnisse hatten für uns nichts Anmutendes, und der ganze Ton der Familie
berührte uns fremd.
Für
die Sehenswürdigkeiten Hamburgs behielten wir begreiflich nur kurze Zeit übrig,
und ist, abgesehen von dem Gesamteindruck der großen Stadt mit den ganz neuen
Erscheinungen des Straßenlebens, dem Menschengewühl, den wandernden und rufenden
Verkäufern, den Fenster-Läden u.s.w. kaum etwas anderes im Gedächtnis geblieben
als der Mastenwald vom Stintfang aus gesehen und der Alster-Pavillon[64]
mitten im Wasser. Mein Vater, ein großer Theaterfreund, führte uns auch ins
Stadttheater, wo wir, wenn ich nicht die Zeiten verwechsele, "das Leben ein
Traum"[65]
und die später ganz verschollene Oper Guido und Ginevra[66]
gesehen haben. Von beiden weiß ich nichts anderes, als daß mich eine Mondnacht
auf der winterlichen Straße von Florenz durch die unbegreifliche Kunst ihrer
Herstellung gewaltig in Verwunderung setzte. Ich kam nach Lensahn und zu meinen
Freunden mit dem Bewußtsein zurück, ein weitgereister Mann zu
sein.
Der
Ausdruck "Freund" legt mir noch eine Bemerkung nahe, die hier so gut wie
anderswo ihren Platz finden kann, über die Freundschaft im Knabenalter. Nach
meiner, freilich nicht maßgebenden, Erfahrung, lebt der Begriff der Freundschaft
in der Idealität, wie er in Romanen und Sekundaner-Aufsätzen erscheint, in der
Wirklichkeit nicht. August Grundmann, ein anspruchsloser, unbewußter Knabe von
einer gewissen Komik und Ergötzlichkeit - er wurde Kaufmann, setzte sich in
Lensahn und kam gut fort, hat aber nachher freiwillig geendet - und Ludwig
Reimers, mein langjähriger Schulgenoß, wenig begabt und mit einem starken
Bewußtsein des väterlichen Wohlstandes uns gegenüber ausgestattet, den er weder
zu vermehren noch auch nur zu erhalten verstanden hat - können in dem
bescheideneren Sinne des Wortes wohl als meine Kindheitsfreunde gelten. Wir
waren ziemlich immer beisammen, so oft wir konnten, spielten vortrefflich mit
einander, schimpften und vertrugen uns, bis unsere Wege uns ohne sonderliche
Gemütsbewegung auseinander führten. Eine gewisse Anhänglichkeit haben wir auch
später für einander bewahrt. Ein lieberer
Spielgefährte als alle beide war mir unser mehrjähriger Gänsehirte Claus
Lembke, Sohn eines Tagelöhners im Dorfe Lensahn. Seine stille, sichere und
naturwüchsige Art sagte mir ungemein zu, und nichts Schöneres kannte ich, als
mit Butterbrot, Äpfeln, Nüssen u.a. gut ausgerüstet mit ihm zu Felde zu treiben
und ganze Nachmittage dort mit ihm zu verleben. Das Erzürnen blieb auch zwischen
uns nicht aus. Dann offenbarte dieser 11-12jährige Knabe die ganze Anschauung
des großen Kreises der Arbeiter, dem er angehörte, die Anschauungen, kurz
gesagt, welche heutzutage in die Lehre und zu dem Evangelium der
Sozialdemokratie zusammengefaßt und ausgebildet sind: von dem unverdienten
Geschick der "Enterbten", dem Unrecht der "Großen", und dem über kurz oder lang
bevorstehenden Ausgleich, den die Gerechtigkeit fordere. Die Großen - zu denen
ich mich und uns garnicht einmal gerechnet haben wollte - hielt er für lauter
Bösewichte, den kleinen Mann für ein Muster aller Tugenden. Der Sozialismus ist
nicht erst von gestern; neu ist seine Organisation zu einer politischen Partei
mit praktischen Zielen.
Ehe
ich die Kindheit verlasse, will ich doch noch zur Charakteristik der
Erziehungsweise, unter der ich groß geworden bin, einige Belege hier
hinzufügen.
Ich
war von meiner Mutter, ohne die ich als Kind garnicht zu leben vermochte und in
Weltverlassenheit zu vergehen meinte - einmal vollführte ich im Suchen nach ihr
auf dem ganzen Hofe ein solches Geschrei, daß auch sie, als sie zurückkam,
einmal zum Stock griff, wohl das einzige Mal in ihrem Leben - offenbar sehr
verzogen, so daß ich schon früh die Erfüllung aller Wünsche von ihr auf eine
oder die andere Weise zu erreichen verstand. Nun gab es aber doch auch einmal
solche, die sie nicht recht zu verwirklichen wußte. Dann griff sie, zu einer
runden Abweisung und wirksamen Begründung derselben nicht imstande, zum sog.
"Vorschnacken", d.h. auf deutsch zur Lüge und Täuschung, wie sie denn auch gegen
andere, z.B. ihren Mann oder später ihren ältesten Sohn die Unwahrheit mit einer
Unbefangenheit als Kampfmittel verwandte, daß sie von der Verwerflichkeit
derselben kein Bewußtsein gehabt haben kann. Ich faßte nun sehr oft zu schönen
Dingen, Messer, Handstock, Peitsche, Wagen u.a. eine dermaßen leidenschaftliche
Begier, daß meine Mutter mich nicht zu beruhigen vermochte. So war ich lange
Zeit auf eine Uhr versteuert, und da ich, wie erwähnt, vom Vater kurz abgewiesen
war, steckte ich mich hinter die Mutter. Sie wagte es nicht, wirklich eine zu
kaufen, ebenso wenig, nein zu sagen, sondern teilte mir mit, sie habe den
Frachtfuhrmann, der aus ganz Land Oldenburg wöchentlich einmal die Butter-Tonnen
nach Hamburg fuhr, beauftragt, mir
von dort eine mitzubringen. Sie blieb aber aus. Bald sollte er sie vergessen
haben, bald noch nicht fertig gewesen sein; eines Freitags sollte sie endlich
ganz bestimmt ankommen. Mutter machte sich durch einen Besuch aus dem Staube;
ich sollte aufpassen, wenn er käme, und ihn fragen, ob er für Mutter nichts
mitgebracht hätte, nicht, ob er die Uhr mitgebracht hätte. Es geschah; der
Fuhrmann sah mich etwas zweifelnd an und antwortete mit einem trockenen Nein.
Mutter schob natürlich die Schuld auf ihn, aber sie hatte einmal wieder 8 Tage
Ruhe. So ging das Spielen mit meinem Vertrauen fort, bis ich ermüdete und andere
Gedanken mich abzogen.
Noch
besser als meine Mutter verstand das Vorschnacken ihre Schwester Elsabe, die
mehrere Jahre, meine ich, wohl nicht zum Vorteil des ehelichen Verhältnisses, in
unserem Hause lebte; denn sie war eine kluge und vielgewandte, auch witzige und
redefertige Frau. Die wußte mich Jahre lang immer wieder unverdrossen aufs neue
glauben zu machen, daß die Erfüllung meines höchsten Lieblingswunsches, nach
einem "Norker"[67],
wie wir die kleine nordische Pferde-Gattung nannten, durch sie in allernächster
Zeit sicher bevorstehe. Das Undenkbare habe ich im Glauben, sie im Lügen
geleistet; es ist mir nicht erinnerlich, daß ich je zur vollen Einsicht gekommen
wäre: der Gedanke an den Norker war zu schön!
Entgegengesetzt,
aber ebenso wenig richtig war die Weise meines Vaters: abhärten, beugen,
brechen, niederdrücken waren seine Mittel; er konnte in solchen Grundsätzen hart
und grausam und aus lauter Gerechtigkeitsliebe ungerecht werden. Einst zu Heises
auf Güldenstein, wohin ich sonst trotz meiner unaussprechlichen Blödigkeit gern
ging, wollte er mich mithaben. Ich machte Schwierigkeiten, weil ich keinen
ordentlichen Rock hatte. Nun hatte ich freilich so eine Art Überzieher mit einem
Kragen; den sollte ich anziehen. Mit strömenden Tränen machte ich
Gegenvorstellungen; umsonst: ich mußte im Überzieher mit. Bis dicht an den Hof
kam ich aus dem Weinen und Schluchzen nicht heraus. Mein Vater blieb unerweicht.
Die Knaben dort wollten mich sofort vom Überzieher befreien; ich wollte nicht;
sie erneuerten immer wieder ihre Versuche; mit der Wahrheit wagte ich nicht, zu
Tage zu kommen. Ich mag eine schöne Figur gespielt haben. Die Berechtigung der
väterlichen Gewalttat vermochte ich schon damals nicht
einzusehen.
Geradezu
gram und zwar auf lange Zeit wurde ich meinem Vater bei einer anderen
Gelegenheit. Einen großen Teil meiner freien Zeit pflegten wir bei den
Dienstboten, insonderheit bei dem Böttcher in der Böttcherkammer zu verbringen.
Sicher nicht zu unserem Besten. - So hatte ich auch wieder einmal mein Wesen bei
Hans Schöning aus Kabelhorst, der früher bei uns gedient hatte und jetzt in
Tagelohn arbeitete. Aus Wort- und Tat-Späßen wurde, wie es zu gehen pflegt,
allmählig Ernst; er packte mich und steckte mich lange, den Kopf voran, in eine
eben fertig gewordene Buttertonne. Ich schrie und wurde bös; als er mich endlich
losließ, lief ich schnupfend und wutentbrannt davon, ergriff den ersten Stein
und traf ihn am Arm. Wie schwer oder leicht, weiß ich nicht. Jedenfalls packte
er seinen Kram zusammen und ging davon. Als mein Vater zurückkam von einer
Ausfahrt und Schöning nicht mehr vorfand, mußte ihm das Vorgefallene mitgeteilt
werden. Ohne mich und den anderen, mindestens ganz gleich schuldigen zu hören,
ging er in den Garten, schnitt zwei nicht ganz dünne Stöcke und prügelte sie in
der Vorderstube auf meinem Rücken entzwei. Da ich mich nicht allein schuldig
fühlte, die Bedeutung der Verletzung wahrscheinlich absichtlich übertrieben war,
erfüllte mich diese Züchtigung - ich war im 15. Lebensjahre - mit einem tiefen
Groll gegen meinen Vater, den ich durch Schweigen und Fernhalten kundzugeben
nicht vermied, während sein Verhalten nach verrauchter Hitze deutlich genug Reue
und Bedauern bezeugte. Es dauerte lange, ehe ich die erfahrene Unbill wieder
vergessen hatte.
Es
war aber die Art meines Vaters, in ähnlichen Fragen Partei zu nehmen für die
Fremden gegen die Seinen. Unbegreiflich wird jedem auch folgende Tatsache
erscheinen. Da die oben erwähnten Groß-Onkel und Tante Voß nach dem Tode ihres
Sohnes unbeerbt blieben, so mußte die Stelle, 80 Tonnen[68]
besten Landoldenburger Bodens, an die beiden Töchter seiner einzigen Schwester,
meine Mutter und Tante Elsabe fallen. Nun war ja mein Bruder Landmann und zum
Antritt der Stelle wie berufen. Meine Tante Elsabe aber kümmerte damals mit
ihrem Mann, Onkel Ohrt, dem früheren Schreiber auf Lensahn, - den ich später,
wie er leibte und lebte, in Fritz Reuter's Onkel Jochen wiederfand - auf einer
Pachtbauernstelle in Gr.-Schlamin. Überdies hatte sie infolge einer schweren
Entbindung von einem toten Knaben ein schweres Leiden, dick geschwollene und
wunde Beine - wie sich zeigte - für ihr ganzes Leben zurückbehalten und konnte
wohl das Mitleid herausfordern. Aber wir wußten ja auch nie, wie bald wir "in
der Kate säßen", was sollte mein Bruder als Landmann ohne Vermögen anfangen, wer
sollte später für meine Schwester oder für meine Mutter sorgen? Der
Billigkeits-Anspruch war für beide Schwestern, zumal da Tante Elschen unbeerbt
blieb, vollkommen ebenso gleich wie der Rechts-Anspruch. Was tat aber mein
Vater? Er ruhte nicht eher, als bis Onkel Voss und seine Frau, Elschen-Tante,
die Stelle vermacht hatten ohne eine Abfindung auch nur an meine Mutter - die an
meine Großmutter soll in Zucker und Kaffee abbezahlt worden sein - und ohne die
so nahe liegende Einschränkung, daß nach ihrem Tode der Besitz an die Familie
zurückfiele, von der sie herstammte. So vermachte Tante Elschen später die
Stelle an ihren Mann, einen Wert von leicht 30-35000 M. Als der starb, mußten
dann freilich seine Erben, die Geschwister Ohrt, an die Kinder seiner
Schwägerin, mich und Wilhelm, eine Abfindung von 2500 *[69]
zahlen.
So
war meine Kindheit; eine Zeit vieler Freuden, aber auch schweren Druckes und
tiefen Leides, die Jahre des Menschen, in denen zu seinem künftigen Wohl oder
Wehe die verborgene, aber unausbleiblich aufgehende Saat, sei es von ihm selbst,
sei es von anderen gestreut wird. Tragisch ist des Menschen Los, das wußte am
besten das lebensfroheste Volk, das je sich des Lichtes freute, die Griechen.
Schuld und Unschuld mischen sich und durchdringen sich ununterscheidbar und
unentwirrbar. Wie mancher hat den Grund zu dem Unheil seines ganzen Lebens
gelegt zu einer Zeit, als ihm noch keine Ahnung von der Macht des Bösen
aufgegangen war. Wo sollten wir bleiben ohne das ewige
Erbarmen?
Schule
und Universität
Ostern
1839 brachten mich mein Vater und mein Lehrer nach Lübeck.
Mit
welchem Hochgefühl ich auf die gelehrte Schule ging, mit welcher Ehrfurcht ich
dem Direktor Jacob nahte, von wie guten Entschlüssen und Vorsätzen ich erfüllt
war, kann ich garnicht sagen. Ich wollte ernstlich ein guter und hoffte auch ein
gelehrter und tüchtiger Mann zu werden. Es drückte mich nur wenig, daß der
Direktor nach dem Bericht meines Lehrers von meinem Wissen, Können und meiner
Begabung Bedenken trug, namentlich des Griechischen wegen, mich in die Tertia zu
setzen, wohin ich nach meinem Alter und meiner Körpergröße gehört hätte. Wie
sich bald zeigte, hätte er es ohne Bedenken tun können. So mußte ich mit fast
lauter kleinen das Griechische von vorn noch mal wieder anfangen. Alles wurde
mir auf diese Weise leicht und, da ich mit eisernem Fleiße alle Aufgaben unter
Aufbietung aller Zeit und Kräfte machte, war ich nach meinen Leistungen bald
einer der ersten der Klasse, mußte aber dennoch, da es halbjährliche
Versetzungen nicht gab, geduldig bis nächsten Ostern aushalten. Freundliche und
gute Lehrer hatte ich, besonders an dem Klassenlehrer, Kollaborator[70]
Evers, der Latein und Deutsch lehrte. Er war eine lebhafte, etwas erregte Natur,
noch nicht lange verheiratet und angestellt und damals strahlte sein Gesicht, so
schien es, nur von Glück, Lebensfreude und gegen seine Schüler von herzlichstem
Wohlwollen. Mir war er bald sehr gewogen, und auch ich liebte ihn sehr, mehr als
ich je ihm kundgetan habe. Mit dem größten Schmerze erfuhr ich manche Jahre
später, Anfang oder Mitte der 50-ger Jahre, daß er in einem Anfall tiefer
Schwermut und nervöser Erregung freiwillig geendet hatte. Parteiisch fand ich
den Dr. Ernst Deecke, einen geistvollen und gelehrten Mann mit einem besonders
schönen Kopfe, dem ich trotz äußersten Fleißes keine Anerkennung abzugewinnen
vermochte. Er hat sich in der gelehrten Welt wohl bekannt gemacht, mehr noch
sein Sohn, der Etrusker. Seine freie Richtung im Christentum, die er nicht
verhehlte und die ich sofort erkannte, stieß mich ab, da er von der mir durch
Reimers gegebenen Richtung in sehr herabsetzenden Ausdrücken sprach. Ein Stück
Altertums war der würdige "College" - so lautete sein Titel, - Poser, der die
Mineralogie in kurzen Sätzen diktierte und in der nächsten Stunde einen jeden
das Diktat von Anfang bis zu Ende verhörte. Er war ein kleiner, untersetzter,
freundlich und gütig aus blauen Augen und gerötetem Gesichte blickender Mann,
großer Freimaurer, der aber doch auch die nötige Zucht mit dem Rethstocke
aufrecht zu halten nicht scheute. Völlig zuchtlos ging es her bei Herrn
Roquette, der von einem Franzosen nichts als den Namen hatte und längst in dem
Kampfe gegen die Unarten und Unordnung seiner Klasse auf den Stand der Entsagung
zurückgegangen war. Unglaubliches wurde ihm zu meiner unaussprechlichen
Verwunderung geboten. Später habe ich selbst die Ungezogenheiten
mitgemacht.
Zu
meinen Mitschülern, obwohl sie um mehrere Jahre jünger waren, gewann ich von
Anfang an ein gutes Verhältnis; Versuche, mich als so großen Menschen,
vielleicht auch wegen meiner sehr ländlichen Kleidung zu hänseln, erstickte ich
im Keime; selbst den Tertianern, ein Jahr später, ist es nie gelungen, mir die
üblichen Fuchsprügel anzubringen; ich war ihnen zu stark und zu gewandt. Mein
nächster Nachbar war ein vornehmer junger Herr, von Schack, Sohn des damaligen
Bundestagsgesandten; ob der berühmte Schriftsteller und Kunstfreund von heute,
weiß ich nicht. Näher traten wir uns begreiflich nicht; er schloß sich sehr an
die Spanier aus Südamerika an, die damals in Lübeck zahlreich und meist bei den
Lehrern der sog. B-Klassen des Realgymnasiums wohnten. Ihre Sprache lernte und
bewunderte er.
Schon
nach sehr kurzer Zeit wurde ich von heftigem Heimweh ergriffen. Ich zählte, oft
unter Tränen, die Tage, die mich noch von den kurzen Pfingstferien trennten. Das
Glück des Wiedersehens erschien mir so groß, daß ich kaum zu hoffen wagte, es zu
erleben. Hesel[71],
Sohn des Bürgermeisters von Heiligenhafen, wollte mit mir zusammen reisen. Dann
kündigten sich auch noch die Vettern aus Altona zum Besuche bei ihren Oheimen
und Muhmen an. Endlich kam der ersehnte Tag, der 19te Mai 1839. Wir fuhren
zuerst nach Parin, dann des Nachmittags weiter. Der Frühling hatte eben die
Erde, und die Wälder insonderheit, mit dem ersten zarten Grün geschmückt, die
Sonne lachte unbewölkt, die ganze durchfahrene Gegend gehört zu den lieblichsten
Holsteins; die Freude der Ferien, des Wiedersehens gewann in meinem Herzen eine
Macht, daß ich wie von einem Rausche ergriffen ward und auf dem Wagen in einer
mir selbst unbekannten und wunderbaren Ekstase fast wie mit Zungen redete. Eines
ähnlichen Zustandes weiß ich mich im Leben nicht zum zweiten Mal zu erinnern.
Nur zu rasch flogen die 4 Tage dahin. Am Donnerstag schon begann der Unterricht
wieder. Das Heimweh packte mich nach dem Freudenrausche mit verdoppelter Gewalt
und ließ mich lange nicht los. Jahre lang und am meisten nach der Rückkehr aus
den Ferien hatte ich mit dieser zwar nicht tödlichen, aber doch recht schweren
Krankheit zu kämpfen.
Eine
recht ernste Krankheit befiel mich im Februar 1840, ein Nervenfieber, das mir
zum Glücke für einige Tage das Bewußtsein verdunkelte. Daß meinen Eltern
Nachricht gegeben würde, wollte ich nicht, um sie nicht zu beunruhigen. Als sie
endlich wegen allzu lang ausbleibenden Briefes nachfragten, war ich zum Glück
schon so weit, um ihnen das Überstandene melden zu können. Das Verheimlichen
fand begreiflich nicht ihre Billigung. Es war abgesehen von den Frieseln auf
Christianstal die einzige ernste Krankheit, die mich in meinem Leben betroffen
hat. Die körperliche und seelische Wonne des Genesungs-Gefühles kann ich nicht
schildern.
Obendrein
ging es den Osterferien entgegen, vor deren Eintritt ich am
Palmsonntage[72]
bei dem Pastor von St. Marien, D. Funck, eingesegnet werden sollte. Der
Sonnabend vor Palmarum war herangekommen; jeden Augenblick konnte ich meine
Eltern erwarten. Da ward ich zu Pastor Funck gerufen. Er machte mir eine
Mitteilung, die mich wahrhaft niederschmetterte, zugleich auf das tiefste
empörte: der Lensahner Pastor Petersen habe soeben gegen meine Konfirmation
Einsage getan!
Pastor
Petersen in Lensahn, der bekannte Herausgeber der Provinzial-Nachrichten, ein
sehr gescheuter und aufgeklärter Mann, aber mehr Advokat als Theologe, war mit
seiner Gemeinde ziemlich zerfallen und hatte unter den Honoratioren keinen
einzigen, mit dem er nicht in entschiedener Feindschaft gelebt hätte. Zum
vielgespielten Lhombre hatte er auch meinen Vater oft in seinem Hause gesehen.
Dann hatte er, erst im Scherz, darauf ernstlich laut eines irgendwo
aufgefundenen Paragraphen ein Opfer an Butter gefordert, selbst im Genuß einer
großen Landstelle, aber nicht erhalten. Das war der erste Anlaß zur Feindschaft.
Sie wurde ernstlicher, als mein Vater durch den Mißbrauch der Kanzel zu
gelegentlichen Strafreden, die ein Lachen der andächtigen Versammlung zur Folge
hatten, nicht bloß mehr aus seinem Hause, sondern auch aus seiner Kirche
fernblieb und sich von dem Visitatorium[73]
die Erlaubnis auswirkte, einen anderen Beichtvater zu wählen. Ärgerliche
Auftritte, einmal Tätlichkeiten mit einem Kesselflicker, ein anderes Mal mit dem
Arzte Dr. Völckers kamen hinzu. Nun hatte er erfahren, daß "der Bursche" - so
nannte er mich in seiner Einsage an D. Funck - in Lübeck, also im Auslande
konfirmiert werden sollte, wohl auch erfahren oder doch sicher vermutet, daß
meine Eltern am Sonnabend dahin abreisen würden und das Eintreffen der Einsage,
die er auf einen alten Paragraphen gründete, der für einen solchen Fall die
Erlaubnis des betreffenden Predigers vorschrieb, so berechnet und geleitet, daß
die heilige Handlung mir und meinen Eltern gänzlich gestört werden mußte. Die
Erlaubnis zu beschaffen war selbst für einen Eilboten nicht möglich; ohne
dieselbe wagte Pastor Funck, der selbst mit dem Rate nicht zum besten stand und
ihm Unannehmlichkeiten von Seiten der dänischen Regierung zu bereiten fürchtete,
die Einsegnung nicht zu vollziehen. Wir mußten unverrichteter Sache nach Hause
fahren. Als der Prediger der Feindesliebe seinen boshaften Zweck erreicht hatte,
erfolgte die Gewährung auf meine mit unwahrer Unterwürfigkeit abgefaßte Bitte
sofort. Würdiger wäre es gewesen, wenn ich meiner Entrüstung über diese
berechnete Bosheit vollen Ausdruck gegeben hätte. Später hat es mein Vater
nachgeholt. - So bin ich am 27. April in der Sakristei der Marienkirche vor
wenigen Zeugen allein konfirmiert. Meine Stimmung und Seelenverfassung drückte
sich in den Worten aus, die ich auf dem Kirchhofe vor mich hin ausgesprochen zu
haben mich erinnere: "Dein auf ewig!" Ich hatte es in der Tat damals zu einer
großen inneren Ruhe und Freudigkeit gebracht. Zu bewahren habe ich sie nicht
vermocht.
Ich
war nach Tertia versetzt, die erste der Oberklassen, die auch in einem
besonderen Teile des alten Catharineum-Klosters untergebracht waren. Mehrere
neue Lehrer hatte ich kennen zu lernen. Klassenlehrer war Mosche, Sohn des
bekannten früheren Direktors, ein ganz tüchtiger, jedoch etwas hölzerner und
ernst blickender Mann, für Lateinisch und Deutsch. Mit einiger Angst sahen wir
dem Klassenlehrer von Sekunda entgegen, dem Professor Dr. Wilhelm Ackermann,
genannt "Kephalides", einen geistvollen und gelehrten, aber zum Unterrichten und
Korrigieren etwas bequemen Mann von großer und breiter Gestalt und einem
auffallend starken Kopfe. Seine Zornreden und Zurechtsetzungen waren gefürchtet,
seine Anerkennung aber wurde nicht selten in ebenso kräftiger Rede laut. Er gab
nur Geographie, die er durch Schilderungen selbstgesehener Gegenden und
Naturverhältnisse zu einer fesselnden Unterrichtsstunde zu gestalten wußte.
Einst fragte er nach den Ursachen der Winde; mehrere wurden angegeben; er wollte
noch eine weitere wissen; es entstand eine Stille; da wagte ich zu sagen, was
ich in der Tat mit eigenem Nachdenken gefunden hatte: Die Umdrehung der Erde.
Mit hoch erhobener Stimme rief Kephalides halb mir, halb den anderen zu: Brav
geantwortet! Der denkt! In seinem Gesichte malte sich eine große
Freude.
Den
Aufgaben und Anforderungen der Klasse auch für andere Fächer vermöge meiner
vollen Reife und entwickelteren Auffassung völlig gewachsen erhielt ich alle
drei Male ein Zeugnis des ersten Grades und wurde, obwohl der Kursus zweijährig
war, wohl mit in Anbetracht meines Alters und meiner in Quarta z.T. verlorenen
Zeit Ostern 1841 nach Sekunda versetzt. Meine Freude und mein Hochgefühl war um
so größer, als ich mir trotz der Prophezeiungen meiner Mitschüler Hoffnung
darauf nicht gemacht hatte.
In
Sekunda bekamen wir fast lauter neue Lehrer, unter ihnen die beiden ersten der
Anstalt, den Professor Johannes Claßen und den Direktor Friedrich Jacob, beide
in der Gelehrten- und in der Schulwelt vorteilhaft bekannt. Claßen, Hamburger
von Geburt, dort später auch mehrere Jahre Direktor des Johanneum und erst vor 2
Jahren im höchsten Alter gestorben, war als Erzieher des jungen Marcus Niebuhr
und durch Niebuhr's Empfehlung, selbst schon als junger Mann ausgezeichnet,
zuerst als Privat-Dozent nach Kiel gegangen und dann nach Lübeck berufen; eine
schlanke, schmächtige Gestalt, blond, aber mit schon fast völlig kahlem Scheitel
und Vorhaupt, von großer Lebendigkeit, umfassender Gelehrsamkeit und einer
seltenen Beherrschung des Griechischen, das ihm in den beiden oberen Klassen
zugewiesen war. Ehrfurcht gebietend schon durch seine ganze Erscheinung, trat
mir jetzt der Direktor Jacob zum ersten Male näher; eine kräftige und voll
ausgewachsene Männergestalt in lang herabreichendem Rocke, von gerader, strammer
Haltung, mit einem fein geschnittenen Gesicht von scharf zusammengenommenem
Ausdruck, hoher Stirn und kurzem, klein-lockigem, leise ergrauendem Haar, das
Halstuch nach Goethe'scher Art oben durch eine Tuchnadel zusammengehalten,
überhaupt in seiner ganzen Erscheinung an diesen großen Dichter erinnernd, den
er von allen am meisten in sein Herz geschlossen und zum Gegenstand einer Art
Verehrung gemacht hatte. In Halle geboren, erzogen und gebildet, der mittlere
von drei Brüdern, die alle einen guten Namen gewonnen haben, war er zuerst in
Königsberg neben Lachmann, seinem Freunde, an der Schule wirksam gewesen und
1831 mitten in dem ersten Cholera-Schrecken und Cholera-Krieg[74]
nach Lübeck gekommen. Er beherrschte die lateinische Sprache wie Claßen die
griechische, war aber auch in allen anderen Fächern, Literatur und Geschichte
alter wie neuer Zeit gründlich beschlagen, unter andern auch mit Shakespeare
völlig vertraut. Seine eigentliche Stärke lag aber noch höher; nämlich in dem
Besitze aller Eigenschaften, die einen ausgezeichneten Direktor machen; zu
diesem seinen Berufe war er recht eigentlich geboren durch den seltenen Verein
von Ernst und Wohlwollen, mit dem er seine Schüler zu fassen, zu leiten und zu
begeistern verstand, durch den starken und unbeugsamen Willen, mit dem er
unlautere Elemente niederhielt oder beseitigte, durch die ganze Macht seiner
Persönlichkeit, mit welcher er in den feinsten Formen, ohne Aufwand äußerer
Mittel, das ganze, zahlreiche Lehrerkollegium und die stark besuchte Anstalt
unter humanster Schonung der Individualitäten nach einem Ziele in Bewegung zu
setzen und zu erhalten wußte. Zur Selbsttätigkeit anzuleiten, die besten Kräfte
und Triebe eines jeden in Wirksamkeit zu setzen, jeden auch seiner Erfolge froh
werden zu lassen, darin suchte er seine Aufgabe. Mein ganzes Herz hatte er bald
gewonnen und von Jahr zu Jahr, namentlich als er nun in Prima unser Hauptlehrer
wurde und gelegentlich im Tone leichten Gespräches uns an die höchsten Fragen
hinanzubringen versuchte, unserm wissenschaftlichen Streben die herrlichsten und
weitesten Ausblicke zu eröffnen verstand, uns auch persönlich und gesondert ihm
näher treten ließ, wurde mein Vertrauen, meine Verehrung des seltenen Mannes
größer. Ich sah in ihm meinen geistigen Vater; er ist nahezu mein Beichtvater
geworden.
Die
Aufgaben der neuen Klasse wurden mir nicht schwer; nur die Vorbereitung auf den
Homer kostete mir im Anfang sehr viel Zeit und Mühe; die vielen kleinen Partikel
wie **, ***, ***[75]
u.a., über welche das Wörterbuch so entsetzlich viel, aber so wenig greifbares
zu sagen hatte, brachten mich zuweilen der Verzweiflung nahe und hätten wohl
durch Hilfe und Weisung des Lehrers dem Anfänger verdeutlicht werden können. An
den Genuß des Inhaltes war so lange Zeit nicht zu denken, und zu rechtem Leben
ist mir auf der Schule weder Achill noch Odysseus gekommen. Wir lasen Fuß für
Fuß weiter, statt geflissentlich in die Natur und Geschichte dieser beiden
Nationalhelden als Darstellungen der beiden griechischen National- und
Kardinal-Tugenden, der **** und ****, der ***** und der ******[76],
der Tat und des Gedankens eingeführt und nur mit denjenigen Büchern oder Teilen
durch eigenes Lesen bekannt gemacht zu werden, welche die für die Entwicklung
des Ganzen wesentlichen Vorgänge enthalten. Den Wunderbau freilich dieser beiden
Kunstwerke zu verstehen und besonders die tiefe psychologische Wahrheit, mit der
hier die Rätsel des Menschenlebens gestellt und gelöst werden, zu würdigen, dazu
bedarf es des gereiften Verstandes und ernster Lebenserfahrung. Die homerische
Auffassung von "Geistesgesundheit", von Betörung, Schuld und Sünde reicht an das
Christentum heran. - Auch von Virgil sollte man die interessantesten Bücher
auswählen, im Grunde bei allen anderen Schriftstellern, namentlich auch Horaz,
nicht den Zufall der Reihenfolge walten lassen. Freude machten mir die
lateinischen Versübungen, die schon in Tertia begonnen hatten, hier von dem
Direktor selbst geleitet wurden. Den Frühling von Kleist[77]
in das Versmaß der Eklogen[78]
zu bringen, wurde uns zugemutet und auch geleistet. Vorzugsweise verwendete der
Direktor einen (Untertertianer) Neu-Lateiner, Johannes Secundus meine ich,
dessen Gedichte freilich von klassischen kaum zu unterscheiden sind, wie denn
die vollendete Aneignung der antiken Ausdrucksweise, Wort- und Satz-Fügung im
Mittelalter und darüber hinaus bis zur Stunde mir ein Gegenstand der
Verwunderung und die Art der Erwerbung dieser Fähigkeit mir fast ein Rätsel
geblieben ist.
Im
Französischen, wo freilich mein Unterricht von Anfang an sehr zu wünschen übrig
gelassen hatte, war ich noch in Sekunda nicht sicherer Herr der Deklination und
Konjugation. Meine Exercitien waren daher und blieben voller Fehler; es war mir
schlechterdings nicht möglich, zwischen den verschiedenen de, zwischen du und de
l', zwischen à und au durchzufinden; erst in Prima, wo mich eigenes Lesen des
Florianschen Don Quichotte und des Chateaubriand'schen Piétraire[79]
mit Lust an der Sprache erfüllt hatte, habe ich mir selbst die französische
Grammatik klar gemacht und angeeignet und dieses Studium auch auf der
Universität zu großer Freude und zu späterem Vorteil ununterbrochen und eifrig
betrieben.
Besseres
Glück hatte ich mit dem Englischen. Dies wurde von Sekunda an in einer
freiwilligen und außerhalb der Schulzeit liegenden Stunde von Mr.
Newman-Sherwood[80]
nach seinem Lehr- und Lesebuch gelehrt. Mr. Newman war wohl mindestens ein
Sechziger, aber von kräftiger, fast blühender Gesundheit und elastischer,
jugendlicher Beweglichkeit, mit schwarzem, wohlgepflegtem Haar, dunkeln Augen
und roter Gesichtsfarbe, eine kleine und feine Gestalt, der Lebenskraft und
Lebensfreude aus allen Zügen sah, vermutlich nicht sächsischen, sondern
keltischen Blutes. Darauf deutete auch sein Witz und Humor, dem er im Verkehr
mit seinen Schülern mit gänzlicher Unbefangenheit die Zügel schießen ließ, ohne
jemals sein Ansehen oder die Zucht seiner Klasse zu gefährden. Von Grammatik war
nach der Natur der Sache weniger die Rede als von guter Aussprache, auf die er
das größte Gewicht legte, und der Erwerbung einer möglichst reichen
Vokabel-Kenntnis, teils durch Vorbereitung vermittels einer
Interlinear-Übersetzung, teils durch systematisches Auswendiglernen. Wie der
Lehrer durch sein Wesen, so zog mich die Sprache durch ihre lohnende
Leichtigkeit an; in nicht allzu langer Zeit hatte ich mich vermöge eines
entschiedenen Talentes der Nachahmung einer guten Aussprache, der Grammatik und
des alltäglichen Wortschatzes bemächtigt, sodaß ich in Prima bei unserem
Direktor ohne Schwierigkeit zum Shakespeare übergehen konnte. Auch diese Sprache
und durch ihre Literatur weit mehr noch als die Französische hat nie wieder mich
zu beschäftigen und zu erfreuen aufgehört. Ich fand auch auf der Universität
einen geborenen Engländer, dem ich mit einem anderen Freunde der Sprache
ununterbrochen Gelegenheit gab, sein Publikum zu lesen, und durch Benutzung
jeder Gelegenheit zu Sprachübungen, durch stetige Privat-Lektüre brachte ich es
dahin, daß ich beim Abgang von der Universität ohne Prüfung und Zeugnis darin -
denn das gab es damals noch nicht - als ganz besonders ausgerüsteter
Neusprachler galt. Eine mitreisende Engländerin, der ich auf ihre Frage: "how
long do we stay here?" bloß "ten minutes" geantwortet hatte, wollte nicht
glauben, daß ich kein Engländer wäre, und ein Reisender an der Wirtstafel zu den
"3 Mohren" in Augsburg versicherte mir: "you speak it perfectly". Heute würde
ich in einem neusprachlichen Examen nicht bestehen, da jetzt durch den Wert, der
auf die sprachgeschichtlichen Kenntnisse gelegt wird, der grammatischen und
lexikalischen Beherrschung des modernen Englisch und Französisch, für den
Unterricht doch das Entscheidende, ein ganz unverzeihlicher Eintrag geschieht.
Erst nachdem ich in Meldorf schon Jahre lang unterrichtet hatte, habe ich in
Kiel durch Schwob-Dollé, dessen Nachfolger ich an der Kieler Schule werden
mußte, erkennen gelernt, wieviel mir zur völligen Vertrautheit mit der
französischen Grammatik noch fehlte, und im Englischen habe ich durch
fortgesetzte Unterhaltung mit meinem nunmehrigen Amtsbruder Lubbren gleichfalls
erst in Kiel die ziemlich unbehinderte Fertigkeit des Sprechens und Verstehens
gewonnen.
Worin
ich es aber, trotz Fleiß und Aufmerksamkeit, nie zu etwas Befriedigendem, zu
selbstständigen Leistungen zu bringen vermocht habe, das war die Mathematik und
Arithmetik. Ich war wohl imstande, einer Beweisführung zu folgen, einen Lehrsatz
zu lernen und zu verstehen, nach einer erklärten Regel in Zahlen oder Buchstaben
ein Exempel zu rechnen, aber nie habe ich eine mathematische Aufgabe
selbstständig anzufassen und zu lösen vermocht, und die ganze
Buchstabenrechnung, Sinus- und Cosinus-Verhältnisse, die Logarithmen und, was
dessen mehr ist, ist mir im Grunde immer ein Buch mit sieben Siegeln geblieben.
Wenn ich dennoch im Abgangszeugnis die nächst beste Zensur, recht gut, erhielt,
so schreibe ich das nur dem Wohlwollen meines Lehrers, dem noch lebenden Prof.
Christian Scherling, zu, der meinen guten Willen für die Tat nahm und durch
meine stets sorgfältig gemachten Ausarbeitungen bestochen gewesen sein mag. Wie
mir ging es aber der überwiegenden Mehrzahl, und derer, die auch uns, den
Mitschülern, als wirklich "mathematische Köpfe" erschienen, die mit Leichtigkeit
dem Vortrage folgten, alle Fragen spielend beantworteten, auch wohl
selbstständige Fragen taten, Beweise fanden und Aufgaben lösten, auf deren
Unterhaltung der Lehrer in der Hauptsache allein angewiesen war, gab es in einer
Klasse von etwas mehr als 20 nur etwa 3-4. Von einem kleinen Meklenburger, Haue,
- wahrscheinlich demselben, der später eine harte Haft verbüßen und die ganze
Unvernunft jenes fostilen[81]
Staatswesens am eigenen Leibe empfinden mußte - erinnere ich mich lebhaft und
mit Bewunderung, wie er in der mathematischen Stunde für die folgende
französische sein Exerziz machte und dabei mit dem Mathematiker unausgesetzt das
Zwiegespräch fortsetzte, wofür er in der Klasse so ziemlich dessen einzige
Zuflucht war. Es ist kein Zweifel, so oft es auch bestritten wird, es gibt eine
besondere mathematische Begabung, wie es eine besondere Begabung für Sprachen
gibt, ohne welche wohl Verständnis der fremden Sprache, aber nicht schöpferische
Handhabung derselben und Aneignung ihrer Eigentümlichkeiten, Eindringen in ihr
innerstes Wesen möglich ist.
Der
geschichtliche Unterricht hatte mich weder in Quarta noch Tertia gefesselt, er
tat es auch in Sekunda nicht. Prof. Ackermann setzte auch hier die Methode des
Deklinierens fort und ließ dann in unregelmäßigen Zwischenräumen wiederholen.
Der Umfang des dann für eine Stunde zu Bewältigenden schreckte von vornherein
ab, die Hoffnung, durchzuschlüpfen, wirkte auch, an Verständnis war so wenig zu
denken wie an gedächtnismäßige Aneignung. Von Feststellung eines bestimmten
Klassen-Pensums, von Hervorhebung der wichtigeren Begebenheiten vor den
unwichtigeren, von eingehender Charakteristik der leitenden Männer wie eines
Themistokles, Perikles, Grachus, Sulla u.a. habe ich wenigstens keine
Erinnerung. In Prima, wo Claßen die mittelalterliche und neue Geschichte lehrte,
trat insofern eine Änderung ein, als er offenbar selbst von seinem Gegenstande
besser unterrichtet war, frei vortrug und ein Interesse für den Gegenstand zu
erwecken wußte. Da wir aber im Nachschreiben nur Unzusammenhängendes
festzuhalten vermochten, die Wiederholungen gleichfalls nur in langen
Zwischenräumen stattfanden und nicht sehr strenge gehandhabt und für das
Endurteil verwertet wurden, so blieb der Vorrat meiner geschichtlichen
Kenntnisse gering. Erst als ich auch hier mich auf eigene Hand daransetzte,
täglich zwei Stunden, von 10-12 ausschließlich an Wiederholungen vermittels
Anfertigung eines schriftlichen Auszugs zu wenden, fühlte ich die Summe meiner
Kenntnisse wachsen und habe die Schule auf diesem Felde nicht übel ausgerüstet
verlassen. Von größeren Geschichtswerken erinnere ich nur Schlosser's Geschichte
des 18. Jahrhunderts[82]
gelesen und die literar-historischen Übersichten ausgezogen zu haben. In der
deutschen Geschichte waren mir die Kaiser ihren Regierungsjahren nach früh
geläufig; von der Reformation, von Luther und seinem weltgestaltendem Kampfe
habe ich nur eine bloße Vorstellung, von Männern wie Stein, Scharnhorst,
Gneisenau wenig mehr als den Namen, von der Fremdherrschaft und den
Befreiungskämpfen kein auch nur entfernt entsprechendes und genügendes Bild mit
hinweggenommen. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß der deutsche Gedanke bei
keinem meiner älteren Lehrer lebendig gewesen ist. Er war einmal verrufen und
Jacob wie Claßen waren in Bezug auf politische Anregungen der ihnen anvertrauten
Jugend äußerst vorsichtig. Die Verfolgungen der demagogischen Umtriebe wirkten
nach.
Noch
weiter zurück gegen den gegenwärtigen Unterricht - die "Reformen" Kaiser
Wilhelm's II.[83]
ausgeschlossen - stand der damalige Unterricht in der Religion. In Sekunda lasen
wir bei Claßen das Neue Testament in der Ursprache; in Prima gab der Direktor
diktierend mit ganz seltenen Repetitionen eine kurze Darstellung sämtlicher
Hauptreligionen der Welt, eine Art Religionsphilosophie, in der das Christentum
und der Protestantismus, selbst vom rationalistischen Standpunkt aus angesehen,
ohne gebührende Würdigung blieben. Von der Kirchengeschichte auch nur der
Reformationszeit, von den Unterscheidungslehren unserer und der anderen
christlichen Konfessionen erfuhren wir nichts. Wer heute vom Hollenberg[84]
auch nur die Hauptsachen sich angeeignet hat, besitzt doch wenigstens von der
Kirche, deren Sohn er ist, dasjenige Bewußtsein, das sie von den
wissenschaftlich gebildeten ihrer Mitglieder fordern kann. Bei alledem erinnere
ich mich nicht, daß die freie Auffassung meines Direktors vom Christentum meiner
Verehrung gegen ihn Eintrag getan oder mich in meinem Gewissen beunruhigt hätte.
Ich war damals den religiösen Fragen gegenüber bereits gleichgültiger und
fremder geworden und hielt mich als einzige Antwort an die hohe und Achtung
gebietende Persönlichkeit eines Mannes, in dem ich ein sittliches Vorbild
erkennen mußte.
Die
Art seiner Einwirkung auf seine Schüler und die seltene Idealität unseres
Verhältnisses zu ihm möge hier noch durch einen besonderen Fall verdeutlicht
werden.
Von
Sekunda an schon wurde damals auf der Lübecker Schule studentisches Leben
zunächst auf einem eigenen Fechtboden in einer großen Halle der alten Burg mit
Vorwissen und Billigung des Direktors gepflegt. Mit großem Eifer und Erfolge
nahm ich an diesen Übungen teil und tat mir auf die stattliche Entwicklung der
Muskeln meines rechten Armes nicht wenig zu Gute. Es fehlte auch nicht ganz an
Duellen mit stumpfen Rapieren; unter andern war es auch mir beschieden, einen
bildschönen, jungen Adligen, Werner von Ruhmohr, tüchtig verhauen abzuführen.
Das eine zog dann das andere nach sich. In Prima tat sich eine förmliche
studentische Kneipverbindung auf mit farbigen Mützen, Landesvater[85]
und, was sonst dahin gehört. Sie eröffnete auch einigen wenigen Sekundanern, die
sie für besonders würdig hielt, den Eintritt. Auch ich hatte die Ehre, dazu
aufgefordert zu werden und mit großem Eifer nahm ich sie an und an dem
studentischen Treiben teil. Mit einer Art Andacht bekenne ich den Landesvater
als einen hohen und feierlichen Akt mit begangen zu haben. Ich darf aber gleich
hier sagen, daß die Zeit, wo ich an dem geflissentlichen Saufen Gefallen oder in
der Aufnahme von möglichst großen Biermengen einen Beweis der Mannhaftigkeit
sah, nur sehr kurz dauerte, der engere und freundschaftliche Verkehr dagegen mit
einer Art Auswahl der Primaner und Sekundaner mich in hohem Grade befriedigte
und erfreute. Zum Glücke konnte die schöne Verbindung nicht lange verborgen
bleiben. Unser Direktor ließ sich den Vorsitzenden kommen, den mittleren der
drei Brüder Schwartz aus Gickau, nicht um eine vorläufige Untersuchung oder
harte Bestrafung des bereits Begangenen einzuleiten, sondern um ihn von der
Verkehrtheit und Unstatthaftigkeit einer solchen Verfrühung und Vorausnahme des
studentischen Lebens zu überzeugen. Danach berief der so überzeugte und teilte
uns Verlauf und Inhalt der Unterredung mit und erklärte, nur noch zu
freiwilliger Selbstauflösung raten zu können. Meines Erinnerns ist ein
ernstlicher Widerspruch nicht laut geworden. Die Verbindung beschloß, das
Vernünftige zu tun. Solange ich Schüler des Katharineums blieb, ist ein neuer
Versuch dieser Art nicht wieder gemacht worden.
Michaelis[86]
1842 ward ich nach Prima versetzt. Zwar war auch hier der Kursus zweijährig und,
es mag wohl sein, daß meine bisherige Erfahrung und der kurz vorher gegangene
Vorgang mit drei anderen Sekundanern - darunter der später bekannt gewordene
Theodor Schultze aus Oldenburg - mir die geheime Hoffnung erweckt hatten, ich
würde auch in einem Jahre durch Sekunda gehen. Ich schließe das aus der mir wohl
erinnerlichen Tatsache, daß ich nicht allzu lange vor Michaelis es wagte, zum
Direktor zu gehen und ihm meinen Wunsch möglichst raschen Vorwärtskommens mit
Berufung auf mein Alter und meine Vermögenslage offen auszusprechen. Ein
Schritt, der in Anbetracht meiner sonstigen Blödigkeit allein ein Beweis ist, in
wie seltener Weise unser "Alter" es verstand, seine Schüler in vollem Vertrauen
an sich zu ziehen. Er nahm die Bitte aufs gütigste und wohlwollendste auf und
brachte sie zu meiner großen Freude zur Erfüllung. Bedenken hatten der
Versetzung auch allein nur in der Mathematik entgegengestanden, die der
betreffende Lehrer durch einige Privatanleitungen zu heben auf sich genommen.
Wie sehr ich in den alten Sprachen für die Klasse reif war, bezeugt wohl allein
die Tatsache, daß ich für meinen ersten lateinischen Aufsatz sogleich dem
allerbesten Zeugnis ganz nahe kam. Das gewöhnlichste Prädikat war Libenter
legi[87],
das durch größere und sorgsame Schrift in seinem Werte gesteigert, durch
Abkürzung, Lib. legi, oder pluraque lib. legi[88]
herabgezogen zu werden pflegte; No. 1 hieß Places[89].
Unter meinem ersten recht langen und ohne Schwierigkeit niedergeschriebenen
lateinischen Aufsatze stand nun, - ich habe es nie vergessen und schreibe es zur
Stunde aus dem Gedächtnis, der wörtlichen Genauigkeit sicher, nieder in
ungewöhnlich großen Schriftzügen: Libenter legi ac placere te etiam dicam, nisi
sphalmata quaedam videam, quae brevi abstersa fore confido[90].
Ja, diese sphalmata![91]
Ich bin sie auf der Schule, selbst auf der Universität, nicht völlig los
geworden und habe mit einem Aufsatze das viel begehrte Places, wenn ich recht
erinnere, nie erreicht, in Exerzitien und den regelmäßig beigefügten
rhetorischen Figuren einige Male. Das wird auch der Grund gewesen sein, warum
der verehrte, mir so wohlgesinnte Mann im Abgangszeugnis für Latein mir die
erste Zensur nicht geben zu können geglaubt hat, obwohl ich ohne falsche
Bescheidenheit sagen darf, daß meine freien lateinischen Aufsätze lateinisches
Sprachgefühl und sog. lateinische Farbe in einem Maße zeigten - ich besitze noch
mehrere Hefte - wie ich sie später bei meinen eigenen Schülern nie gefunden
habe. Die Zurückgabe der Exerzitien ist mir denn auch als Lehrer wie als Schüler
eine der interessantesten Stunden geblieben. Wer unter Jacob's Leitung den
Laokoon von Lessing übersetzt hat, wird einen Schmack[92]
von der vielgenannten geistigen Gymnastik davongetragen haben, die ein Meister
der Sprache mit diesen Übungen zu erzielen verstand. Das Programm[93],
in dem er gerade diese Exerzitien besprach, ist in der Gelehrtenwelt berühmt
geworden.
Mit
Vergnügen hörte ich auch den Direktor den Cicero (de oratore), mehr noch den
Horaz, am meisten aber den Tacitus auslegen, zu welchem letzteren Schriftsteller
ich ein auf vollem Verständnis beruhendes, persönliches Verhältnis gewann; eine
Folge wohl davon, daß unser Direktor diesen Schriftsteller auch am meisten in
sein Herz geschlossen zu haben geständig war. Vertraut war er auch in vollem
Maße mit dem Horaz, wie seine Schrift: "Horaz und seine Freunde"[94]
genügend beweist. Aufgefallen ist mir nur später, als ich durch eigene Erklärung
in der Kieler Prima diesen Dichter auch als Menschen tiefer kennen und würdigen
lernte, - während das Wohlgefallen an dem Tacitus sich verlor -, daß er, soweit
ich erinnere, nie die mehreren Züge hervorgehoben hat, die dieser römische
Dichter mit unserem Goethe gemein hat, vor allem die kühle, gelassene
Lebensauffassung, die reife Weisheit und Menschenkenntnis, die große
Wahrhaftigkeit des Lebens wie des Dichtens. Immer gedankt habe ich ihm, daß er
uns überhaupt römische, zumal horazische Verse lesen und als Musik zu empfinden
gelehrt hat. Er selbst erzählte uns, von Friedrich August Wolf des leidigen
Skandierens entwöhnt zu sein, dessen Übung bis zur Stunde auf allen preußischen
Schulen gefordert und betrieben, den Vortrag eines schönen horazischen Liedes
für ein feineres Ohr zu einem wahren Schrecken zu machen imstande ist. Keine
moderne oder antike Nation hat ihre Poesie nach dem Versmaß gelesen, es wäre
auch der Tod jeder Poesie gewesen; sondern nach dem Sinn der Worte und Sätze
trotz des Versmaßes; gerade aus dem Widerstreit und der Versöhnung zwischen
Vers-Ton und dem Sinn-Ton geht die unvergleichliche, im Deutschen garnicht
erreichbare Musik, das wunderbare und liebliche Gewoge des antiken Rhythmus
hervor. Skandieren ein Lied wie Otium divos[95]
oder Aequam memento[96]
können nur Barbaren. Aber auch hierin macht sich der preußische Militarismus
geltend: es klappt so besser, mag es auch klappern. Freilich ist ein solches
Lesen, wie ich es von meinem Jacob lernte und meinen Schülern wieder zu lehren
und vorzumachen versucht habe, nicht anders erreichbar als durch Lesen auch der
lateinischen Prosa nach der Länge und Kürze der Silben, und diese Kenntnis
fordert mit Notwendigkeit, wenn sie anders zur unbewußten Fertigkeit führen
soll, die Übungen im Verse machen, die uns auf der Lübecker Schule aus guten
Gründen und mit gutem Erfolge angesonnen wurden. Für wen solche Übungen zu
schwer sind, der tut besser, dem Studium der alten Sprachen fern zu
bleiben.
Viele
Mühe und Arbeit kostete uns Sophokles; aber ich darf sagen, daß ich trotz des
fortdauernden Kampfes mit der Sprache, zumal der Chorlieder auch, seines
"Geistes einen Hauch gespürt"[97];
ein Lied wie **********, ***** ***** ******** ****[98]
kann schon ein Jüngling auch verstehen, wenn er anders so viel auf sich geachtet
hat, um der Macht des Bösen innegeworden zu sein. Für die sittliche Hoheit und
menschliche Fehlbarkeit einer Antigone, für die erbarmungslose Tragik im
Schicksal eines Ödipus, der dem Bösen nur einen Finger gereicht, aber eben damit
von Betörung und Überhebung sein Herz nicht ganz rein gehalten hat, läßt sich
auch schon das jugendliche Auge öffnen. Die ganze Tiefe des hellenischen
Schuld-Begriffs vermag freilich erst der männliche Verstand und die gereifte
Erfahrung zu fassen. Für sie aber bildet die hellenische Dichtung eine Freuden-
und Erbauungsquelle, der wohl mancher seine schönsten Lebensstunden verdanken
mag. Der deutschen studierenden Jugend die griechische Welt zu erschließen bloß
deshalb, weil auch Unberufene sich herandrängen, können nur Unberufene raten.
Daß dieser Rat in unseren Tagen unter einem Kaiser, der auch Pädagogik studiert
zu haben glaubt, weil er ein Stück Gymnasialbildung sich angeeignet hat, über
kurz oder lang einmal Wirklichkeit werden könnte, lassen die neuen Anordnungen
befürchten, welche die ganze klassische Bildung der Gymnasien, d.h. die
Gymnasien selbst, einen der Grundpfeiler des deutsch-protestantischen Reiches,
von Grund aus zu zerstören drohen. Es ist zu hoffen, daß der Wahrheits- und
Wissensdurst, der den Deutschen glücklicherweise im Blute liegt, über kurz oder
lang siegreich wieder durch alle Täuschungen und Tröstungen zu den reinen und
frischen Quellen zurückdrängen wird.
Mein
Verhältnis zu den Mitschülern blieb auch in Prima das erwünschteste; ja, ich
darf sagen, ich genoß eines großen Vertrauens und in dem Kreise der Mehrheit, je
älter in der Klasse ich wurde, eines gewissen Ansehens. Es sonderten sich
nämlich schon hier auf der Schule die beiden Richtungen und Kreise, welche auf
der Universität in Corps und Burschenschaft gänzlich auseinander zu treten
pflegen. Die studentischen Corps fanden hier eine Art Vorschule in dem engeren
Zusammenhalten holsteinischer, auch wohl einmal meklenburgischer Adliger, die,
wie gewöhnlich, eine Anzahl bürgerlicher und reicher Lübecker oder Hamburger
Patricier-Familien an sich zogen. Ohne eigentliche Gegner- oder Feindschaft
hielten sich diese jungen Herren von der bürgerlichen oder bäuerlichen Mehrheit
fern. Nur selten war einer grün oder dumm genug, mit seinem ganzen
Standesvorurteil inmitten dieser groben Plebejer hervorzukommen; so ein Heintze,
der durch die Aufschrift seines Präparationsbuches, Heintzius patricius, den
Spott seiner Genossen herausforderte; so ein Oertzen, aus Mecklenburg, der auf
die bewundernden Worte eines Mitschülers über Theodor Körner nur die Bemerkung
hatte: der wäre nicht mal von Adel gewesen! Klug versteckt lebten diese
Vorurteile wohl in allen. Einer seltenen Ausnahme werde ich unten
gedenken.
Beide
Gruppen gingen ihre eigenen Wege, namentlich außerhalb der Schule, fanden sich
auch während der Pausen von selbst zusammen. Jede hatte ein wissenschaftliches
Kränzchen, in dem freie Arbeiten, Dichtung oder Prosa, beurteilt und auf Bericht
eines bestellten Recensenten besprochen wurden.
Um
dem Geselligkeitsbedürfnis entgegenzukommen, hatte unser Direktor in den letzten
Wintern, die ich auf der Schule zubrachte, sogenannte gesellige Abende
eingerichtet. In dem Gasthof Hotel du Nord, bekannt als einstige Wohnung des
Senators Rodde und seiner Frau, geb. Schlözer, Dr. phil., versammelten sich 4
bis 5 Mal im Winter die ersten Familien der Stadt, um der Aufführung eines
Spieles, sei es eines bekannten deutschen Dichters und Klassikers, sei es auch
ein von dem Direktor eigens zu diesem Zweck gedichteten beizuwohnen. Er hatte
eine nicht ganz gewöhnliche dichterische Begabung. Seine Dichtungen sind unter
dem Titel "Lübsche Spiele"[99]
später veröffentlicht. Das eine war die mit Humor travestierte Sage von der
Genofeva, in der Bäume und Tiere mit auftraten, das andere eine Verhöhnung des
jungen Deutschlands und der Helden der Hallischen Jahrbücher[100],
denen er ein erbitterter Gegner war. Die Einübung wie Aufführung hat uns
unsäglichen Spaß gemacht; von keinem mehr als den Hussiten vor Naumburg[101],
wo ich einen der Ratsherren darzustellen hatte. So groß sonst noch immer meine
Blödigkeit war, besonders bei öffentlichem Hervortreten, so gänzlich fiel sie
von mir ab, wenn ich gleichsam als ein anderer, nicht aber als Karl Jansen,
aufzutreten hatte. Ich war mutwillig genug, in Ton, Redewendungen und
Handbewegungen den armen Roquette nachzuahmen, namentlich auch Prisen zu
erbitten und zu nehmen aus fremden Dosen, nach seinem Vorbild, sodaß, zumal in
den Proben, das Lachen groß war. In dem Göthe'schen Bürgergeneral wurde mir
sogar die Hauptrolle übertragen; doch tat, nach meiner Erinnerung, das Stück bei
weitem nicht die Wirkung des Kotzebue'schen. Ob mehr Stücke als die erwähnten
zur Aufführung gekommen sind, ob diese Abende sich länger gehalten haben, vermag
ich nicht zu sagen. Eine wirkliche Einführung unbekannter, meist auch
unbeholfener junger Leute in die Gesellschaft Lübecks konnte wohl nicht so
leicht gelingen.
Eine
große Freude bildete alljährlich um Johannis[102]
das Schulfest, an dem die ganze Schule mit Lehrern und Schülern, auch manchen
Gästen nach dem benachbarten Israelsdorf oder nach Schwartau in den Riesebusch
ausrückte und in allerlei Spielen, am meisten aber für die Großen "Räuber und
Soldat" sich austobten. Die Bewegung im Freien, der ungezwungene Verkehr
zwischen Lehrern und Schülern, die dem Deutschen angeborene Lust am grünen,
dunklen Walde, das Messen und Ringen im Einzelkampfe gewährte echte Jugendlust.
Ausnahmsweise wurde auch einmal ein kleines Spiel aufgeführt, so eins von meiner
Mache, genannt, wenn ich nicht irre, Philemon und Baucis. Knittelverse wurden
mir immer leicht genug; ob aber irgend eine Handlung oder Mittelpunkt darin war,
weiß ich nicht mehr. Vielleicht liegt es noch unter meinen Lübecker
Papieren.
Einiger
Freunde möchte ich noch gedenken, die freilich alle mehr mich gesucht hatten,
als daß ich ihnen entgegengekommen wäre, die ich aber denn doch auch meinerseits
sehr liebgewonnen hatte, obwohl auch diese Freundschaften unser Zusammensein und
unser Zusammenleben als Gleiche in einer größeren Gemeinschaft nur kurz
überdauert haben. Mit einer gewissen Zärtlichkeit hatte sich schon in Tertia
Karl v. Rumohr an mich angeschlossen, ein Vetter des oben genannten Werner, ein
Knabe von fast weiblicher Zartheit und Weichheit, auch Reinheit der Seele, mit
milden blauen Augen bei dunklem Haar und zarter, aber gesunder Gesichtsfarbe. Er
trug kein Bedenken, den damals noch mehr als später bäurischen, älteren und
größeren Burschen vom Lande aufzusuchen, mit ihm zu arbeiten - wir versuchten
uns an Sallust Catilinarium[103]
- und sich ihm als dem leitenden freudig unterzuordnen. Ich hatte ihn auch
besonders meinerseits lieb, habe ihn aber trotzdem schon von Sekunda an, wo er
auf eine andere Schule gekommen sein muß, für immer aus den Augen
verloren.
Eine
Natur von ganz anderer Art war Steinfass, Sohn eines meklenburgischen
Gutsinspektors, von der Rostocker Schule, wo er wohl mehr vom Leben genossen
hatte, als gut war, in die Lübecker Sekunda versetzt, ein sehr begabter, aber in
seinem ganzen Äußeren, in Bewegungen, Gebärden, Sprachen auffallend unbeholfen
und wunderlich, dabei von fast kindlicher Harmlosigkeit, mit einer ungemeinen
Empfänglichkeit für das Komische, begeistert für den Gedanken der Freundschaft,
zu dessen Verwirklichung er in mir die geeignete Persönlichkeit gefunden zu
haben glaubte. Er war mir lange mit einer schwärmerischen Ergebenheit zugetan,
die ich nicht ganz in gleicher Weise zu erwidern vermochte. Bei einem
mehrtägigen Besuche auf "Burg Stowe", so nannte er das von seinem Vater
verwaltete Gut, konnte ich einen Einblick tun in meklenburgisches Leben und
Denken, das mir durch sittliche Läßlichkeit und Leichtigkeit einigermaßen an
polnisches Wesen zu erinnern schien. Daß Vater und Sohn auf dem Fuße völliger
Gleichheit verkehrten, war mir neu. Eine Hausfrau oder Geschwister waren nicht
vorhanden; Gastfreundschaft wurde mit slawischer Verschwendung geübt. Nicht
lange nach diesem Besuche bekam das Verhältnis einen Stoß, löste sich freilich
nie ganz, gewann aber auch, wie das zu sein pflegt, die frühere Innigkeit nicht
wieder. Auch Steinfass habe ich seit meinem Abgang von der Schule aus den Augen
verloren. Gehört habe ich später, daß er, obwohl auf der Schule ein völliger
Freigeist, doch Theologie studiert habe und ein regelrechter meklenburgischer
Pastor geworden sei. Seine Lehrer hielten ihn zu bedeutenden Leistungen
befähigt; wenn sie ausgeblieben sind, mag es sein, daß dazu mehr die sittlichen
als die geistigen Bedingungen gefehlt haben.
Der
begabteste wohl unzweifelhaft aller meiner Mitschüler und auch einer von denen,
mit welchen ich lange, zumal später in Berlin, aufs engste verkehrt habe, ohne
bei seinem starken Selbstbewußtsein und kühlen Egoismus je mit ihm befreundet zu
werden, war Gidionsen, Sohn des Organisten aus Waab in Schwansen, jetzt noch
Direktor der Schleswiger Schule. Seine Leistungen in Lübeck, nachher im Seminar in Kiel
und Berlin, erregten bei seinen Lehrern Aufsehen und große Erwartungen, denen er
doch später durch wissenschaftliche Leistungen wenigstens nicht in dem Maße
entsprochen hat. Liebenswürdiges hatte er in seinem zugeknöpften Wesen nichts.
Durch die Nachbildung der Göthe-Schillerschen Xenien auf die sämtlichen
Mitschüler in Prima, ausgenommen allein mich und, wie ich meine, noch einen
anderen, erregte, da die Sache und die Verse bekannt wurden, eine solche
Erbitterung in der ganzen Klasse, daß sie einst in einer Pause zu einem
Selbstgericht schritt, von allen Seiten wütend über ihn herfiel und jämmerlich
genug mit Schlägen und Ausbrüchen der Entrüstung und Verurteilung zurichtete.
Die Sache kam auch vor den Direktor, und ohne äußerliche Strafen, nur durch
strafende und mahnende Worte nach beiden Seiten hin wußte er der Verfolgung des
Geächteten, wenn auch nicht dem Groll und der hochangeschwollenen Erbitterung
ein Ziel zu setzen. G. hatte seine Überhebung teuer bezahlt. Er ist nachher
Prinzen-Erzieher in Oldenburg und Hofrat geworden, kehrte 1864 in seine Heimat
zurück, und es fehlte nicht viel, so wäre ich in Husum sein Amtsbruder und
Untergebener geworden. Daß das nicht zu meinem Glück gewesen wäre, bewies mir
später die Unzartheit gegen meine Frau und die Bosheit gegen mich, die er am
Philologen-Tage in Kiel uns als Gastgeschenk widmete. Seitdem haben wir kein
Wort mehr miteinander gewechselt.
Recht
befreundet war ich auch mit Burmester, dem Sohn des Pastors B. in Grönau bei
Lübeck, einem gescheuten und sittlich festen Menschen. Mit ihm und zwei anderen,
wie ich meine, machte ich eine Reise, welche als bezeichnend angesehen werden
darf. 1842 hielt das X. deutsche Armee-Corps, zu dem auch die
Holsteiner-Lauenburger - im Lager nur die Dänen genannt - gehörten, mehrtägige
Feldübungen bei Lüneburg. Wir faßten den Entschluß, dieses so leicht nicht
wieder gebotene kriegerische Schauspiel mit zu beleben. Burmester besorgte uns
durch einen Bekannten für einige Tage ein bescheidenes Zimmer mit Kaffee; die
Reise selbst wurde natürlich zu Fuß gemacht, her sogar an einem einzigen Tage
mit Hilfe einer kurzen Wagenfahrt, 10 starke Meilen. In Lüneburg wurde von
Butterbrot, Aal, Obst u.a. auf dem Feldfuße gelebt, das alles bei nicht ganz
geringen Wanderungen auch während der Manöver-Tage, die Aufpassen, Warten und
Laufen erforderten, wenn man von den teilweise außerordentlich fesselnden
Bewegungen der 30000 M. etwas rechtes sehen wollte. Erschöpft, aber sehr
befriedigt und voll Selbstgefühl kamen wir zurück: die ganze Unternehmung von
4-5 Tagen hatte, wenn meine Erinnerung nicht zu hoch greift, 4 *[104]
Courant gekostet. Zu entbehren war damals noch Ruhm und
Lust.
Als
Haus-, nicht als Klassen-Genosse war mir von Plüskow bekannt und befreundet,
Sohn eines meklenburgischen Edelmannes, der in Hamberge[105]
bei Trittau als Privatmann wohnte. Auch mit ihm habe ich eine Ferienreise
gemacht. 1842 am Tage vor Himmelfahrt brach bekanntlich die furchtbare
Feuersbrunst aus, die einen beträchtlichen Teil Hamburg's in Asche legte. Schon
am Freitag erfuhr man in Lübeck, wo viele Hamburger die Schule besuchten, aus
deren Briefen Näheres über die Größe des Unheils. Unser beweglicher Professor
Claßen, selbst ein Hamburger, war in der größten Erregung; die ganze Stadt nahm
den lebhaftesten Anteil an dem Schicksal der nah und vielfach verbundenen
Schwester. Abends waren die höchsten Punkte des Walles mit Menschen besetzt, die
den Feuerschein des Brandes sehen wollten. Erst Dienstag und Mittwoch kamen
Nachrichten, welche die Gefahr als beseitigt darstellten. Wir wurden einig, die
Pfingstferien zur Besichtigung der Trümmer zu benutzen.[106]
Plüskow lud mich ein, zu dem Ende zunächst mit ihm seine Heimat zu besuchen,
einen freundlichen Ort und einen anmutigen Wohnsitz. Die Eltern kümmerten sich
nicht viel um uns; die Mutter wohl garnicht; von dem Vater erinnere ich nur den
Ausdruck seiner Verwunderung über mein stummes und bildsäulenartiges Dasitzen;
denn ich sagte in der Tat vor Fremden und in größerem Kreise von Erwachsenen
ungefragt kein Wort und gefragt nur das allernotdürftigste und auch das nur
unter dem unvermeidlichen Rotwerden. Ich begreife heute sehr gut, daß ich damals
und noch lange später Unbekannten, die mich so dasitzen oder stehen sahen, eine
wunderliche und langweilige Erscheinung gewesen sein muß. Aber es lag ein Bann
auf mir, den ich schlechterdings nicht los werden konnte. Plüskow hatte zwei
Schwestern, eine blonde und eine dunkle, eben erwachsen, beide gleich anmutig
von Gestalt und Bewegung, schön von Gesicht, durchaus einfach, natürlich und
zutunlich, mit uns zu wandern, zu rudern, ohne Ziererei, immer bereit; obwohl
von dem Zauber ihrer Gegenwart sehr angetan, werde ich auch wohl gegen sie,
unmittelbar und geradezu, kaum mehr als zehn Worte zu äußern gewagt haben.
Blödigkeit und Menschenfurcht war es im Grunde auch nur, wenn ich mich gegen
meinen freundlichen Wirt einer entschiedenen Unhöflichkeit schuldig machte. Als
wir nämlich in Hamburg die rauchenden und auch noch brennenden Trümmer der Stadt
genugsam angesehen hatten, wollte ich auch kurz meine Verwandten in Altona
begrüßen, versprach aber, zur Abfahrt wieder da zu sein. Meine Herren Vettern
erklärten mir aber sofort gebieterisch, als wenn sie mir das geringste zu
befehlen gehabt hätten, ich könne nicht gleich wieder mit zurück, sondern bliebe
bei ihnen. So sehr ich den Wortbruch scheute und Gegenvorstellungen machte,
hatte ich nicht soviel Mut oder Kraft, auf meinem Willen zu bestehen. Als ich
dann einige oder einen Tag später über Hamberge zurückkam, merkte ich an der
kühleren Aufnahme, daß mein Benehmen verletzt hatte. Nach der Konfirmation ging
der junge Plüskow ab. Ich habe von ihm wie von der ganzen Familie nie wieder
etwas gehört.
Wiedergesehen
ein einziges Mal habe ich meinen mehrsemestrigen Nebenmann und Mitabiturienten
Kästner aus Burg auf Fehmarn. Ich erwähne seiner besonders, weil er von
körperlicher Entwicklung, jugendlicher Gesundheit und Blüte, Kraft und Fülle der
Formen mit seinem frischen und gebräunten Gesicht und dem kastanienfarbenen,
weichen Lockenhaupt mir als eine wahre Idealgestalt erschien, an welche selbst
kräftige sonstige Genossen auch entfernt nicht heranreichten. Und dennoch, bei
so günstigen Vorbedingungen eines hoch beglückten Mannesalters und eines langen
und kräftigen Lebens ist ihm durch Selbstmord seiner Frau im Leben Schweres und
ein sehr früher Tod in den besten Jahren beschieden gewesen. Wie manches
Menschendasein geht unverstanden oder als ein Rätsel dahin: Die Wirkungen treten
in die Erscheinung, die oft tief, tief liegenden Ursachen bleiben verdeckt. "Wer
erfreute sich des Lebens, der in seine Tiefen blickt!"
Ostern
1844 wurde ich primus omnium. Als solcher übte ich nun selber, was ich vor 5
Jahren den damaligen primus primae Schwartz, jetzigen Propsten und
Konsistorialrat in Garding, halb mit Neid, halb mit Bewunderung hatte üben
sehen, d.h. ich hatte bei der Andacht der versammelten Klassen Mittwochs und
Sonnabends aus einem dazu bestimmten Buche, von der Flügeltür zwischen Tertia
und Sekunda aus, einen selbstgewählten Abschnitt zu verlesen. Gesang eröffnete
und schloß die gemeinsame Andacht; ein Lehrer oder der Direktor ergriff das Wort
nicht, natürlich waren sie zugegen. Daß unser Jacob sich diese Gelegenheit der
Einwirkung auf seine Schulgemeine entgehen ließ, besser, diese ihm offenbar
zufallende Pflicht des Familienvorstandes als solche nicht anerkannte und übte,
kann ich mir kaum anders als aus der auch ihm eigenen Scheu vor öffentlichem
Auftreten erklären. Nur bei Schul-Akten konnte er sich der Verpflichtung zu
reden nicht entziehen und, was er sagte, war nicht in den Wind geredet. Claßen
hat in seiner Lebensbeschreibung[107]
schöne Proben davon gegeben.
Michaelis
1844 war mein zweijähriger Kursus in Prima vollendet. Das Scheiden aus dem
bisherigen, mir so lieb gewordenen Lebenskreise, die Zerschneidung vieler enger
Bande bewegte mich sehr; die akademischen Freuden lockten mich wenig. Als erster
der beiden Abgehenden - Ostern war der eigentliche Abgangstermin - hatte ich vor
einer Versammlung aus der Stadt, die sehr zahlreich zu sein pflegte und meist
aus den ersten Kreisen war, eine lateinische Rede zu halten. Eines
Abgangs-Examens bedurfte es für Holsteiner nicht, das Zeugnis genügte. Im
Ganzen, darf ich wohl sagen, war ich namentlich in den Sprachen recht gut
vorbereitet, erhielt auch ein Zeugnis ersten Grades. Meine Rede behandelte einen
Gegenstand, der unserem Direktor sehr am Herzen lag, die Duldsamkeit, die
Toleranz gegen Andersdenkende, "de aequitate judicii"[108]
hatte schließlich er mir geraten, sie zu benennen, statt einer schleppenden
Umschreibung mit einem Relativ-Satz. Am Schlusse gab ich, der gewöhnlichen Sitte
entsprechend, unserem Danke gegen die Lehrer einen recht starken und warmen
Ausdruck. Ich war nahe daran gewesen, es mit einem Satz über das Gewöhnliche
hinweg in der Muttersprache, der Sprache des Herzens zu tun, was mir fast als
ein unabweisbares Bedürfnis schien und was, wenngleich ein gewisses Aufsehen
erregt, doch auch unzweifelhaft einen guten Eindruck gemacht hätte. Meine
leidige Blödigkeit hielt mich noch im letzten Augenblick von dem ungewöhnlichen
Schritte zurück. Als es zu spät war, habe ich es lange
bedauert.
Am
26. September, - es war einer jener sonnigen, mildewarmen Herbsttage, die uns
unser sonnenloses Klima zuweilen bringt, - schied ich aus der Stadt, wo ich die
schönen Jahre des angehenden Jünglingsalters, des verheißungsvollen stetigen
Wachsens und Entfaltens aller körperlichen und geistigen Kräfte ohne andere
Trübung und Störung als durch eigene Sünde hatte erleben dürfen. Meine
Mitschüler hatten beschlossen, - einige 2 oder 3 hielten sich fern - mir ein
Komitat[109]
zu geben. In einem äußerst stattlichen Wagen und Zuge brachten sie mich bis an
die Eutiner Grenze nach dem benachbarten Schwartau. Hier wurde in schäumendem
Wein der Abschieds-Trunk genommen. Mit einem sehr beschwerten Herzen wanderte
ich dann allein nach dem nicht fernen Parin, wohin meine Eltern oder mein Vater
vorauf gefahren waren. Der grausame Scherz meines Vaters, der doch über die Ehre
seines Sohnes erfreut sein mußte, sie hätten mich ja wohl zum Besten haben
wollen, verletzte mich sehr. Meine Seele war wund. Das Vorgefühl schwerer Jahre
lag auf mir. -
Ende
Oktober war herangekommen. Der Buchenwald war braun geworden. Ein Tag ist mir in
Erinnerung geblieben, wo meine Schwester, damals noch im vollen Kampfe mit ihrem
Herzensgram, im Hinblick auf die fallenden Blätter im Stenbek, - ich kann noch
die Stelle zeigen - das Wort aussprach: wenn die wieder grünen, dann wissen wir
schon mehr.
Mein
Vater fuhr mich mit meiner Kommode und meinen wenigen Sachen nach Kiel. Der
Prof. Mau als damaliger Rektor schrieb mich ein; sein kleiner Sohn, August Mau,
jetzt in Rom, mein lieber Schüler später in Kiel, spielte bei ihm herum. Ich
bekannte mich als stud. philologiae et theologiae. Daß ich Theologie studieren
werde, war von vornherein vorausgesetzt; ich hatte, wenn ich nur überhaupt
studieren durfte, auf die nähere Wahl des Studiums nie einen Wert gelegt und um
den damit verbundenen Lebensberuf mich noch weniger gekümmert. Hinzu kam, daß
ich auf Stipendien, wenn nicht geradezu angewiesen, doch sehr rechnete, die für
Theologen reichlich, für Philologen, soweit ich damals unterrichtet war,
garnicht vorhanden waren. Im Grunde war ich schon damals von dem inneren Triebe
zum Prediger-Berufe, den ich einst gefühlt hatte, nicht mehr erfüllt. Jedoch
belegte ich für das erste Semester lauter theologische Kollegien; von denen
abgesehen, die der allgemeinen wissenschaftlichen Bildung dienten. Ich war
fleißiger, nahezu ununterbrochener Hörer und sorgsamer Nachschreiber, um so
mehr, als die meisten diktierten oder diktierten und erklärten. Die deutsche
Geschichte bei G. Waitz arbeitete ich sogar zu Hause mit Hilfe des Gedächtnisses
aus und besitze bis zur Stunde von ihr ein gutes Heft. Sie fesselte mich auch am
meisten, da man dem keineswegs irgendwie glänzenden, sondern sehr schlichten und
nüchternen Vortrage vom sorgfältig ausgearbeiteten Konzept doch bald die
Gründlichkeit der Studien, auf denen er beruhte, anmerkte, auch von der etwas
befangenen und blöden Persönlichkeit des Vortragenden den Eindruck eines ganzen
Mannes hatte. Ich war zudem von Claßen an ihn empfohlen und ward mit großer
Freundlichkeit und Nachsicht von ihm behandelt, auch an seinen Tisch geladen -
er stand damals in den ersten Jahren seiner hochbeglückten Ehe mit der Tochter
Schellings - und mag mit meiner blöden Unbeholfenheit eine schöne Figur gespielt
haben. Bis zum Ende seines Lebens, das ihm in noch voller Kraft und
glücklichsten Lebensverhältnissen kurz nach der Feier des 100-jährigen
Geburtstages Dahlmann's und kurz vor seinem eigenen 50-jährigen Doktor-Jubiläum
gesetzt war, hat er mir sein Wohlwollen bewahrt. Auch Ratjen, Professor der
Rechtsgelehrsamkeit und Bibliothekar der Universität, Nachfolger Dahlmann's als
Sekretär der Ritterschaft[110],
und seine hochgebildete, kluge und schöne Frau, eine geborene Ackermann, zogen
den ungeschliffenen und vor lauter Blödigkeit fast stummen Fuchs auf Empfehlung
gleichfalls von Claßen sehr freundlich an ihren Tisch; es war damals neben
Hegewisch eines der ersten und gesuchtesten, von einer fröhlichen Kinderschar
belebten Häuser Kiel's. "Der Vater" könnte man sagen, "ewig ernst und düster,
die Mutter helle immerdar." Wie später bei mir, wunderte man sich, wie die
hübsche Frau zu dem weder hübschen noch anziehenden, etwas sonderbaren, im
Grunde freilich wohlwollenden Manne gekommen sei. Auch er hat mir sein
Wohlwollen bis zuletzt bewahrt. Ich meinerseits habe mich eher der Undankbarkeit
oder Rücksichtslosigkeit anzuklagen, die aber auch wieder nur aus der dummen
Blödigkeit hervorging. Die Zeit hat an diesem damals so glücklichen - wie
freilich an so vielen, vielen anderen! - die Gewalt ihres langsamen, aber
unerbittlichen Ganges in einer Weise bewiesen, die mich immer mit Wehmut über
die Hinfälligkeit und Nichtigkeit des irdischen Wesens erfüllt hat, ohne daß es
gerade von außerordentlichen Schicksalsschlägen betroffen worden
wäre.
Ich
trat auch in das philologische Seminar. In Nitzsch, dem Professor der Eloquenz,
wie der Titel des philologischen Professors damals lautete, dem Bruder des
berühmten Theologen Nitzsch (Immanuel), trat uns die lauterste, schlichteste und
tapferste Persönlichkeit, auch sie mit großem Wohlwollen, entgegen. Nitzsch war
eher klein von Wuchs, auch nicht eben gedrungen und untersetzt, dabei aber von
völliger männlicher Entwicklung und mit einem verhältnismäßig großen Haupte und
Gesichte von seltsamem Ebenmaß der gewölbten und gespaltenen Stirn, der leise
gebogenen, die Linie der Stirn wiederholenden Nase, feinem Munde und
hervortretendem Kinn. Unter sein sehr wohl getroffenes Bild hat er die so
wahren, für sein Wesen ungemein bezeichnenden Worte des Euripides gesetzt ******
**** *******, ***** ****** ***** *******, * ******** **** *****[111].
Er war ein schlicht gläubiger Protestant und über seine Stellung zu Personen und
Sachen nie verlegen. Sein Blick hatte etwas ungemein Festes und Fragendes und
vereinte Wohlwollen und Freundlichkeit mit großem Ernste. Er sprach teils nach
natürlicher Begabung, teils infolge eines leichten Schlaganfalles, der ihn vor
einiger Zeit betroffen, deutsch nur langsam und zögernd, und sein akademischer
Vortrag war keineswegs anziehend oder fesselnd, litt auch unter dem von ihm
offenbar nie gefühlten Mangel einer durchgreifenden und beherrschenden
Einteilung des Stoffes. Im Seminar, wo er Latein sprach, fließend und in
wohlgeformtem Gefüge, habe ich ihn nie um das richtige und treffende Wort
verlegen gesehen. Sein eigentliches Gebiet war die "Sagenpoesie der Griechen",
insonderheit der homerischen Gedichte, die er mit guten Gründen einem und
demselben schöpferischen Geiste zuschrieb. Den religiösen und sittlichen Gehalt
des hellenischen Epos und der Tragödie hatte er mit tiefem Blicke erkannt und
durchschaut und wußte ihn mit innerem Anteil überzeugend seinen Hörern
darzulegen, mir zu erbaulichem Genuß und bleibendem
Gewinn.
An
den Professor der Theologie Pelt, an den Kollaborator Lilie, den Hauptpastor von
Nicolai, und Propsten Harms war ich durch den Pastor D. Funck in Lübeck
empfohlen. Sie empfingen mich alle freundlich; näher getreten bin ich ihnen
nicht. Jedoch bin ich von dem berühmten Kirchenvater Harms, wie man ihn wohl
nennen kann, lange ein treuer Zuhörer gewesen. Auf dem damals noch getrennten
Studenten-Chor saß bei ihm die ganze theologische Studentenschaft mit vielleicht
einigen Ausnahmen, auf dem Professoren-Chor die ganze theologische Fakultät
regelmäßig und ausnahmslos. In der ganzen Kirche sah man eine große Zahl von
Stammgästen. Auch seine Gegner konnten sich doch der Macht seiner geistlichen
Persönlichkeit nicht entziehen.
Nicht
unerwähnt lassen darf ich hier den Maler Rehbenitz. Ursprünglich zum Studium
entschlossen und bis zur Universität vorbereitet, hatte er sich der Kunst
zugewandt und mehrere Jahre in Italien verbracht, besonders in Rom, wo er sich
den Nazarenern[112]
angeschlossen hatte. Reisebeschreibungen und Erinnerungen tun seiner als eines
beliebten, aber bescheidenen Mitgliedes der deutschen Kolonie der Bunsen'schen
Zeit mehrfach Erwähnung. Er war die Anspruchslosigkeit und Herzensgüte selbst,
in der ganzen Kieler Gesellschaft, namentlich als Universitäts-Zeichenlehrer in
Universitätskreisen, die beliebteste und fast verehrteste Gestalt; auch mich
nahm er mit größter Liebenswürdigkeit auf; vom zweiten Semester an wohnte ich
sogar mit ihm in einem Hause bei den Fräulein Pawolofski. Besuche bei ihm hatten
ihre Schwierigkeit, nicht etwa wegen der Einfachheit seiner
Junggesellen-Wirtschaft, sondern wegen der Wortkargheit oder Stoff-Verlegenheit
des meist nur mit freundlichem Lächeln redenden, liebenswürdigen alten Herrn. Er
gab einem dann wohl ein Buch in die Hand und setzte sich an seine Staffelei.
Auch über Italien und die manchen bemerkenswerten Persönlichkeiten, die er dort
kennengelernt hatte, war nichts aus ihm zu entlocken, was vielleicht auch in
meiner Unkunde seinen Grund hatte. Bei alledem hörte ich nicht auf, ihn von Zeit
zu Zeit zu besuchen und, als ich später an die Kieler Schule versetzt wurde,
hatte ich das Vergnügen, ihn hin und wieder bei mir zu sehen. Ein Stein, von
seinen vielen Freunden gesetzt, auf dem alten Kirchhofe erinnert an ihn; das
jetzige Kiel weiß nichts mehr von ihm.
Vom
eigentlichen studentischen Leben schlossen verschiedene Umstände mich aus. Meine
Universitätsjahre sind freudlos und einsam verlaufen. Unangenehm und als eine
amtliche Unwahrheit empfand ich es, daß mir vom Rektor Wort und Handschlag
abgenommen wurde, nicht in eine verbotene Verbindung treten zu wollen, während
doch in Kiel und anderswo mehr als eine Verbindung bestand, die allen vom Gesetz
aufgestellten Kennzeichen des Begriffes einer verbotenen Verbindung entsprachen
und die Albertina eine anerkannte Fortsetzung oder Wiederaufnahme der
allgemeinen deutschen Burschenschaft war. Auch wußten die bemoosten Häupter,
welche die Füchse in eigenen Zusammenkünften über die studentischen
Hauptangelegenheiten und Fragen, das Duell, die Vereinbarkeit des
Verbindungslebens mit dem gegebenen Worte u.a. verhandeln ließen und
unterrichteten, nicht anders als durch Trugschlüsse die erhobenen Zweifel zu
lösen. Zur Rechtfertigung des Duells hörte ich unter anderem den bekannten
jesuitischen Grundsatz anführen: der Zweck desselben sei ein sittlicher,
also das Mittel dazu auch
sittlich[113].
Übrigens
hätte ich mich auch nicht berechtigt gehalten, meinem Vater die Ausgaben
zuzumuten, die eine ganze Hingabe an das Studentenleben kostet. Zwar wäre er,
mindestens vom Jahre 1846 an, wo die Butter- und Fettwarenpreise zum ersten Male
eine entschiedene Neigung zum Steigen zeigten, - die Butter von 6 auf 8
Schilling, d.h. von 4½ Groschen auf 6 Groschen stieg - sehr wohl imstande
gewesen, mich in gleicher Weise zu halten, wie so manche minder gut gestellte
ihre Söhne hielten. Aber die Erinnerungen aus meiner Kindheit an die Kate und
den Bettelstab wirkten wohl, ohne daß mein Vater je eine Ahnung davon gehabt
hat, so nach, daß ich versuchte, von den Sendungen an Butter und einigen anderen
Eßwaren abgesehen, mit meinen Stipendien allein auszukommen. Das hielt anfangs
schwer, obwohl ich zu dem Convikt[114]
bald auch noch ein theologisches Stipendium, seit 1846 auch das philologische
und den Schaßianischen Preis[115]
für eine Abhandlung über Aristoteles' Politik zur Verfügung hatte. In Kleidung
und Nahrung schränkte ich mich auf das Äußerste ein; das Mittagessen zu 4
*[116]
bei dem in der Studentenwelt wohlbekannten Schacht, war an Inhalt wie Umfang und
Zubereitungsart mehr als bescheiden; erst das Butterbrot am Abend machte meinem
Hunger ein Ende. Meinen Sommerrock, noch von Lübeck herstammend, fanden
Jungclaußen's, als sie mich einmal besuchten, anstößig. Ich habe auf diese
Weise, wie ich damals ausrechnete, meinem Vater auf der Universität nicht mehr
als 100 *[117]
gekostet und konnte mich seit etwa meinem 22. Jahre als unabhängig von seiner
Tasche und auf eigenen Füßen stehend ansehen. Einige wenige Bekannte bildeten
meinen gewöhnlichen, aber spärlichen Umgang, und namentlich die
Sonntag-Nachmittage starrten mich oft mit schauriger Öde an; von Theater oder
sonstigen Vergnügungen war keine Rede.
Als
ein Ereignis stellte sich dem Fuchse ein Konflikt der Studentenschaft mit dem
akademischen Senat dar. Prof. Herrmann, später in Heidelberg, zuletzt Präsident
des evangelischen Oberkirchenrates, hatte ein wiederholtes Verspäten zu rügen
sich wohl für berechtigt gehalten. Die Herren Corps-Studenten von der Holsatia,
der Verbindung des Adels und seines Schweifes, empfanden das als ehrenrührig.
Sie erschienen in Masse in seiner Vorlesung und trampelten ihn aus und heraus.
Die eingeleitete Untersuchung führte zu einer ziemlich langen Reihe von
Straferkenntnissen gegen fast lauter Mitglieder der ziemlich ausschweifend
lebenden Holsatia, von denen, wenn ich nicht irre, 10 oder 12 relegiert wurden.
Jetzt kamen auch die anderen Verbindungen in Bewegung, und weil sie in dem
gegenwärtigen Falle sie brauchen konnten, auch die übrigen Studenten außerhalb
der Verbindungen. Als das Urteil gesprochen und die Verurteilten sofort die
Stadt verlassen mußten, zog die ganze Studentenschaft unter erregter Teilnahme
auch der Bürger, die wohl schon für eine ihrer Nahrungsquellen bangten, hinaus
aus der Stadt nach der nächsten Gemeinde Gaarden, wo das Abschiedsgelage
gehalten wurde. Bei diesem ließ die Ankündigung eines der edlen Junker, der die
Spuren seines "Studiums" in dem Gesichte trug, an seine Genossen, sie möchten
mal herauskommen, einige Freundinnen wünschten sie noch zu sehen, einen Einblick
tun in das Leben, in welches die Leiter der Universität einen Eingriff tun zu
müssen geglaubt hatten. Es gab Schriften und Gegenschriften über das
weltbewegende Ereignis, das bald genug der verdienten Vergessenheit anheim
gefallen war. Ein unliebsames Aufsehen erregte es, als von dem König, an welchen
die Verurteilten Berufung eingelegt hatten, die Strafen der hohen Herrn, die in
Kopenhagen Bekannte und Verwandte in den maßgebenden Stellungen gehabt haben
werden, eine bedeutende Milderung erfuhren.
Ein
erstes Anklopfen einer wahrhaft geschichtlichen Bewegung und einer neuen
Entwicklung für Schleswig-Holstein wie für Deutschland war der Fackelzug, der in
demselben Semester kurz vor dem Auseinandergehen in die Ferien von der
Studentenschaft 4 Männern gebracht wurde, die als bewährte Vertreter der
schleswig-holsteinischen Ansprüche anerkannt waren: Droysen, Olshausen, Falck
und Hegewisch[118].
Von den Reden erinnere ich nur zwei abgerissene Äußerungen aus der von Droysen
und aus der von Olshausen. Droysen, damals im Schiff'schen Hause in der
Schloßstraße wohnend, erste Tür südlich, wies auf den Beruf mehrerer deutscher
Universitäten hin, wie Königsberg, Bonn u.a., auch ein Stück Grenzwehr mit zu
übernehmen; diese Aufgabe sei auch Kiel geworden. Olshausen, der Advokat, und
seit 1830 der leise, aber bedeutsam für die politische Bildung seiner Landsleute
wirkende Herausgeber des "Correspondenzblattes", damals im Hause von Dr. W.
Ahlmann wohnend, sprach gleichfalls aus dem Fenster seiner Stube wie Droysen -
ich meine, aus dem nördlichsten - zu der in der Holstenstraße zusammengedrängten
Menge. Plötzlich ward er aus derselben durch einen Ruf unterbrochen: Lang lebe
Sr. Majestät König Christian VIII! Eine Bewegung entstand gegen den Urheber,
einen dänischen Matrosen, wie es hieß, - und es schien zu Gewalttätigkeiten
gegen ihn kommen zu müssen. Da fuhr Olshausen ruhig, als wenn nichts geschehen,
mit den Worten fort: Lassen wir uns nicht stören durch die Meinung eines
Andersdenkenden, und die Rede hatte ihren ungestörten Fortgang. Der an sich
unbedeutende Vorfall ist für die Dänen und Schleswig-Holsteiner gleich
bezeichnend: welcher deutsche Matrose hätte in einem entsprechenden Falle in
Kopenhagen auch nur das Bedürfnis empfunden, geschweige die Dreistigkeit oder
den Mut gehabt, die Gefühle der umgebenden Menge in ähnlicher Weise zu reizen.
Andrerseits, was hätte in solchem Falle ein dänischer Redner und eine dänische
Volksmenge in ihrer patriotischen Erregung getan? Nicht mit heiler Haut wäre der
Rufer davongekommen. Tugenden und Fehler liegen bei Nationen wie Einzelnen in-,
nicht nebeneinander.
Es
war das erste Mal, daß die schleswig-holsteinische Bewegung an mich herantrat.
Ich wußte damals, obwohl ich 1838 die schwarz eingefaßte Nummer des
Correspondenzblattes vom 24. März mit der Todeskunde und dem meisterhaften
Nachruf seines Freundes Hegewisch zu tiefer, wenngleich unverstandener Bewegung
gelesen hatte, von Lornsen und seinem Verdienste, von Schleswig-Holstein und
seiner Geschichte oder seinem Rechte nichts. Ähnlich wird es mit sehr wenigen
Ausnahmen bei allen meinen Genossen gestanden haben. Ich erinnere auch nicht,
daß ich - was vielleicht aus meinem damaligen Gemütszustand erklärbar ist, -
ernstliche Anstrengungen gemacht hätte, mehr davon zu erfahren, oder Gelegenheit
gefunden, öfter darauf
zurückgeführt zu werden. Gelesen an der Universität wurde jedenfalls die neuere,
vaterländische Geschichte nicht, unter welchem Schilde sich ja sonst die
schleswig-holsteinische Geschichte neben der dänischen ganz gut hätte vortragen
lassen, und wie ich sie von 1854-63 in der Kieler Sekunda ganz ungestört
vorgetragen habe. Weitere Anregungen gaben nur das Correspondenzblatt und
gelegentlich Volksversammlungen, zumal seit dem Erscheinen des offenen
Briefes[119],
8. Juli 1846. Ganz recht hatte daher Theodor Olshausen, als er in einer der von
ihm gehaltenen Versammlungen, mutmaßlich 1846, das sofort und für immer in
meinem Gedächtnis haftende Wort sprach: Ich zweifle nicht an dem Willen meines
Volkes, aber ich zweifle an seinem Wissen! Olshausen war einer der wirksamsten
und furchtlosesten Führer seines Volkes; es ist ein Unrecht, daß noch keine
Kieler Straße den Namen eines seiner verdientesten Mitbürger
festhält.
Der
Winter von 1844 auf 45 war durch seine Strenge wie seine Dauer ein
ungewöhnlicher. Der Hafen und ein gut Stück der Ostsee war schon früh mit einer
unzerbrechlichen Eisdecke belegt; noch gegen Ende April, als ich aus den Ferien
nach Kiel zurückkam, war die Förde nicht frei von Eis. Grade am ersten
Auferstehungstage trat das so lange und so heiß ersehnte Tauwetter ein, zu
solcher Wirkung, daß die Kirchgänger im Lensahn'er Gasthause, wie ich lebhaft
erinnere, ihre Freude in gegenseitiger Beglückwünschung laut werden
ließen.
Seit
dem zweiten Semester wandte ich mich mehr der Philologie zu. Leider aber, wie
ich zu spät erkannt habe, doch auch jetzt noch nicht ganz und vor allen Dingen
auch nicht mit jener festgestellten und folgerichtigen Methode, wie sie jetzt
allgemein in Übung ist. Ohne ein begrenztes und klares Ziel vor Augen ging ich
im Grunde meinen Neigungen und augenblicklichen Neigungen nach. Die persönlichen
Verhältnisse kamen dazu. Weder Nitzsch noch Forchhammer zogen mich an; der
letztere gab unter verschiedenen Titeln doch immer nur seine
Wasserdunst-Theorie[120]
über die hellenische Sagenwelt und Religion. Wenn mir aber auch die
Grundanschauung, daß der Grieche alle Vorgänge und Erscheinungen des Naturlebens
als Taten oder Leiden bewußter Wesen ansehe - *** heißt nicht: es regnet,
sondern er regnet! - durchaus einleuchtete, so konnte ich doch in dem Versuche,
die gesamte griechische wie römische Sage in lauter Naturerscheinungen
umzudeuten und in den homerischen Gedichten einen bewußten Doppelsinn bis in das
einzelne Wort und jeden einzelnen Vorgang hinein nachzuweisen, nicht anders als
eine unverzeihliche Zerstörung und Entseelung des erhabensten aller Kunstwerke
erkennen. Als ich daher bei ihm griechische Altertümer belegt und nichts als
derartige Deutungsversuche erhalten hatte, bin ich ihm nicht wieder auf den Leim
gegangen. Nitzsch schreckte ab durch seine Schwerfälligkeit und Verworrenheit
und hatte große Mühe, auch nur seine Seminar-Mitglieder zu seinen Vorlesungen
heranzuziehen. Ich erinnere, daß er diese geradezu zur Rede stellte, wir sollten
sagen, was wir denn eigentlich hören wollten, dann wolle er das lesen. Der
einzige Privat-Dozent der Philologie, Dr. Vollbehr, später Rektor in Glückstadt,
war kaum bekannt, obwohl er sich im Lateinschreiben bemerkbar gemacht
hat.
Dagegen
zog mich Justus Olshausen, Bruder des Advokaten, später nach Königsberg berufen
und Jahre lang gefeierter Leiter des preußischen Universitätswesens, durch die
Klarheit und Schärfe seines Vortrages, durch die vollendete Herrschaft über das
eigentümliche Gebäude der hebräischen Sprache, Grammatik und Poesie dermaßen an,
daß ich nicht bloß zunächst hebräische Collegien bei ihm belegte, wozu wohl
meine theologischen Interessen den Übergang bildeten, sondern daß ich auch das
zeitraubende Wagnis unternahm, das von ihm angekündigte Publikum über Arabisch
zu belegen. Einmal eingetreten in diese ganz neue Welt des Orients und der
semitischen Anschauungsweise konnte ich mich nicht wieder davon losmachen. Bis
zum Ende meines Kieler Aufenthaltes habe ich als einziger Schüler auf seinem
Zimmer wöchentlich 2 Stunden arabisch getrieben und wohl mindestens 2 Jahre lang
täglich die beiden ersten Stunden morgens diesem für mein philologisches Examen
völlig nutzlosen Studium gewidmet. Ich habe nicht bloß einen guten Teil des
wunderlichen Koran, sondern auch die wunderbaren Mackamen des Hariri[121]
gelesen und so aus den unmittelbarsten Quellen die ganze semitische
Weltanschauung kennen gelernt; ein bleibender Gewinn unzweifelhaft für meine
allgemeine wissenschaftliche Ausbildung, der mir auch dadurch nicht
verlorengegangen ist, daß ich seit meinem Fortgang aus Kiel, Michaelis 1847,
kein arabisches Buch wieder angesehen habe und jetzt wohl kaum noch eine Stunde
imstande wäre, arabisch zu lesen oder einen hebräischen Satz zu übersetzen.
Dennoch muß ich ja gestehen, daß der Preis für diesen Gewinn und Genuß bei
weitem zu hoch gewesen und das Haupthindernis für die Vertiefung in die
griechische und lateinische Sprache und Literatur geworden ist. Erklärlich wird
dieser Irrweg meiner nicht durch Trägheit oder Zeitverschwendung
beeinträchtigten Studien zum besten Teil vielleicht dadurch, daß auch unsere
damaligen Professoren im Besitz einer bewährten Methode nicht waren und die
Wichtigkeit übersahen, uns Blinden gleich den rechten Weg zu zeigen und die
großen Aufgaben und Ziele unserer Bemühungen nachzuweisen. Von Text-Kritik,
Handschriftenkunde, Paläographie, worin jetzt das philologische Studium
vielleicht aufzugehen in Gefahr ist, wußten offenbar auch unsere akademischen
Lehrer nichts oder doch nicht genug, um uns einzuführen. Ich bin aber überzeugt,
daß es für einen gründlichen Kenner der griechischen Tragiker, des Plato, selbst
des Aristoteles, andererseits des Horaz, des Tacitus oder des Catull, Tibull und
Properz nicht schwer gehalten haben könnte, uns zu eingehendem Studium zu
gewinnen und für einen oder den anderen Meister zu begeistern. Im Homer war nun
freilich Nitzsch zu Hause, aber ihm ging die Gabe ab, seine Zuhörer durch Leben,
Klarheit und Übersichtlichkeit seiner Vorträge zu fesseln. So konnte es kommen,
daß ich durch Jacob und Claßen in den beiden alten Sprachen besser ausgerüstet
als wohl die meisten Schüler der schleswig-holsteinischen Schulen, die sich
solcher Lehrkräfte auf allen Stufen des Unterrichts nicht rühmen konnten, zu dem
dunklen Wahne gelangte, im Griechischen und Lateinischen wüßte ich ungefähr
schon genug. Später habe ich, zumal als ich seit 1854 Horaz und Tacitus in einer
sehr hochstehenden und sehr glücklich zusammengesetzten Prima zu erklären hatte,
die großen Mängel meiner philologischen Bildung schwer empfunden und durch harte
Arbeit auszugleichen gestrebt. Die eigentlichen Grundlagen der Kritik war es
aber nicht mehr möglich noch unterzubauen. Freilich hat mich Neigung und
Begabung auch nie dahin gezogen; die Vertiefung in die Wurzeln des Einzelwortes,
in seine Grundbedeutung, in die ganze Anschauung von Welt und Leben, von der es
ausgegangen war und in die es ein Einblick gewährte, die völlige und
eindringende Erfassung des Sinnes einer Periode und des ganzen Werkes, dann auch
die Nachbildung der lateinischen Prosa in freier, aber echt römischer Wiedergabe
deutscher Meisterwerke, das sind diejenigen Studien gewesen, die mir den größten
Genuß und später meinen Schülern, hoffe ich, den meisten Nutzen gewährt
haben.
War
ich so nicht auf dem rechten Wege, um ein ganzer Philologe zu werden, so fand
ich, durch die arabisch-hebräischen Studien abgezogen, auch nicht die nötige
Zeit und Kraft, um mich ganz der Geschichte zu widmen. Zwar hörte ich bei Waitz
auch deutsche Altertümer und Geschichte des Mittelalters; aber ein Seminar, wie
es später eine allgemeine Einrichtung wurde und noch ist, zur Einführung in die
ganze Technik des geschichtlichen Studiums und zur Anleitung zu eigenen,
selbstständigen Arbeiten hielt er nicht. Und als gegen Ende meines Kieler
Aufenthaltes Droysen für alte Geschichte ein solches Seminar eröffnete, trat
ich, da er begreiflich eigene Arbeiten von einigem Umfange forderte, von diesem
schon belegten Publicum wieder zurück. Daß ich seine sonstigen Vorlesungen, Alte
Geschichte, Neue Geschichte und die kleineren Publica ziemlich alle hörte,
konnte den Mangel der eigenen praktischen Arbeiten nicht ersetzen. Auch hier war
also von einer folgerichtigen und geflissentlichen Einführung in die Quellen
keine Rede. Auch hier blieben meine akademischen Studien auf halbem Wege stehen.
Hätte ich damals soviel Durchblick und Mut gehabt, von meinem Vater die Kosten
zu einem mehrjährigen Aufenthalt im Auslande zu beanspruchen, oder auf gut Glück
Schulden zu machen, hätte ich auch nur noch später als junger Lehrer in Kiel die
geschichtliche Schulung bei dem jüngeren Nitzsch, der damals Waitz' Nachfolger
geworden war, nachzuholen Zeit und Kraft, vor allem Mut und Leichtsinn genug
erübrigen können, so, bin ich überzeugt, hätte mir nach Nitzsch' Abgang, etliche
Jahre später, es nicht fehlen können, sein Nachfolger zu werden und, wie ich mir
zutraue, auch ihn zu ersetzen. Ich wagte aber auf der Universität nicht, zu
solchen Höhen mein Auge zu erheben und bin durchaus geneigt, darin eine
Nachwirkung des ganzen Druckes zu erkennen, unter dem ich mich von meiner
Kindheit an gefühlt hatte. Die Anspruchslosigkeit kann auch zum Fehler werden.
Als ich damals auf Ratjen's Anregung, der mich durchaus befähigt dazu gehalten
haben muß, bei dem damaligen Rektor, Professor der Philosophie Chalybaeus, meine
Wünsche laut werden ließ, stieß ich auch da durchaus nicht auf taube Ohren. Nur
bei Nitzsch selbst - und das war wohl das Entscheidende - fand ich keine
Ermutigung zu weiterer Bewerbung, was ich bei der erwähnten Lage der Dinge auch
wohl verstand. Es war mir, und wieder muß ich sagen, durch eigene Schuld oder
doch durch eigene Blindheit, nicht beschieden, zu dem Berufe eines akademischen
Lehrers aufzusteigen, den ich gern gestehe, für den schönsten und höchsten auf
Erden gehalten und oft ersehnt zu haben.
Droysen
war übrigens ein unzweifelhaft anregender Lehrer; ein kleiner Mann von großer
äußerer Lebendigkeit und Beweglichkeit, lebhaften, fast unsteten Augen und
lebhaftem, den inneren Anteil an der Sache wiederspiegelndem Vortrage,
ursprünglich auch er bekanntlich Philologe und erst infolge seiner Schrift über
Alexander zu einer Geschichtsprofessur berufen. Er hatte starke politische
Interessen vom Standpunkt des später sog. Alt-Liberalismus und ließ dieselben
auch in seinen Vorlesungen stark genug hervortreten, ist bekanntlich später auch
im Frankfurter Parlament als praktischer Politiker tätig geworden, in den
Gesamtversammlungen wider Erwarten und Berechnung ebenso schweigsam wie der
sonst so zurückhaltende und fast schüchterne Waitz wider Erwarten beredt, dank
wohl hauptsächlich seiner gründlichen juristischen Bildung und seinem
eindringenden Studium des deutschen Reichsrechtes, das ihn namentlich befähigte,
in den Verhandlungen über Verfassung und Grundrechte ein Achtung gebietendes
Wort zu führen.
Mit
großem Nutzen hörte ich auch den Prof. der Philosophie, Chalybaeus; seine
Geschichte der neueren Philosophie[122]
- die ihn von einem Dresdener Gymnasium auf die Universität geführt hatte, -
seine überaus klare und faßliche Einleitung in die Philosophie veranlaßten mich
zu eigener Arbeit auf diesem Gebiet, und mit Interesse und Nutzen suchte ich mit
Hilfe der Erdmann'schen Quellensammlung[123]
mich in das Verständnis der berühmtesten Meister des Faches selbstständig tiefer
einzuarbeiten. Doch muß ich gestehen, daß die philosophischen Systeme eines
Kant, Fichte, Schelling und Hegel als solche mir immer ein Buch mit sieben
Siegeln geblieben sind, obwohl ich andrerseits auch nie mir eingebildet habe,
daß ich von ihnen über die Natur der Dinge oder das große Rätsel des
Menschenlebens besondere neue Offenbarungen zu erhoffen hätte. Soviel aber habe
ich doch - und das bezeugt mir auch mein Staats-Zeugnis - aus diesen
philosophischen Kollegien und Arbeiten davongetragen, daß ich einen Gegenstand
oder eine Frage anzufassen, durchzuführen und zu einem Abschluß zu bringen, mit
anderen Worten: daß ich methodisch denken lernte und das Bedürfnis in mir
ausbildete, jede wissenschaftliche Arbeit zu einem in sich wohl gegliederten und
richtig geordneten Ganzen zu gestalten oder, wenn ich mich der Chalybaei'schen
Dreiteilung bedienen soll, nach Prinzip, Vermittlung und Zweck zu
bearbeiten.
Die
interessanteste Vorlesung, die ich je gehört habe, lag ganz außerhalb des
Kreises meiner Studien, die über populäre Astronomie von
Scherk.
Scherk
war ohne Zweifel, wie man weniger an seinem Gesichte als an seinem Wesen bald
merkte, semitischen Blutes und stammte, meine ich, aus dem Polnischen;
wenigstens erinnere ich, daß er meist mit sichtlicher Genugtuung uns erzählte,
Copernikus, Copernik, sei nicht deutschen, sondern slawischen Stammes gewesen.
Als ich ihn zum ersten Male bei Meldung zum Convikt-Examen sah und sprechen
hörte, gehen, schreiben, sich bewegen sah, war mir die Schnelligkeit aller
seiner leiblichen wie geistigen Operationen ein wahres Wunder; so etwas war mir
noch nicht vorgekommen. Seine erwähnte Vorlesung nun, die viel gehört wurde,
fesselte durch die ungemeine Lebendigkeit des Vortrages, durch den Eifer und die
sichtbare, oft durch Ströme von Schweiß bezeugte Bemühung, uns die Sache durch
Worte wie Demonstrationen so klar wie irgend möglich zu machen. Eine solche
Auseinandersetzung, bei der er bald auf dem Katheder war, bald an den Bänken
herumging, die lebhaften Augen bald auf diesen, bald auf jenen gerichtet,
pflegte er mit einem Selbstgespräch zu schließen: ist's recht? oder gar: ist's
recht, Scherk? Gewiß! - An der politischen Bewegung von Schleswig-Holstein nahm
er den lebhaftesten Anteil, wie auch andere zu uns versprengte Polen. Das
kostete ihn 1852 sein schönes Amt.[124]
Ohne Vermögen, wie er war, sah er sich genötigt, die erste ihm gebotene
Versorgung als Lehrer der Mathematik an der Bremer Gewerbeschule anzunehmen,
hierin weniger glücklich als seine sämtlichen Schicksalsgenossen, die meist alle
an größere Universitäten berufen wurden. Nur Pelt hat auch seine akademische
Tätigkeit verloren, ist aber äußerlich wenigstens mit einer guten Pfarre, über
welche seine heimische Universität Greifswald das Patronat hatte, reichlich
abgefunden[125].
Der
schon erwähnte Lektor des Englischen, Lubbren, der sich des Deutschen
vollständig bemeistert hatte, war, wenn schon kein gelehrter Kenner seiner
Sprache oder gar ihrer Geschichte, so doch ein gebildeter Mann. Seine Frau, mit
starkem, faltigem, einst vielleicht schönem Gesicht, handhabte mit echt
englischer Unverfrorenheit die deutsche Sprache und Grammatik in der
ergötzlichsten Weise. Auch ihr Englisch oder Schottisch war wenigstens mir
unverständlich. Beim ersten Anblick konnte sie wohl an eine shakespeare'sche
Hexe erinnern, da sie sich auch sehr wunderlich und altertümlich
kleidete.
Das
französische Lektorat war einem auf nichts gekommenen Adligen überlassen, einem
in Dänemark geborenen und als Dänen sich fühlenden Herrn v. Buchwald, der
längere Zeit, auch während der 100 Tage[126],
in Frankreich gelebt hatte und der französischen Konversation einigermaßen
mächtig war. Obwohl bei ihm wenig zu holen stand, auch eine etwas cynische
Lebensauffassung abstieß, störten wir ihn dennoch regelmäßig aus seiner sonst
durch Vorlesungen nicht unterbrochenen Muße auf und kamen auf sein Zimmer, wo
dann die möglichst triviale Unterhaltung mit Vorlesen von fremden und eigenen
Gedichten wechselte.
Gehört
habe ich auch Müllenhoff, damals Privatdozent und einziger Vertreter der
deutschen Sprachwissenschaft, mehrere Semester sein einziger, aber treuer
Zuhörer, der dennoch froh war, auf diese Weise ein Kolleg zu Stande zu bringen.
Die Holperichkeit seines Vortrages, dessen Versprechungen und Unterbrechungen er
auch noch durch das beständig vor den Mund gehaltene Taschentuch nachhalf, war
geradezu unglaublich. Als ich später meine Frau in das Altertums-Museum führte,
behandelte sie ihn, wie ich bald merkte, ein wenig als untergeordneten Aufseher
und wollte es nicht glauben, daß das ein Professor sein könnte. Wenn er später
nach Berlin berufen worden und eine nicht geringe Autorität in deutschen Dingen
gewinnen konnte, so dient das zum Beweise, daß ein scharf zusammengehaltener
Fleiß bis zu einem gewissen Grade in der Tat das Talent zu ersetzen imstande
ist. Ein Stück der bekannten "göttlichen Grobheit"[127]
kann zur Erhöhung der Wirkung auch nicht schaden.
Auch
über des jungen Nitzsch, des Historikers, Laufbahn und die von ihm doch zuletzt
erreichte Stellung in seiner Wissenschaft habe ich oft im Stillen mich
gewundert. Als Privatdozent in Kiel wenigstens war es mir nur mit der äußersten
Mühe möglich, seinem Kolleg über römische Geschichte, sein eigentliches Feld,
Interesse und Verständnis soweit abzugewinnen, daß ich es bis zu Ende hörte, und
auch, was ich später von ihm gelesen habe, ist mir immer mehr oder minder dunkel
und unverständlich geblieben. Die oft angekündigten, großen Entdeckungen oder
neuen und tieferen Auffassungen verkannter Zustände und Vorgänge scheinen mir
meist auf kühnen Vermutungen und gewagten Deutungen zu beruhen und ein gewisses
Suchen nach übersehenen und aufzuhellenden Dunkelheiten zu
bezeugen.
1846
am 8. Juli erschien der offene Brief. Ich erinnere mich noch an die Stelle, wo
ich zum ersten Male die Nachricht einem ganzen Kreise bestürzter Zuhörer
verkünden hörte. Der Eindruck auf die Bevölkerung war ein tiefer und
allgemeiner. König Christian VIII. verkündete seinen geliebten Untertanen, sie
brauchten sich um die Erhaltung der dänischen Monarchie in ihrem Gesamtbestande
keine Sorge zu machen. Schleswig sei schon 1720 in Dänemark einverleibt und
derselben Erbfolge wie das Königreich unterworfen, - und wenn über gewisse Teile
Holsteins in dieser Beziehung Zweifel beständen, so sei der König unablässig
bemüht und beschäftigt, durch Verhandlungen mit den Mächten allen Unsicherheiten
über die Erbfolge ein Ende zu machen.
Damit
schien die Hoffnung, das Land, wodurch wir an ein fremdes Land gefesselt waren,
durch den in nicht ferner Aussicht stehenden Erbfall ohne Gewaltsamkeit oder
Krieg gelöst zu sehen, abgeschnitten, und die Herzogtümer mußten daher, wenn sie
anders aus ihrer Rechtsauffassung Ernst machen wollten, in jener königlichen
Ankündigung eine bedingte Kriegserklärung erblicken. Alle Schichten der
Bevölkerung nahmen an der nun eintretenden Bewegung und der lebhaften Erörterung
aller einschlagenden rechtlichen, politischen und nationalen Fragen eifrig
Anteil. In dem ahnungsvollen Vorgefühl, daß mit der schleswig-holsteinischen die
deutsche Frage gestellt sei, geriet die ganze Nation, die Universitäten voran,
in eine Erregung, wie sie seit Jahrzehnten nicht vorgekommen war, und wenn am
17. September selbst der deutsche Bundestag einen Beschluß[128]
faßte, der wenigstens alle Rechte vorbehielt, so war das nur ein Beweis, daß
auch diese Körperschaft seit 1822, wo sie sich mit der schleswig-holsteinischen
Frage zum ersten Mal zu befassen gehabt hatte, doch auch einige Fortschritte
gemacht habe. Lebhaft entbrannte der Kampf in der deutschen Wissenschaft gegen
den offenen Brief. Neun Professoren der Kieler Universität, Juristen und
Historiker, vernichteten die geschichtliche Grundlage des offenen Briefes, das
geheimgehaltene, aber doch bekannt gewordene Gutachten einer eigens dazu
angeordneten Kommission, über deren Ergebnis sich der König aber dennoch, weil
es ihm nicht paßte, hinweggesetzt hatte.[129]
So war die Wirkung des offenen Briefes das gerade Gegenteil seiner Absicht: er
erregte Schleswig-Holstein und Deutschland, er klärte zu früh beide über die
Ziele und Mittel der dänischen Regierung auf, er tat das Beste, um die
Rechtsfrage zur allseitigen Erörterung und Kenntnis zu bringen, das Landesrecht
zu einem Besitz des nationalen Bewußtseins des deutschen Volkes zu machen. Als
der König im Spätsommer seinen gewohnten Badeaufenthalt in Wyk auf Föhr nahm,
trat ihm die Stimmung des Landes in unverkennbaren Zeichen entgegen. Noch mehr
war das der Fall in Holstein, wo er auf dem Plöner Schlosse seinen Geburtstag,
den 18. September, feierte und in einem erneuten Erlaß[130],
voll landesväterlichen Wohlwollens und ungewohnten Herzensergusses, seine
Untertanen von seinen landesväterlichen und wohlmeinenden Absichten zu
überzeugen suchte. Gewiß sehr mit Unrecht wurde die Erwähnung seines an dem Tage
zu Gott gerichteten Gebetes als eine Heuchelei angesehen. Christian VIII. konnte
als dänischer König in dem Bemühen, seinen Staat vor dem Zerfall und seine
Untertanen vor Unruhen und Krieg zu bewahren, ein Unrecht unmöglich erblicken.
Rechte, die er als solche anerkannte, war er nicht gemeint zu verletzen. Daß die
Rechtsfrage in dem gegenwärtigen Falle zu einer nationalen Frage erwachsen
werde, davon hatte er und auch andere in Dänemark keine
Ahnung.
Im
Jahre 1847 bearbeitete ich eine schassische Preisfrage[131]
über die Politik des Aristoteles; sie sollte mir die Mittel liefern zu einem
einjährigen Studium im Ausland und hat es auch getan. Außerdem aber lernte ich
aus seinen eigenen Schriften einen der größten und hellsten Geister aller Zeiten
kennen. Seine Sprache fand ich so schlicht und einfach, so klar und
einleuchtend, daß ich mich wunderte, wie ein Philosoph so schreiben könne. Als
ich später in Berlin bei Trendelenburg näher mit seiner Ethik bekannt wurde,
fand ich den Grundgedanken derselben, daß die Entwicklung des Einzelwesens zu
dem vorgesteckten *****[132]
die **********[133]
verbürge, daß der voll ausgereifte, der vollendete Mensch notwendig zugleich der
glückliche, Entwicklungsreife und Glück untrennbar und notwendig miteinander
verbunden seien, unwidersprechlich richtig und treffend. Der leiblich und
geistig gesunde und normale Mensch ist mit Notwendigkeit auch der glückliche
Mensch, er allein erfüllt seine Bestimmung, wer aber das tut, ist eingegangen in
die große Harmonie der ewigen Allmacht, Weisheit und Güte. Weniger haltbar
erschien mir aber später seine Tugendlehre als einer ****[134]
und namentlich viel tiefer die Auffassung Luther's, der gegen diesen gehaßten
Heiden in einem seiner Briefe den Satz aufstellt: nicht durch Übung im
Guthandeln werden wir allmählig gut, sondern durch Gutsein gelangen wir zum
Guthandeln. Ein guter Baum kann eben nicht schlechte Früchte und ein schlechter
Baum kann nicht gute Früchte bringen. Man kann keine Trauben lesen von den
Dornen. Die Frage bleibt also immer: wie werden wir gut, wie werden wir das, was
wir werden sollen?
Das
Latein meiner Abhandlung war mir, wie ich meine, nicht übel geraten, aber von
den sphalmata hatte ich mich noch immer nicht frei gemacht; die Preisrichter
waren aber so human, sich an einem Partizip offertis von offerre[135]
und dem irreleitenden offerte nicht allzu sehr zu stoßen. Dagegen rechneten sie
mir die Schlußbemerkung, daß niemand jetzt exardescente per Germaniam patriae
studio atque amore umhin könne, laetissimas spes concipere[136]
- so glaube ich ziemlich genau die Worte der nie wiedergesehenen Abhandlung zu
erinnern - zum Lobe an.
Mit
dem Ende des Sommersemesters 1847 verließ ich Kiel, um demnächst im Oktober mit
Gidionsen zusammen, der auch bis dahin in Kiel und auch nicht eben anders, als
ich, studiert hatte, nach Berlin zu gehen.
Es
war meine erste größere Entfernung von der Heimat, meine erste größere Reise.
Die damalige Hauptstadt Preußens bot freilich des Neuen, Niegesehenen und
Wunderbaren viel: die Größe der Stadt, wogegen ja selbst Hamburg zurücktrat, die
stattlichen Bauwerke, die Sammlungen, die Berühmtheit und Zahl der akademischen
Lehrer, dies alles machte freilich auf mich den bedeutendsten Eindruck, war aber
trotz meines Eifers, zu lernen und alle Gelegenheiten, die sich mir nun boten,
gewissenhaft zu benutzen, nicht imstande, dem Gefühle der Verlassenheit,
Vereinsamung, dem Trübsinn das Gegengewicht zu halten, der mich den ganzen
Winter niedergebeugt hat. Namentlich um die Weihnachtszeit und auch später noch
befand ich mich auch körperlich in einem vor allen, auch meinen Eltern und
meiner Schwester verhehlten Zustande, daß ich ernstlich um meine Gesundheit zu
bangen Ursache hatte. Wenn ich beim unvermuteten Schlage der Universitäts-Glocke
zusammenfuhr, auch gegen andere Arten von Schall- und Lufterschütterungen aufs
äußerste empfindlich war, ein dumpfes Sausen und Benommenheit des Kopfes mir das
Denken erschwerte, so glaubte ich wohl nicht ohne Grund, auf eine starke
Angegriffenheit meiner Nerven dies zurückführen zu müssen. Vielleicht ist es
mein Glück gewesen, daß der Winter Gelegenheit bot, Tag für Tag auf den weit
überschwemmten Wiesen bei Moabit mit den ersten Schlittschuhläufern der
Großstadt zu wetteifern und in stählender Frostluft das kranke Blut in Bewegung
zu setzen. Nie in meinem ganzen früheren und späteren Leben habe ich so
regelmäßig gelaufen als in Berlin.
Kollegien
hatte ich soviel belegt, wie irgend möglich: Seminar bei Lachmann und bei Böckh,
Altertümer bei Böckh, Allgemeine Erdkunde bei Ritter, Experimental-Physik bei
Magnus, Aristotelisches Seminar bei Trendelenburg, Homer bei Georg Curtius,
Lucrez bei einem Privat-Dozenten Märker, außerdem wohl noch einige Publika, z.B.
auch Italienische Literatur-Geschichte.
Böckh's
olympische Ruhe und heitere Laune, die völlige Beherrschung des Stoffes, die
angenehme Gemächlichkeit des Vortrages, dem nur einige vergilbte Blätter und
Zettel als äußere Stütze dienten, sagte mir ungemein zu. Als in seinem Seminar
der Verfasser der zu besprechenden Abhandlung ausgeblieben war und der bestellte
Recensent erklärte, er wisse nicht, was er über diese Abhandlung sagen solle,
denn sie wäre von Anfang bis zu Ende abgeschrieben, meinte Böckh schmunzelnd,
das wäre dann doch wenigstens etwas, das darüber zu sagen wäre. - Lachmann's
sarkastische Schärfe und ganzes Wesen hatte nichts gewinnendes. - Ritter's
gewaltige Gelehrsamkeit blieb doch für den Hörer ohne großen Nutzen: statt der
allgemeinen Erdkunde erhielten wir in dem langen Wintersemester nicht mehr als
die Hälfte einer Einleitung in die Geschichte der geographischen Wissenschaft
bis zum Beginn der neuen Zeit. - Experimente wie von Magnus hatte ich freilich
noch nicht gesehen, und eins oder das andere mag ja auch aus der Physik hängen
geblieben sein; aber Nutzen für mein Fachstudium habe ich begreiflicher Weise
nicht davon gehabt. Mit allergrößtem Interesse und auch nicht ohne Nutzen hörte
ich dagegen die Meteorologie bei Dove, dem Schöpfer dieser Wissenschaft, der
keine Vorlesung ungewürzt durch einen natürlichen, nie aufdringlichen Humor
ließ. Das größte Auditorium war bis auf den letzten Platz gefüllt. Einen
angenehmen, überaus tüchtigen und gewissenhaften Lehrer fand ich in
Trendelenburg, an den ich auch eine Empfehlung hatte, und in dessen
Familienkreis ich an seinen Dienstag-Abenden, neben anderen Hörern und Freunden
seines Hauses, stets auf freundliche Aufnahme rechnen konnte. Seine Frau, eine
schlanke, anmutige Erscheinung, war eine Tochter des Grammatikers Heyse, Mutter
einer lieblichen Kinderschaar.
Den
Lucrez benutzte Märker nur als Träger seiner sehr freien religiösen und
politischen Ansichten; ich merkte sehr bald, daß er ein sehr mäßiger Lateiner
war, wie es deren unter den Mitstudierenden überhaupt offenbar eine große Menge
gab. Durch Hospitieren lernte ich auch andere Berühmtheiten der Universität
kennen, z.B. den eben aus Ägypten von seiner großen Forschungsreise
schwerbeladen heimgekehrten Lepsius, der keinen seinem Rufe entsprechenden
Eindruck auf dem Katheder machte, den großen Textkritiker und Schweiger in 7
Sprachen, Immanuel Bekker[137],
die beiden sehr verschiedenen Historiker Raumer und Ranke, deren erster mir
ungemein trivial, der zweite etwas gesucht vorkam.
Außer
dem sehr regelmäßigen Besuch der Vorlesungen beschäftigte ich mich mit
selbstständigen Arbeiten nicht; auch jetzt lag mir der Gedanke an die
Notwendigkeit einer planmäßigen Konzentration meiner weit auseinander führenden
Studien noch fern, und mein gedrückter Gemütszustand begünstigte überhaupt eine
volle Hingabe an freie und fröhliche Arbeit nicht. Umgang und gesellige
Unterhaltung hatte ich wenig; am meisten noch mit Gidionsen, zu dem aber ein
Herzensverhältnis und rechtes Vertrauen nie aufkommen wollte. Ein Versuch der
Philologen zu regelmäßigen Zusammenkünften führte mich zu keinem befriedigenden
Ergebnis. Manche Stunde verbrachte ich in den Sammlungen, von denen die
natur-historische wegen ihrer ausgezeichneten Anordnung und Übersichtlichkeit
fast den größten Eindruck auf mich machte. Die ägyptischen Altertümer waren noch
nicht so vollständig, auch noch nicht so aufgestellt wie später, reizten jedoch,
da ich derartiges bis dahin nie gesehen hatte, die Wißbegierde sehr. Einen
wahrhaft einzigen Eindruck hatte ich, als ich völlig unvorbereitet eintrat, von
der Wachsfigur Friedrichs des Großen in der Kunstkammer, angetan mit seinem
fadenscheinigen Rock, groben Hosen und Schmierstiefeln, sitzend auf seinem
Stuhle vor seinem Tische, auf dem die Flöte lag, den Krückstock in der rechten
Hand und mit seinen hellen Augen, aus halb rechts gewendetem Haupte den
Eintretenden fragend und ernst ansehend. Mit wahrer Ehrfurcht sah ich die
Totenmaske und die Stopfstellen in dem leinenen Taschentuch, mit dem er sich den
Todesschweiß abgewischt hatte.
Das
Theater besuchte ich nur einige Male, da selbst der höchste Platz auf der
Galerie nahezu einen halben *[138]
preußisch kostete und meine 100 *[139]
für mindestens ½ Jahr reichen sollten. Doch erinnere ich mich der ersten Helden,
Hendrichs, der Frau Crelinger und des Fräulein Stuhr (?)[140]
noch sehr gut und habe jedenfalls gesehen, was ein mit Künstlern besetztes
Theater sein kann. Als größte und erhabenste künstlerische Leistung steht in
meiner Erinnerung noch immer der Vortrag einiger Lieder von Jenny Lind; solche
Musik konnte auch ich verstehen und würdigen, während ich andre hohe und
verwickelte Kunstformen nicht zu schätzen weiß. Hier aber wirkte die Anmut einer
echt weiblichen Erscheinung von germanischem, ich möchte sagen, deutschem
Charakter und einer seltenen Zartheit und Jungfräulichkeit des ganzen Wesens
zusammen mit einer Stimme, welche das Herz ergriff und durchzitterte. Die
Schulung hatte jenen Höhepunkt erreicht, der die Kunst als Natur erscheinen
läßt. Von Gesuchtheit, Künstelei, Bravour-Leistungen, wie man sie so häufig
sieht, keine Spur. Es war etwas wahrhaft Vollendetes, geradezu Außerordentliches
und Unvergleichliches. Sie in einer Oper - ich meine die Hugenotten[141]
- zu sehen, nahm ich einen starken Anlauf, wagte es aber schließlich,
abgeschreckt durch das beängstigende Gedränge, doch nicht. Wie oft habe ich es
nachher bedauert! Die Sängerin hat von jenem Vortrage her für mich immer etwas
ungemein Anziehendes behalten. Zur Musik gehört eine deutsche
Seele.
In
Berlin erlebte ich das große Ereignis der Pariser Februar-Revolution. Je
unerwarteter es hereinbrach, desto größer und mächtiger war der Eindruck, den es
überall machte. Vor allem in Deutschland. Die deutsche Nation hatte seit 1830 im
Stillen mit ihren politischen Ansprüchen, auch ihrer politischen Bildung
ungeheure Fortschritte gemacht. König Friedrich Wilhelm IV. hatte durch seine
bestgemeinten, aber die Wirklichkeit der Dinge verkennenden
Reform-Gedanken[142]
das nationale Bedürfnis mehr geweckt und gereizt als befriedigt. Lange
zurückgedrängt und von oben her unterdrückt, brach es jetzt mit umso
leidenschaftlicherer Gewalt und Heftigkeit hervor. Ein wahrer Rausch der
Hoffnung und Begeisterung für eine deutsche Zukunft von ahnungsvoller
Herrlichkeit ergriff alle Welt, und auch ich hatte meinen vollen Teil daran. In
dem Lesezimmer Fürstenbergs, wo ich auch bisher schon meine Zeitungen gelesen
hatte, ging es mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit her. Man riß sich um die
Zeitungen; das neuste wurde laut vorgelesen und, während das äußere Aussehen der
Stadt seinen gewöhnlichen Charakter bewahrte, gährte es in den Gemütern wie nie,
und ohne daß wir es ahnten, bereiteten sich in den Kreisen der Bevölkerung, von
denen wir keine Ahnung hatten, die unheilvollen Pläne vor, die zu den
furchtbaren Vorgängen des 18. und 19. März[143]
führen sollten. Daß Umsturzmänner von Handwerk sie gemacht haben, leidet wohl
keinen Zweifel; namentlich wird das Polentum einen hervorragenden Anteil daran
gehabt haben. Der große Prozeß gegen die Empörer von 1846[144]
war noch nicht beendet. Die Verhandlungen waren öffentlich. Zum ersten Male sah
ich Vertreter des polnischen Wesens mit Bewußtsein und in Massen. Ich glaubte,
in den Gesichtern, die mir eine ungemeine Ähnlichkeit miteinander zu haben
schienen, etwas zu entdecken, was an den Wolf erinnere; das weißblaue Auge, der
unstete, spähende Blick, die eigenartige Gesichtsfarbe, die Formen vom Bart und
Haupthaar fielen mir ungemein auf und prägten sich meinem Gedächtnis für immer
ein; physiognomische und völkerpsychologische Beobachtungen hatte ich immer
schon mit Vorliebe getrieben, auch in allen meinen Sprachstudien verfolgt; die
Polen waren mir eine neue Welt, die mein Interesse lebhaft erregte. Daß der
Riesen-Prozeß eine große Anzahl von Landsleuten der Angeklagten nach der
Hauptstadt ihrer Sieger und Herren zog, wird angenommen werden dürfen. Daß die
Februar-Revolution die polnischen Hoffnungen aufs neue mächtig beleben mußte,
ist an sich klar; die Befreiung Polens von der Fremdherrschaft schien nicht mehr
in den Sümpfen und Wäldern der Weichsel oder des Bug, sondern auf den Straßen
Berlins erkämpft werden zu müssen. Zu Tage trat aber, solange ich in Berlin
geblieben bin, an diesen Bewegungen und Vorbereitungen nichts. - Mein Aufenthalt
in Berlin erfuhr nämlich eine unerwartete Abkürzung.
Eines
Tages erhielten Gidionsen und ich, - es muß Ende Februar oder Anfang März
gewesen sein - ein Schreiben von unserem Prof. Nitzsch, der zugleich Inspektor
der schleswig-holsteinischen Schulen war. Er hatte soeben eine Reform und
Erweiterung der meist nur 4-klassigen Anstalten zu 6-klassigen so weit
vorbereitet und durchgesetzt, daß sie zu Ostern, wenigstens der Hauptsache nach,
ins Leben treten sollte. Nun fehlte es ihm an geeigneten Lehrkräften, und so gab
er uns beiden denn zur ernstlichen Erwägung, ob wir uns nicht entschließen
wollten, jetzt gleich, so wie wir eben waren, ohne alle geflissentliche und
systematische Vorbereitung darauf, ohne den etwa in Jahresfrist gedachten und
kaum noch ernstlich ins Auge gefaßten Abschluß unserer Studien, ohne
irgendwelche besonderen Wiederholungen auf irgend einem Gebiet ins Examen zu
gehen; wären die neuen Stellen erst einmal mit jüngeren Kräften besetzt, so
würde unsere Beförderung schwierig werden.
Der
Vorschlag kam uns ganz unerwartet und erschien uns im ersten Augenblick kaum
ausführbar, ließ sich jedoch auch nicht wohl so ohne weiteres von der Hand
weisen. Er enthielt mittelbar die Zusicherung, daß wir das Examen leidlich
bestehen würden - wenn ich nicht irre, war geradezu ausgesprochen, wir würden
ein Zeugnis kriegen, das uns empfehlen werde - er verhieß mir im 25-sten,
Gidionsen im 23-sten Lebensjahre eine feste Anstellung, die sich sonst Jahre
lang verzögern mochte. Er ging von einem Manne aus, der unser ganzes Vertrauen
hatte, der uns und die Verhältnisse kannte. So konnte es denn wohl nicht anders
kommen, als daß wir die mancherlei Bedenken, die sich regten und gewichtig genug
schienen, schließlich doch niederschlugen und uns in der ersten oder zweiten
Woche in Kiel zum Schulamts-Examen stellten, für das auch eben nach wesentlich
preußischem Muster eine neue Ordnung ausgearbeitet und in Geltung getreten
war.
Mit
außerordentlicher Humanität und Nachsicht wurden wir geprüft und unsere, wie
sich denken läßt, nicht eben glänzenden Leistungen beurteilt. Die leichteste
Ode, die im Horaz je zu finden ist: "Divis orte bonis"[145]
legte Nitzsch mir vor, und ich übersetzte sie nicht ungeschickt, namentlich
"lucem redde tuae dux bone patriae"[146].
In der Geschichte fragte Droysen nur nach der Bedeutung des Friedens von
Teschen[147],
den ich aber nicht einmal dem Namen nach kannte. Im Hebräischen wußte Prof. Pelt
wohl nicht viel mehr als ich. In beiden alten Sprachen erhielt ich das Zeugnis
für alle Klassen, ebenso im Hebräischen; in den neueren Sprachen wurde garnicht
geprüft und meine für jene Zeit nicht ganz gewöhnliche Fertigkeit kam also für
mich garnicht zur Geltung. In der Philosophie erhielt ich wohl ein
befriedigendes Zeugnis, zum Geschichtsunterricht, hieß es, würde ich weiterer
Studien bedürfen, in der Mathematik könne ich nicht unterrichten, drückte sich
Scherk aus, da ich diesem Gegenstand meinen Fleiß nicht zugewandt habe. Wenn
ich, was wir damals wußten, mit dem vergleiche, was jetzt von den Kandidaten des
Schulamtes verlangt wird und was unsere Abiturienten leisten, so kann ich nicht
verkennen und will es auch garnicht verhehlen, daß wir mit den Leistungen der
letzteren, geschweige denn der ersteren, keinen Vergleich aushalten konnten. Ich
erkenne es jetzt begreiflich erst mit ganzer Klarheit, daß meine
wissenschaftliche Bildung außerordentlich lückenhaft und unvollständig,
vielseitig immerhin, aber auf keinem Gebiete abgeschlossen und vertieft genug
war, um strengeren Ansprüchen genügen zu können. Es ist aber fraglich, ob eine
Ablehnung des Antrages zu wesentlich besserem Ergebnis geführt haben würde, da
bei dem Ausbruch und der Dauer des schleswig-holsteinischen Krieges an eine
ruhige und gedeihliche Fortsetzung der Studien doch kaum gedacht werden
konnte.
Unsere
wohlwollenden Lehrer und Prüfer hatten zu uns doch das Vertrauen, daß wir
wissenschaftlich zu arbeiten gelernt hätten und mit Ernst an unserer Fortbildung
weiter zu arbeiten nicht unterlassen würden. Darin haben sie sich, glaube ich,
sagen zu dürfen, auch nicht getäuscht. Die Ansprüche, welche jetzt an die
Kandidaten des Schulamtes gemacht werden, müssen geradezu als übertrieben und
verstiegen angesehen werden und lassen sich, buchstäblich gehandhabt, garnicht
zur Ausführung bringen. Unseren freundlichen Examinatoren haben wir immer ein
freundliches Andenken bewahrt.
Meldorf
Mit
leichterem Herzen, als ich es lange Zeit gehabt hatte, wanderte ich im März der
Heimat zu. Unterwegs machte ich die Bekanntschaft eines damals öfter genannten
Literaten und verbummelten Edelmannes, Eugen v. Hammerstein, Bruder der
Landvögtin Karl Lempfert von Meldorf, der zu Wagen mir nachkommend mich
aufzusteigen einlud und alsbald Gelegenheit davon nahm, mir nachzuweisen, daß
das nur ein Edelmann, freilich ein rechter und ganzer, tun könne. Er wußte von
den bevorstehenden Ereignissen viel zu reden und bemühte sich sichtlich, die
Wichtigkeit seiner mir bis dahin unbekannten Person ins Licht zu stellen. Unsere
Wege führten bald auseinander.
Auf
Lensahn zu einstweiligem Aufenthalt eingetroffen, sah ich und mit mir meine
Eltern und Geschwister einer baldigen Anstellung entgegen.
Es
kam aber anders. Am 25. oder 26. März wird es gewesen sein, als zuerst die
Gerüchte von den Ereignissen in Kiel und Rendsburg[148]
in sehr unbestimmten Umrissen in unsre Gegend drangen. Bald wurden sie
bestimmter und sicherer; daß die Sache Schleswig-Holsteins nur durch Gewalt
gelöst werden würde, war klar. Die erste Frage war nun, welchen Einfluß diese
Wendung der vaterländischen Dinge auf mein persönliches Geschick und meine
nächste Zukunft haben müsse. An die Ausführung der beschlossenen
Gymnasial-Reform war fürs erste, wie man sich hätte sagen können, nicht zu
denken. Dagegen wurden die bisher nicht dienstpflichtigen zum freiwilligen
Eintritt aufgefordert. Die Kieler Studenten und Turner standen bereits auf dem
Kriegsfuß. Auf's lebhafteste fühlte ich die unabweisbare Verpflichtung, dem Rufe
des Vaterlandes zu folgen.
Da
erhob sich nun von Seiten der Meinigen, auch meines Vaters und meiner
Geschwister, insonderheit aber meiner Mutter, der jedes Verständnis für die
Frage fehlte, ein so leidenschaftlicher Widerstand gegen einen ihr halb
wahnsinnig erscheinenden Schritt, gegen die Gefährdung ihres Sohnes, auf den
alle so große Hoffnungen gesetzt hatten, den sie mit einer Art von Stolz
betrachteten, den sie nun eben in den Hafen einer sicheren und ehrenvollen
Versorgung einlaufen zu sehen geglaubt hatten, daß ich die sofortige und
rücksichtslose Ausführung des gebotenen Entschlusses nicht über mich zu gewinnen
vermochte. Ich will es nicht verhehlen, daß mir selbst der Gedanke an das
Soldatenleben, an die Nächte im freien Felde zu halb winterlicher Jahreszeit, an
die sonstigen Anstrengungen und Gefahren schwer anschlug und die Nachgiebigkeit
gegen Vorstellungen erleichterte, denen ich keine Berechtigung hätte einräumen
müssen. Ich fand aber nicht die Kraft, dem Kummer der geliebten Mutter ruhig ins
Gesicht zu sehen.
Woche
auf Woche verging. Bau und Schleswig[149]
waren einander gefolgt, das Herzogtum von den Dänen geräumt. Der Krieg, den
schon auf die Nachricht von dem Entkommen der Dänen bei Schleswig Pastor Stinde
in Lensahn als einen Scheinkrieg bezeichnete, war aus Gründen, welche damals dem
großen Publikum völlig verborgen blieben, ins Stocken geraten. Endlich hatte
sich meine Mutter soweit an den ihr so furchtbaren Gedanken gewöhnt, daß ich
nach Rendsburg aufbrechen und meine Dienste als Freiwilliger anbieten konnte.
Ziemlich kurz wurde mir auf dem Kriegs-Bureau geantwortet, man nähme keine
Freiwilligen mehr an; das Gesetz über die allgemeine Dienstpflicht werde bald
alle zu den Fahnen rufen. Da hatte ich's! Wieder einmal hatte ich etwas verfehlt
und gefehlt, was Zeit meines Lebens auf meiner Seele lasten sollte. "Ewig still
steht die Vergangenheit."[150]
-
Muße
hatte ich nun genug. Auf dem "Saal" des Lensahner Holländerhauses, wo ich
schlief und mein Wesen hatte, wäre ich bei allem Lärm und Getreibe im Hause
ungestört genug gewesen, um tüchtig arbeiten zu können. Ich habe auch das nicht
getan. Nur die Zeitereignisse drückten mir einige Male die Feder in die Hand. So
hatten die Berichte von Bau und besonders von der Behandlung der deutschen
Verwundeten und Gefangenen mich so empört, daß ich meinem Ingrimm in einigen
geharnischten Sonetten Luft machte, die den Feind als feigen Mörder des Kapitän
Michelsen[151]
brandmarkten. Sie sind nie an ihre Adresse gekommen. Die Gefangennahme des
Kapitän Dirckink-Holmfeldt[152]
bei einem Landungsversuche auf Fehmarn, die später an dem Führer des
Unternehmens so hart geahndet werden sollte, brachte ich im Bänkelsänger-Tone in
ein Lied, das vom Wagrisch-Fehmarn'schen Wochenblatt[153]
unter die Leute gebracht wurde. Die freiheitliche und nationale Bewegung in
Deutschland hatte ich mit einem unaussprechlichen Hochgefühl begrüßt. Von den
Wiener und Berliner März-Tagen habe ich, wohl infolge ungenügender Berichte, und
weil die Freude über das nunmehr vermeintlich für immer gesicherte Nahen einer
schöneren Zeit alles übertönte, nicht den Eindruck des Grausens, den die
ergreifende Tragödie des 18./19. März hervorrufen konnte. Auch den
Wildenbruch'schen Briefwechsel[154]
mit dem dänischen König erinnere ich nicht, damals gleich durchschaut und
gewürdigt zu haben. Ich war ja mit der großen Mehrheit auch der Gebildeten der
Nation in der Politik unschuldig wie ein Kind: daß noch einmal ein Gegenstoß und
Rückschlag wieder kommen könne, vielmehr nach psychologischen Gesetzen kommen
müsse, davon ging niemandem eine Ahnung auf; die Macht und Wohlfahrt
Deutschlands schien für immer gesichert. Die soziale Frage, wie wir sie jetzt zu
nennen gewohnt sind, habe ich damals wenig beachtet. Zwar fiel es mir
schmerzlich auf, daß die gesamte Tagelöhnerschaft, die jetzt zum ersten Mal
anfing, Zeitungen, wenn auch nicht zu lesen, doch zu hören, den Wahltag für das
deutsche Parlament als einen "Haf-Dag"[155]
wie jeden anderen ansah. Getreulich kamen sie mit den anderen nach dem Wahlort
Oldenburg, in ihren Unterhaltungen nur mit der Höhe des Tagelohnes beschäftigt:
"wi schöllt jo wählen!" Getreulich nannten sie einer nach dem anderen den ihnen
völlig böhmischen Namen: Droysen her, und getreulich gingen sie wieder an ihre
gewöhnliche Arbeit. Die Herren aber auf den großen Gütern in Ost-Holstein waren
im Stillen in großer Sorge, zumeist diejenigen, die sich einer herrischen
Behandlung ihrer Untertanen bewußt waren. Der junge Stuckenberg, Schreiber auf
Lensahn, verhehlte seine Befürchtungen nicht, Befürchtungen, die auch der junge
Grundmann, Lehrer in Lensahn und als solcher mit den Tagelöhnern in näherer
Berührung, teilte. Ich verfocht die Meinung, das Volk ließe sich leiten und
müsse geleitet werden. Ernstliche Ausbrüche sozialer Unzufriedenheit sind damals
in der Tat nicht vorgekommen. Es fehlte noch völlig an der Organisation, und für
Schleswig-Holstein fühlte das Herz unterm Kittel so warm wie das Herz unterm
Rocke.
Über
die von Preußen, genauer Friedrich Wilhelm IV. mit Dänemark geführten und mit
törichtster Friedenssehnsucht nach ihrem ersten Scheitern gleich wieder
aufgenommenen Verhandlungen erfuhr das große Publikum nichts. Der Malmöer
Waffenstillstand[156]
oder vielmehr seine Beurteilung durch das deutsche Parlament erst öffnete uns
die Augen. Es wurde die allgemeine und leider ja nicht zu bestreitende
Überzeugung: wir seien verraten. Was wußte der gemeine Mann von der Zwangslage
Preußens? von den verwickelten Rücksichten der hohen Politik? von den
Entschuldigungsgründen, die der preußischen Regierung zur Seite standen?
Schwäche und Feigheit haben kein Recht zur Klage, wenn sie des Unwertes
bezichtigt werden. Die preußische Staatsleitung von damals kann niemand
entschuldigen.
Sie
entschuldigte aber auch nicht die Greuel, für die sie von dem rohen Gesindel der
Frankfurter September-Morde zum Vorwand genommen wurde. Niederträchtigeres als
der Meuchelmord Auerswald's und die Zerfleischung von Lichnowsky ist kaum zu
denken.[157]
Sie haben mich damals mit einem Unwillen, einem Schmerz und einer Trauer um mein
Volk erfüllt, die ich lange nicht verwinden konnte, und bei erneuter Erinnerung
jedes Mal wieder aufwachen fühlte. Es bleibt eine von jenen Tatsachen, die
leider nur zu unwidersprechlich beweisen, daß im Menschen, auch in dem sonst
gutartigen Deutschen, die Bestie nur schlummert.
Mein
Zorn richtete sich auf die Linke, Karl Vogt vor allen, den kalten Atheisten und
hämischen Gegner alles Höheren im Menschenleben, dem ich ein Hauptteil an der
von der ganzen Partei zu tragenden sittlichen Verantwortung zuschrieb. Schon die
Tatsache, daß der Vorschlag eines Gottesdienstes vor der Eröffnung der
Verhandlungen hatte verworfen werden können, gab den Beweis, daß das religiöse
und sittliche Bewußtsein im deutschen Volke nicht die Stärke mehr habe, welche
ich und andere als selbstverständlich vorauszusetzen geneigt waren. So entschloß
ich mich zu einer Petition anzuregen, die von Lensahn und Umgegend an den
Reichstag abgehen sollte, er möge dem Gebahren der Linken kräftiger
entgegentreten. Pastor Stinde, dem ich die Bittschrift vorlegte, war zwar mit
meiner Auffassung von der unserem Volke drohenden sittlichen und nationalen
Gefahr völlig einverstanden, versagte aber seine Mitwirkung und riet von dem
Versuche, eine Petition zustandezubringen, ab. Er wüßte nicht, ob z.B. ein Mann
wie Dr. Völckers sie unterschreiben werde. Da mir jedes Ansehen fehlte, konnte
ich allein auch nicht wohl an die Spitze treten. Ich begnügte mich daher, an die
Wagrisch-Fehmarn'schen Blätter einen Aufsatz[158]
zu richten, der die nach meiner Meinung drohende Gefahr den Landsleuten darlegen
sollte: eine von den Eintagserscheinungen, die heute gelesen werden und morgen
vergessen sind.
So
war der Sommer vergangen, von mir leider verloren, und der Herbst mit dem
halbjährigen Waffenstillstand kam. Ich war auf einige Tage nach Landoldenburg zu
unseren lieben Verwandten gegangen und befand mich in Nanndorf, bei Tante Lene
und Onkel Freitag, als mir von Lensahn ein Kieler oder vielmehr Meldorfer Brief
nachgeschickt wurde. Es war auf Veranlassung von Nitzsch, mit dem ich auch
während des Sommers in Briefwechsel geblieben war, eine Aufforderung des
stellvertretenden Rektors in Meldorf, an der dortigen Schule eine
Hilfslehrerstelle anzunehmen. Sofort ging ich nach Lensahn zurück, antwortete,
obgleich mit Zagen, zusagend und ging nach den kurzen nötigen Vorbereitungen an
den Ort ab, wo der freundliche Gott mir ein so großes Lebensglück, einen Schatz
über alle Erdenschätze, bereit hielt.
Dithmarschen
lag damals noch ziemlich außerhalb der Welt. Durch die Nordsee, Eider und Elbe
mit ihren Nebenflüssen, der Giselau und der Holstenau, sowie deren weiten und
ungangbaren Niederungen, eine Insel, hatte es bis über die Mitte des 16.
Jahrhunderts sein eigenes Leben gelebt und seine staatliche Unabhängigkeit
behauptet. Auch nach der "letzten Fehde"[159]
blieb es nicht bloß im Besitz seiner Selbstverwaltung und Gemeindeverfassung,
sondern auch seines besonderen Indigenats[160]:
bis 1849, wo er aus freien Stücken durch die Wahl eines geborenen Kielers, H.
Karstens, zum Kirchspielvogt, es aufgab, hatte der Dithmarscher das Recht, nur
vom Dithmarscher gerichtet zu werden, d.h. seine Vögte nur aus Landessöhnen zu
nehmen. Die beiden Landvögte ernannte, aber auch aus Eingeborenen, der König.
Dieses Sonderwesen erhielt sich nun bei der jetzt kaum noch glaublichen
Verkehrsschwierigkeit und Abgesperrtheit von dem so nah benachbarten Holstein
auch in den Gewohnheiten, in Sitten und Gebräuchen, Lebensweise und Sprache der
Einwohner in einem Maße, daß ich als Ostholsteiner anfangs geradezu in ein
fremdes Land versetzt zu sein glaubte.
So
stand denn damals Dithmarschen mit "Holstein" - diese Bezeichnung hatte sich
noch aus der Zeit der politischen Getrenntheit erhalten - und dadurch mit der
übrigen Welt nur durch reitende Postboten in Verkehr. Briefe wurden an
bestimmten Tagen und auch nur innerhalb bestimmter Stunden je nach Osten, Norden
und Süden angenommen. Wer die Post geschlossen fand, mußte eine halbe Woche
warten. Personenverkehr nach Osten gab es nur einmal die Woche vermittels des
Wrister Omnibus, der auch erst von 1844, der Erbauung der Altona-Kieler
Eisenbahn[161],
bestand. Seine Ankunft auf dem Hofplatz des Gastwirts Thomas Schmidt war für
Meldorf ein Ereignis, das jedesmal eine Anzahl müßiger Einwohner herbeilockte.
Um dieser unentbehrlichen Beförderung mich bedienen zu können, mußte ich
nachmittags um etwa 4 Uhr mit eigenem Fuhrwerk Lensahn verlassen; dann hatte ich
in Eutin von etwa 6½ bis 10 Uhr zu warten, wo die Post sich in Bewegung setzte.
Mit der kam man morgens gegen 5 Uhr in den noch ungereinigten, übelriechenden
Wartestuben von Neumünster an, um wieder einige Stunden zu warten. Gegen 9 war
man dann mit der Bahn in "der Wrist", gegen 10 in Stadt Hamburg in Kellinghusen,
und dann ging es über Schenefeld, Hohenhörn und Krumstedt durch eine immer ödere
und braunere Gegend, auf Wegen im Urzustande, deren oft 4-5 nebeneinander und
übereinander herliefen, nach der Hauptstadt
Süderdithmarschens.
Mit
recht beklommenem Herzen stieg ich aus und machte am andern Tage meine ersten
Besuche und Ausgänge; zuerst natürlich zu dem einstweiligen Rektor, Konrektor
Dr. Kolster, einem kleinen, sehr gelehrten, angestrengt freundlichen Manne, der
mich sehr freundlich willkommen hieß und über die zu übernehmenden Stunden
unterrichtete. Dann suchte ich meinen mehrjährigen Studiengenossen Dr. Delff aus
Husum auf, der etwas vor mir zum Examen gekommen, in Meldorf als fünfter Lehrer
Anstellung gefunden, in der etwas verwilderten Tertia Ordnung geschafft und so
in der äußerst nachsichtigen Einwohnerschaft eine gewisse Anerkennung gefunden
hatte. Als sehr eifriger Boston- und L'hombre-Spieler und sonstiger Tischgenosse
in vielen Häusern erfreute er sich einer großen Beliebtheit. Da er im
philologischen Seminar nur eine sehr bescheidene Rolle gespielt hatte und, von
einer gewissen formellen Sicherheit im Griechischen und Lateinischen abgesehen,
einer wirklich wissenschaftlichen Bildung entbehrte, war ich sehr verwundert,
als er mir, dem künftigen Sextus, mit einem mir ganz neuen Selbstbewußtsein der
Überlegenheit entgegentrat und mir alsbald mitteilte: Mein Jung, ich spiel hier
die erste Violine! Auf ein erquickliches Verhältnis erweckte das keine Hoffnung;
jedoch bezog ich ein kleines, bescheidenes Zimmer in demselben Hause, wo er
wohnte, um auch mit ihm meine Mittags-Mahlzeiten zu
nehmen.
Am
28. Oktober, dem Geburtstage meiner Mutter, wurde ich, mit dem Seminaristen Bünz
aus Meldorf, einem sehr tüchtigen und wohlwollenden Elementarlehrer, in mein
neues Amt eingeführt, neugierig und besorgt, wie es mir denn wohl in den ersten
Unterrichtsstunden am folgenden Tage gehen würde.
Da
Kolster natürlich die Prima hatte, so mußte ich gleich die Sekunda in den alten
Sprachen, außerdem die sämtlichen Stunden im Französischen und Englischen und
die Geschichte in Quarta übernehmen. Die Sekunda zählte nur 5 Schüler, davon
waren 3 sog. Realisten[162],
sodaß ich den Plutarch mit 2 Schülern, einem sehr tüchtigen, dem jetzigen Prof.
Hennings in Husum, einem weniger begabten, dem jetzigen Hauptpastor in Lunden,
Braasch, begonnen habe. In Prima, wo ich auch noch den Tacitus zu erklären
hatte, war es einigermaßen schwierig, die alten Leute zur Erlernung der
Anfangsgründe des Englischen heranzuziehen und zu kriegen; später wurde der
Anfang in Sekunda gemacht. Von den 7 oder 8 Primanern, mit denen ich damals
anfing, ist die größere Hälfte bereits gestorben, verdorben, verschollen und mit
Bestimmtheit weiß ich von keinem einzigen, daß er noch lebt. Schwierigkeit
versuchte mir auch einmal der größte und ungezogenste unter den Tertianern zu
bereiten und sich Freiheiten herauszunehmen. Mein sorfortiges bestimmtes und
maßvolles Einschreiten genügte, um diesen Versuch zu unterdrücken und jeden
zweiten zu verhindern. Ich sah, daß ich völlig im Stande sein werde, die
Meldorfer Jugend, die ich als mit Unrecht verrufen ansehen mußte, in Zucht zu
halten. Ich war über diese erste Erfahrung sehr froh und dankbar und machte
schon meine ersten Spaziergänge nach 4 Uhr mit sehr erleichtertem Herzen. Da
auch meine Arbeiten für die Schule nicht schwer, die Korrekturen bei so geringer
Schülerzahl unbedeutend waren, so wachte mein lange gesunkener Lebensmut ganz
allmählich wieder auf, besonders auch in Folge des Bewußtseins, daß ich
vielleicht bald meinen Eltern die Freude machen würde, mich in geachteter
Stellung für meine Lebenszeit wohlversorgt zu sehen.
Zu
der Meldorfer Einwohnerschaft konnte ich nicht sofort ein Verhältnis gewinnen;
ganz allein durch meine Schuld. Der Dithmarscher, insonderheit der Meldorfer -
ich rühme es mit dem lebhaftesten Dankgefühl - ist von einer ungemeinen
Zuvorkommenheit, Freundlichkeit und Gastfreiheit gegen jeden Fremden und gegen
jede Fremde; eine Eigentümlichkeit, die ohne Zweifel auf urgermanischem Grunde
ruht, durch die Seltenheit fremder Erscheinungen wohl aber auf diesem
weltentrückten Boden noch genährt und gesteigert worden ist. Die Bevölkerung,
etwas über 3000 an der Zahl, zerfiel, von den Arbeitern abgesehen, in zwei
ziemlich scharf geschiedene Klassen, die Beamten und die "Bürger". Der Bruchteil
der Beamten war stärker als in anderen Orten gleicher Größe, und als Hauptort
Süder-Dithmarschens war Meldorf zunächst der Sitz der königlichen Oberbeamten,
des Landvogts, dessen Stellung durch die Eingangsworte seiner Verfügungen
angedeutet war: Ich, Karl Lempfert, Landvogt von Süderdithmarschen, gebiete
euch, was folgt... und auch die Schlußformel: wonach ihr euch zu richten. Der
Sitz der höchsten Landesgerichtsbehörde bedingte eine ungewöhnlich große Zahl
von Advokaten, 5-6; denn, wie alle freien Völker des Altertums, waren auch die
Dithmarscher von Alters her in Sachen des Mein und Dein äußerst genau; mit daher
ihre Tapferkeit, mit der sie den eigenen Herd verteidigten. Dazu kamen noch 2
Kirchspielvögte, der oberste Steuerbeamte, der Landschreiber für die
Staatssteuer, der Pfennigmeister[163]
für die Landschaftssteuern; dann 3 Pastoren, 4 Ärzte und die "studierten" Lehrer
der "Klasse", wie die gelehrte Schule vielfach im Volksmunde genannt wurde.
Nimmt man hierzu noch einige Pensionäre, den Aktuar[164],
den Kirchspielschreiber, den Organisten, einen oder den anderen begüterten und
gebildeten Hofbesitzer der Nachbarschaft, den Branddirektor, den Apotheker,
einen oder den anderen sonstigen hinzu, so stellt es sich heraus, daß die Zahl
der gebildeten Familien, noch mehr die Zahl der wissenschaftlich Gebildeten
aller vier Fakultäten eine verhältnismäßig ungewöhnlich große
war.
Die
Bürger, selbst die größeren Kaufleute, Gewerbetreibenden, Gastwirte, Ackerbürger
zählten nicht mit. Das war alte Überlieferung, und niemand stieß sich
daran.
In
die "Gesellschaft" mich einzuführen, übernahm Delff, und da ich die Verhältnisse
nicht kannte, ließ ich ihn völlig gewähren, sodaß ich ausschließlich nur bei
denen meine Besuche machte, die er für passend hielt. Da so mehrere Häuser,
unter ihnen auch die Landvogtei, von mir übergangen wurden, so beging ich von
vornherein, ohne es zu wissen und zu wollen, eine ganz unbegründete
Unhöflichkeit gegen alle diejenigen, bei denen mein Freund und Vormund aus
irgendeinem Grunde mich nicht einzuführen für gut fand. Da er vorzugsweise in
Familien verkehrte, wo "patitert"[165],
d.h. Boston[166]
und Whist oder auch L'hombre gespielt zu werden pflegte und auch ohne Einladung,
durch Herbeischaffung eines dritten und vierten, aus dem Stegreif ein Spiel
gemacht werden konnte, so wurde auch ich genötigt, mich in das mir durchaus
nicht zusagende Kartenspiel einführen zu lassen. Da ich dazu ebensowenig Gabe
wie Neigung hatte, so spielte ich, auch noch nach längerer Übung, so gut wie nie
ohne Verlust. Es ging aber einmal nicht anders. Nach dem Spiel wurde ein
einfaches, oder auf Einladung auch wohl reicheres Mahl eingenommen. Um 6 Uhr kam
man zusammen, um 12 Uhr brach man auf; ungezwungene Heiterkeit herrschte; daß
sie, selbst bei größeren Gesellschaften und feierlichen Gelegenheiten, je
ausgeartet wäre, kann ich nicht sagen; nur ein einziges Mal erinnere ich, daß
der Wirt und auch mehrere Gäste angeheitert waren. Der Tee, gleich nach dem
Eintreffen, wurde in freier Unterhaltung mit Herren und Damen genommen; dann
trennten sich die spielenden Herrn und die arbeitenden und die Tagesfragen
besprechenden Damen, jüngere wohl auch zu Gesellschaftsspielen; - um 10 Uhr
führte und ging man zu Tisch, wobei die Paare nicht durch Bestimmung der
Gastgeber, sondern nach eigener Wahl der Herren gebildet wurden. Nicht immer mit
erwünschtem Ergebnis. Meine gänzliche Fremdheit in den gesellschaftlichen Formen
und Tölpelhaftigkeit - anders kann ich's nicht nennen - führte mich das erste
Mal, wo ich eingeladen war, zu einem groben Verstoße, der unzweifelhaft in ganz
Meldorf großes Aufsehen gemacht hat und nicht schmeichelhaft für mich besprochen
sein wird. Ich war beim Advokaten Paulsen geladen. Als ich zu Tisch ging, wählte
zuerst der Wirt, dann die übrigen nach Alter und Stellung sich ihre Damen; noch
war ein unverheiratetes, garnicht mal so sehr viel älteres Fräulein übrig, und
ich beging die Dummheit, nicht zu sehen, daß auch mir die Pflicht zu wählen
oblag und ich die letzte zu führen hatte. Was mag die arme Verschmähte, was
mögen die Wirte und alle übrigen von dem neuen Lehrer an der Klasse für einen
Begriff bekommen haben! Jetzt kann ich mich ja selbst nicht begreifen. Aber ich
bin oft im Leben ungemein tölpelhaft zu Gange gekommen.
Kiel,
Sept. 4. ff.
Ich
unterbreche, zunächst nur auf 5 Tage, meine Arbeit über die Jahre 1863/64, um zu
"Stine Paulsen" zu kommen, dem eigentlichen Kern und Gegenstand meiner
Aufzeichnungen und gehe darum auch über die Zeit bis dahin so rasch hinweg, als
die Sache erlaubt.
Der
Winter von 48 auf 49 ging mir in der angedeuteten Weise recht rasch dahin.
Weihnacht traf ich auf Tangstedt bei meinem Schwager Davids, der dort von seinem
Schulfreunde, Völckers aus Eutin, als Inspektor die Kühe vorteilhaft gepachtet
hatte, mit meinen Eltern oder vielmehr mit Vater und Doris zusammen. Auf einer
Treibjagd beging ich eine unglaubliche Dummheit. Den ganzen Tag hatten die
Treiber kein Stück aufgejagt. Endlich waren wir Schützen an dem Knick
aufgestellt, der eine ziemlich weite Ebene begrenzte, und nicht lange, so kam
ein Reinicke senkrecht auf die Schützenlinie zugesprungen. Er konnte uns
garnicht entgehen. Da aber schoß ich, meines Treffens nach früheren, öfter
gemachten Erfahrungen sicher, mein Gewehr in einer Entfernung ab, die einen
Erfolg unmöglich machte. Sofort machte Reinicke halb links und war bald den
Blicken wie den Schüssen entschwunden. Alle Welt fragte staunend und höhnend und
verdrießlich: Wer hat geschossen? Der Missetäter schämte sich gehörig. Von den
gleichfalls verdrossenen Treibern bemerkte einer: "Na, nu hebbt ja woll all'
scheeten, de Gelehrten un de Verkehrten!" Ich habe seitdem, soviel ich erinnere,
nicht wieder gejagt.
Als
der Frühling näher kam, stellte sich mehr und mehr die Wahrscheinlichkeit der
Erneuerung des Krieges heraus. Am 26. Februar hatte Dänemark den
Waffenstillstand gekündigt[167].
Anfang März wurde ich einberufen, in Rendsburg eingekleidet, nach Wester-Rönfeld
verlegt, und nicht lange danach das ganze Reserve-Jägerkorps in Kiel vereinigt,
um dort ausgebildet und zugleich als Besatzung verwandt zu werden für Stadt und
Hafen, die nur durch sehr notdürftige Schanzwerke gegen eine Landung geschützt
waren. Unsere Kleidung war schrecklich, alte dänische, gefärbte Röcke mit zwei
Reihen Knöpfen und dicker Hede-Ausstopfung[168].
Pastor Stinde aus Lensahn, der mich ganz zufällig eines Tages in der
Jensenstrasse aufgestellt sah, hatte in der Heimat eine entsetzliche
Beschreibung von meinem Aussehen gemacht. Meine Vorgesetzten waren nicht die
angenehmsten, weder Hauptmann Helmund, der bei Schleswig 1848 den Arm verloren
hatte, noch viel weniger der große und grobe Leutnant Lenz, ein Braunschweiger.
Der erstere nannte mich statt bei meinem Namen nur den Schulmeister, die
bekanntlich beim Militär besonders schlecht behandelt werden. Den Unterschied
wissenschaftlicher und seminaristischer Bildung deutlich zu machen, gab es
natürlich kein Mittel. Auch den Kameraden galt ich als Schulmeister, obwohl nach
einiger Zeit einem und dem anderen die Ahnung aufging: he is wat mihr! Angenehm
war es, daß einige Bekannte und Gebildete unter der Kompagnie oder doch im Korps
waren, mit denen man in freien Stunden zusammentreffen konnte. Als Unteroffizier
befand sich auch Stine's Bruder, Hans, darin, der mit mir im selben Jahre
Student geworden war. Quartier nahm ich als sog. Einjähriger mit Sinjen aus der
Probstei, - bei dessen Ohm, dem Advokaten Sinjen in Düsternbrook, dem ersten
Ansiedler dort, wir einige vergnügte Abende zubrachten, - bei einer kirchlich
Harmsianisch gesinnten Wirtsfamilie Niehuus auf dem Walkerdamm. Der Dienst war
nicht schwer, namentlich auch nicht, wenn wir am Ausgang der Förde in Laboe und
Umgegend lagen und uns der Probsteier Gastlichkeit, z.B. bei dem Vater Sinjen's
auf Freienfelde, zu erfreuen hatten.
Eben
fing Anfang Mai die Erde an, sich in das ewig neue Grün des Frühlings zu
kleiden, als sich plötzlich die Kunde verbreitete, das Reservekorps sollte 176
Mann zur Ergänzung an die gelichteten Reihen des 1. und 2. Jägerkorps in Jütland
abgeben. Unter den dazu bestimmten war auch ich. Wir fuhren nach Kiel, und am
Dienstag vor Himmelfahrt setzte sich das Kommando nach Groß-Nordsee, wo
übernachtet wurde, und dann weiter nach Rendsburg in Bewegung. Das Bewußtsein,
daß wir einem ernsteren Abschnitt unseres Soldatenlebens entgegengingen, war,
wenigstens bei mir, kräftig lebendig. Aber in einer Schar junger Männer flieht
eine ernstere Stimmung bald. Am Himmelfahrtstage hatten wir Ruhe, ohne der
Bedeutung des Tages gewahr zu werden. Am Freitag setzte sich die ganze, auch für
die Infanterie-Bataillone vorgebildete und herangezogene Mannschaft nach Norden
in Bewegung.
Über
den Marsch habe ich später in einem meiner Merk-Bücher Aufzeichnungen gemacht,
die ich leider nicht bis zum Ende des Feldzuges fortgesetzt habe. Die wenigen
Blei-Notizen, die ich während des Feldzuges selbst gemacht habe, sind unlesbar
geworden und meine damaligen Briefe in die Heimat finde ich augenblicklich auch
nicht mehr, obwohl ich sicher zu erinnern glaube, daß meine gute Schwester Doris
sie treu aufbewahrt hatte und ich wenigstens den Bericht über Idstedt
1850[169]
noch später gelesen zu haben aufs deutlichste erinnere. - Meine Erinnerung hat
mich nicht getäuscht: eben finde ich die Briefe aus dem Felde in einer anderen
Schieblade als meine sonstigen Briefe und kann dann hier auf dieselben
verweisen. Nur den kurzen, mit Bleistift geschriebenen Bericht aus dem Biwak bei
Veile vom 7. Juli "im Lustgarten hinter der Hecke" will ich hier wiederholen und
aus der Erinnerung noch hier oder da eine Ergänzung
hinzusetzen.
"Soweit
war ich" (mit meinem Briefe vom 3. Juli) "gekommen, als Wilhelm", mein Bruder,
"plötzlich zu meinem größten Erstaunen in die Stube trat; seinen Aufenthalt laßt
Euch von ihm erzählen. Jetzt nur - Wilhelm war natürlich, sowie alarmiert wurde
und der Kampf sich hörbar machte, zurückgegangen auf Kolding - (Ein Irrtum! Wie
der Brief vom 14. Juli zeigt, war W. schon am 5. abends wieder zurückgegangen.
Er hat aber noch unterwegs von dem Kampfe gehört.) "ganz kurz die Nachricht, daß
ich wohl und gesund den traurigen Tag des 6. Juli[170]
durchgemacht habe; die ganze Avantgarde ist wenig oder garnicht im Gefecht
gewesen, auch wir also nicht; ich habe nur 2 Schüsse getan. Sonst war der Tag
stramm, von morgens 2 Uhr (richtiger 1 Uhr) bis abends 7 Uhr auf den Beinen,
ohne Pause, ohne Kaffee oder Frühstück oder Mittag, bloß mit ein bißchen Brot
und Butter versehen. Als wir zuerst dem Feind entgegenzogen, etwa ½5 Uhr, war
die ganze Chaussee von Fridericia nach Kolding schon mit Wagen und Mannschaften,
ohne taktischen Verband, bunt durcheinander, wie das Gefecht sie geworfen hatte,
bedeckt. Fast alle Wagen waren mit Verwundeten besetzt, die meisten, bei weitem
die meisten mit Wunden im Kopfe." Lebhaft erinnere ich einen, dessen Haar, von
dem den Kopf überströmenden Blute, ganz geglättet und steif an den Kopf gelegt
war. Auf fiel mir, daß man keinen Laut des Schmerzes hörte; aber der starre
Ausdruck der Gesichter mit ihrem ehernen Ernste, die Schweigsamkeit und
Stummheit, mit welcher der lange, unabsehbare Wagenzug an uns vorüberfuhr,
machte mir einen desto tieferen Eindruck. Viele, weniger schwer verwundet,
schleppten sich mit Hilfe ihrer Kameraden zu Fuß weiter; viele waren auch
unverwundet. Ernst, sehr ernst aber waren alle. An einer Stelle sah ich, wie man
den jungen Soldaten Sachau, der eben erst gefunden schien, auf eine Tragbahre
brachte, bewußtlos, soweit man sehen konnte, und schwer getroffen, nachher auch,
wenn ich nicht irre, in Christiansfeld gestorben.
"Gott
sei mit euch! Heute geht's schlimmer, macht es wieder gut!" "Heute ist Landsmann
nicht sauber" tönte es hin und wieder aus den Reihen. Es war ein schwerer
Anblick und ein schwerer Gang, den ich nie vergessen werde. Gott sei Dank, daß
er es diesmal noch gnädig mit uns gemacht hat. Einige Male wurden wir noch von
den Verfolgenden beunruhigt, oder glaubten es wenigstens zu sein, nahmen auch -
es war wohl in dem Elbe-Tal[171]
- wieder eine Verteidigungsstellung ein. Einmal, erinnere ich sehr deutlich,
flog, gleichsam ohne alle erkennbare Ursache, ein panischer Schreck auf uns
nieder; alle Welt duckte sich, keiner wußte, warum, und warf sich in den Knick.
Bald sah man, es war nichts gewesen. Bei Veile in dem grünen Tale der Aue war
gerade gemäht und das Heu in den wohlbekannten langen Linien zum Trocknen
aufgerollt. Dahinein legten wir unsere Tornister, möglichst dicht einer an den
anderen, zogen unsere Mäntel an und schliefen die schöne, sternenhelle,
nordische Sommernacht, wie ich wenigstens in meinem Leben nicht wieder
geschlafen habe. Am anderen Tage hatte ich auf der Mühle, eben südlich von
Veile, einen Posten mit einer Rundsicht und einer Aussicht, wie sie schöner
vielleicht an der ganzen cimbrischen Ostseeküste[172]
nicht getroffen wird. - "Es ist für unsere Sache ein harter Schlag, den wir
nicht so leicht verwinden, und er hätte so leicht vermieden werden können; denn
was machen die 30000 Mann bei Aarhuus, ohne einen Feind vor sich zu haben,
während wir einer doppelt und dreifach überlegenen Anzahl zerstreut
gegenüberstehen? Blut möchte man weinen über dieses verräterische Spiel! Blut
weinen über die Hunderte der armen Opfer, die so nutzlos gelitten! Möge Gott sie
rächen, denn sein ist die Rache! - Man schätzt unseren Verlust auf 2-3000 Mann,
ohne die Geschütze u.s.w. Bald werdet Ihr ja auch aus den Zeitungen das Genauere
sehen. Gott sei mit Euch und mit mir. Euer Karl. Allernächstens mehr." (Folgt in
dem Briefe vom 14. Juli.)
Den
8. oder 9. Oktober werde ich von Altona aus in Lensahn angekommen sein. Der
letzte Brief (vom 30. September) kündigt es an.
Ein
Wort möchte ich hier nur noch einsetzen über den Sommer von 1849 und die Gegend,
in der wir lagen.
Es
war einer der sonnigsten Sommer, deren ich mich erinnere, eine kurze Zeit im
Juni abgerechnet, wo es sehr kalt war. Pfingsten namentlich, wo wir die Freunde
der ersten Kompagnie besuchten, war ein herrlicher Tag. Überhaupt trug die wenig
unterbrochene Ruhe im Dorfe Skjarbeek viel dazu bei, den Aufenthalt angenehm zu
machen, nicht minder die wahrhaft paradiesische Gegend. Einer unserer
gewöhnlichsten Posten auf einem nahen Berge bot über Fühnen, Fanoe und
Fanoe-Kalv, über das Ufer des kleinen Beltes und der Koldinger Förde eine
Aussicht, die durch Schönheit von keiner schleswig-holsteinischen überboten,
vielleicht kaum erreicht wird, an Großartigkeit aber wohl allen voransteht. Sehr
im Gedächtnis liegen mir die Abende, so merklich länger und heller als bei uns;
wenn dann unser Hornist die Retraite[173]
blies und die langsam gehaltenen Töne des Hornes durch die ganze stille
Landschaft hallten, so weckten sie eine Flut von Empfindungen.
-
Von
Lensahn werde ich auch wohl bald nach Meldorf wieder in meine Stellung
zurückgekehrt sein. Nach den mir nicht mehr sicher verständlichen Zeichen in
meinem Kalender zu rechnen, müßte es jedoch erst am 21. Oktober gewesen sein.
Der Kalender von 1850 ist nicht erhalten, ebensowenig meine Briefe aus der Zeit
von Oktober bis Weihnacht 1849. Erinnerlich ist mir, daß ich mehr als 1848 in
Gesellschaft und namentlich bei Delff und dem Branddirektor Henrici sehr häufig
kam, mehr und mehr mich aber von Herzen an meinen Kollegen Vechtmann
anschloß.
Rätselhaft
ist mir der Brief vom 10. März 1850, nach welchem ich am selben Abend meine
Einberufung nach Altona erwartet habe. Der vorhergehende enthält noch keinerlei
Andeutung, und der nächste folgende (10. April 1850) berichtet wieder aus
Meldorf, daß ich in meine Funktionen unverändert wieder eingetreten bin, - und
der Ausdruck: "nach ziemlich langem Aufenthalt" (im Vaterhause) deutet in der
Tat auf längere Zeit als die gewöhnlichen Osterferien. Weiterhin heißt es
geradezu: "ich sei in den 4 Wochen sehr aus der Übung (des Kartenspiels)
gekommen" und aus dem Briefe vom 28. April geht hervor, daß ein Brief von
Lensahn nicht an "meinen Feldwebel" gelangt ist, sondern "auf dem Bureau des
Korps geblieben, da es gleich bekannt geworden, daß ich schon wieder fort war".
Im Briefe vom 4. Juli heißt es geradezu: "zum dritten Male muß ich denn hinaus".
Danach wäre in der Tat eine kurze Berufung zum Korps nach Altona anzunehmen, die
ich dann völlig vergessen haben müßte, was mir freilich undenkbar
erscheint.
Gegen
Ende April besichtigte der neue General Willisen das 9. Bataillon. Daß er mir
alt und steif vorkam, erinnere ich mich mit ganzer Bestimmtheit und ergibt sich
auch aus meinem Briefe vom 28. April. Sonst aber sollte er auf alle, die ihn
dann gesprochen haben mögen, einen vorteilhaften Eindruck, namentlich auch
den des "offenen, entschiedenen
Auftretens" gemacht haben! Wie sehr hatten sich alle getäuscht![174]
In
den ersten Juli-Tagen stand der Wiederausbruch des Krieges bereits fest: am 2.
Juli war der Berliner Friede[175]
geschlossen. Am 4. traf ich bereits meine Anordnungen. Die Einberufung zog sich
hin und kam schließlich garnicht. Am 9. war ich wieder in Itzehoe bei meinem
stark veränderten Jägerkorps.
Den
Feldzug von 1850 habe ich im Winter 1851 in meiner unfreiwilligen Muße
ausführlich beschrieben[176]
und kann für alles darauf verweisen.
Am
24. Januar war ich wieder bei meinen Eltern.
Es
war wohl nicht möglich, sofort in meine Stelle in Meldorf wieder einzutreten, da
sie mittlerweile von dem aus Flensburg vertriebenen August Mommsen eingenommen
und gewiß sehr tüchtig ausgefüllt war. Selbst wenn er sein früheres Wort, er
müßte ja ein Schurke sein, wenn er nicht gleich nach dem Kriege mir wieder Platz machen wollte, hätte wahrmachen
wollen, war ja das Interesse des Unterrichts entschieden gegen eine solche
Unterbrechung. Auch gönnte man ja ihm als Vertriebenem gern eine vorläufig
bleibende Stelle. Endlich würde aber auch mein Befinden jeden Eintritt in eine
unbehinderte Wirksamkeit unmöglich gemacht haben. Denn grade erst nach dem
Kriege brachen bei einer sehr großen Anzahl der Entlassenen bösartige
Krankheiten aus, und von mir bekannten Offizieren, jungen, kräftigen Leuten,
wurden mir damals nicht weniger als 4 Todesfälle bekannt.
So
mußte denn auch mein Körper erst durch einen ungewöhnlich heftigen und
ungewöhnlich hartnäckigen Lungenkatarrh alle die Krankheitsstoffe in harter
Arbeit wieder verarbeiten und aussondern, die er in dem Sommer- und
Winter-Feldzuge aufgesammelt hatte. Nie in meinem Leben, weder je vorher noch
nachher, obwohl ich viel daran gelitten habe, habe ich einen solchen Husten
gehabt und solche Massen Unrats ausgesondert. Der Husten war so krankhaft und
setzte namentlich des Abends beim Zubettgehen mit solcher Krampfhaftigkeit ein,
daß ich schlechterdings unfähig war, mich meines Zeuges zu entledigen.
Schließlich mußte ich mich bequemen, von dem kalten Saal, wo ich sonst mein sehr
zusagendes Zimmer hatte, nach unten überzusiedeln und heizen zu lassen. Es wird
nicht viel vor Ostern gewesen sein, daß ich völlig wieder hergestellt war. Mein
Wunsch, nach Berlin auf ¼ Jahr zu gehen, mußte unterbleiben. Hätte ich mehr Mut
und Vorausblick gehabt, so hätte ich Mommsen ruhig in Meldorf gelassen und wäre
zu weiterer Ausbildung nach Italien gegangen. Die einmal feststehende
Unmöglichkeit, daß mein Vater solche Opfer zu bringen nicht imstande sei, ließ
derartige Gedanken garnicht aufkommen.
Am
25. April, in der Woche nach Ostern, war ich wieder in Meldorf. Mein Leben ging
wieder seinen schon gewohnten Gang in Arbeit und Vergnügen, d.h. namentlich
geselligem Verkehr. Alsbald aber beschäftigte mich der schon 1850 in freilich
unbestimmte Aussicht genommene und durch den Krieg abgeschnittene Plan, meine
Ferien in Paris zuzubringen, teils um mich in der Aussprache zu vervollkommnen,
teils um die merkwürdige Stadt und das französische Volk aus eigener Anschauung
kennenzulernen. Am Freitag Abend, den 11. Juli, ging ich dann, begleitet von
guten Wünschen, besonders Vechtmann's, nach Hamburg ab. Meine Unternehmung
erregte damals noch in einem Orte wie Meldorf einiges
Aufsehen.
Mit
einigen guten Empfehlungen versehen, von Forchhammer z.B. an den
Oberbibliothekar der National-Bibliothek, K.B. Hase, von Prien an den Dr. und
Prof. Keil, der damals auf der Bibliothek arbeitete, kam ich ohne Unfall nach
nur des Nachts unterbrochener Fahrt über Aachen und Brüssel in der großen und
schönen Hauptstadt an und fand auch bald im Hotel de Normandie, Rue St. Honoré,
4-5 Treppen hoch ein mir genügendes, sehr kleines Zimmer zu 1 Franc den Tag. In
Valenciennes, der Grenzstation, war ich in meiner Unerfahrenheit ganz nahe vor
einer gründlichen und sofortigen Störung des ganzen, mit so großen Erwartungen
angetretenen Unternehmens, vor der mich aber doch der liebe Gott gnädig
bewahrte. Das Gepäck wurde von den Zollbeamten untersucht, und ich hatte mich
dabei etwas verspätet, sodaß ich die damals noch nötige Lösung einer neuen
Fahrkarte in einiger Hast zu besorgen hatte. Als ich die Karte bezahlt hatte,
suchte ich sie vor allem in meinem Taschenbuch in Sicherheit zu bringen und ließ
dabei in der Eile meine Bücher auf dem Zählbrett liegen. Sowie ich das
Taschenbuch, das ich auf kurze Zeit zwischen meinen Augen und dem Zählbrett
gehabt hatte, wieder herunternahm, um es wegzustecken und mein Geld zu fassen,
erblickte ich eine Hand ganz dicht, wenige Zoll von demselben entfernt, die aber
dann mit einem heftigen Ruck zurückgezogen wurde. Ich guckte nach dem Besitzer
dieses Armes, der mich seinerseits auch mit der größten Freundlichkeit und
tiefem Bückling grinsend begrüßte, während der Mann am Schalter mit
unveränderter Amtsmiene dem ganzen Vorgang zugesehen hatte. Noch ahnte ich
nichts, hatte auch keine Zeit mehr, nachzudenken, sondern kam nur noch mit Mühe
in den Zug. Erst als ich wieder saß, wurde mir die Sache klar, und ich atmete in
der Vorstellung des so nahe drohenden und noch eben glücklich abgewandten
Unfalles erleichtert auf. Das wahrhaft Bezeichnende des Vorganges scheint mir
noch heute darin zu liegen, einmal, daß der eine Bahnhofsbeamte den anderen ohne
weiteres als einverstanden voraussetzte, sodann darin, daß er auch nicht die
leiseste Regung einer Überraschung oder Verlegenheit blicken ließ. Hillebrand's
großes Lob der französischen Ehrlichkeit halte ich für schlecht verdient. Dafür
habe ich als weiteren Beweis die Unehrlichkeit meines Wirtes. Als ich bezahlen
wollte für die 16 Tage meines Aufenthaltes in seinem Gasthof, behauptete er, mir
das Zimmer zu 1¼ Francs vermietet zu haben. Ich erhob die dringlichsten und
festesten Vorstellungen. Umsonst. Was wollte ich machen? Meine festgesetzte
Abreise unterbrechen, mich vielleicht zurückhalten lassen? Ich mußte den
ungerechten Gewinn zahlen.
Im
übrigen aber verlief mein ganzer Aufenthalt in der landschaftlich so schön
gelegenen und eingerahmten, selbst so hübschen, an Sehenswürdigkeiten,
geschichtlichen Erinnerungen, Denkmälern der bildenden Künste, Museen aller Art,
Schlössern und Baulichkeiten so überreichen, für Fremde so überaus bequemen und
zugänglichen, von äußerlich so liebenswürdigen und höflichen Leuten bewohnten
Stadt bei voller, körperlicher Gesundheit und Frische in einer Weise, daß ich
mit vollster Befriedigung heimkehrte.
Ich
hatte meinen Kollhoff[177]
gut studiert. Morgens um etwa 8 Uhr ging ich meine vier Treppen herunter, um in
irgendeinem bequem gelegenen Caffe mein Frühstück zu nehmen und in den Zeitungen
die an dem Tage offenen Sehenswürdigkeiten zu merken. Und dann ging es los. Bis
gegen 3 oder 4 Uhr wurde unausgesetzt gewandert von einer Sehenswürdigkeit zur
anderen und besehen, solange Kraft und Frische vorhalten wollten. Darauf nahm
ich in einem bequem gelegenen Gasthaus ein einfaches Mittagsmahl - einmal auch
eins zu 4 Frs = 3 Mark 20 *[178]!
-, und dann überließ ich mich dem Nichtstun oder dem Schlendern und der
Beobachtung des hauptstädtischen Lebens. Nur die Unterrichtsstunde, welche ich
bei einem im Adreßbuch besonders für Ausländer empfohlenen, angeblichen Meister
der Aussprache nahm, ging von dieser dem Besehen gewidmeten Zeit ab. Es war ein
Professor von weniger oder keiner wissenschaftlichen Bildung, der einen großen
Erfolg bei mir nicht erzielte. Wie ich z.B. das mouillierte ll[179]
sprechen sollte, konnte ich schlechterdings nicht fassen. Gegen 10 Uhr kroch ich
ins Bett. Das Zurechtfinden war mir teils durch die Örtlichkeiten, teils durch
die polizeilichen Einrichtungen, teils durch die vortrefflichen Pläne so leicht,
daß ich höchstens drei oder vier Male einen Vorübergehenden um Weisung
angegangen habe. Die Seine, die Boulevards, dann die Parallel-Straßen, wie die
lange Rue St. Honoré, Rivoli u.a. mit blauen Hausnummern, die senkrecht von
links nach rechts auf die Seine zuschneidenden Straßen mit roten Hausnummern,
deren Sinken auf Annäherung an den Fluß, deren Steigen auf Entfernung deutet,
wie Rue Richelieu, Rue Vivienne, Rue du Bai, bilden für den Fremden das
Hauptverkehrsnetz, in dem er sich ohne alle Schwierigkeit zurechtfinden
kann.
Die
lange Reihe von Sehenswürdigkeiten, die ich in dieser genau berechneten Weise,
mit großer Zuratehaltung der Zeit in vollen 16 Tagen durchmachte, würde ohne
Interesse sein, aufzuzählen und unmöglich, auch nur annähernd im Einzelnen zu
beschreiben. Sehr viel des Sehenswerten ist nicht von mir unaufgesucht
geblieben; ich habe mehr gesehen als mancher, der Jahre lang da gewesen ist. Es
ist mir aber auch der Besuch aller dieser öffentlichen Sammlungen, Gebäude,
Merkwürdigkeiten, überhaupt dem Fremden dermaßen leicht, bequem und angenehm
gemacht, wie in keiner mir bekannten Stadt. Erstens ist alles frei, ohne
Entgelt, ja selbst ohne Trinkgeld geöffnet: ich habe in Paris im Ganzen wohl
kaum einen Franken Trinkgeld bezahlt, während in London allein der Besuch der
Paulskirche, der obendrein stückweis, sowie und soweit man ihn macht, bezahlt
wird, mir über 1 *[180]
gekostet hat. Sodann ist man vom ersten Eintritt in das Gebäude bis zur
Ausgangstür sicher, teils durch Inschriften, teils durch die aufgestellten
Wärter, des rechten Weges keinen Augenblick zu verfehlen. Endlich ist für die
Bequemlichkeit des Besuches überall Fürsorge getroffen. Ist einmal eine Sammlung
nicht ohne besondere Erlaubnis zu sehen, wie z.B. die artilleristische, so
bedarf es nur heute eines kurzen Gesuches an das Ministerium der öffentlichen
Arbeiten, und am anderen Morgen liegt die gewierige[181]
Antwort auf dem Tische.
Wäre
ich damals so genau mit den einzelnen Vorgängen der französischen Revolution
bekannt gewesen, wie ich es später wurde, so wären mir die geschichtlich
denkwürdigen Stätten ein Gegenstand noch größerer Aufmerksamkeit und lebhafterer
Bewegung gewesen. So habe ich vorzugsweise nur die Tuilerien und das Versailler
Schloß, den Palais Royal, die Juli-Säule, die Notre Dame-Kirche, das Stadthaus
und das Pantheon in dieser Beziehung ins Auge gefaßt. Im Versailler Schloß, das
durch seine Pracht wie durch seine Größe einen beklemmenden und, wenn ich recht
deute, in der Seele Ludwig XIV. beklemmenden Eindruck auf mich machte, ist es
mir noch heute wegen der Ereignisse von 1870/71 von besonderem Wert, außer dem
berühmten Balkon und dem Marmorhof, besonders den Spiegelsaal in genauer und
anschaulicher Erinnerung zu haben. Auch die Bildersammlung mit "allen
Ruhmestaten" (toutes les gloires) Frankreichs ist der Art, daß eine Nation
Ursache hat, die Franzosen, wenigstens um die Verherrlichung ihrer Großtaten zu
beneiden. Die "großen Wasser", die nur einige Sommertage spielen und dann einen
guten Teil der Pariser Bevölkerung herauslocken, sind und bleiben eine
Spielerei, wie anderswo auch. Aber die Aussicht von der Höhe des Schloßberges
zeigt eine paradiesische Landschaft.
Meine
größte Bewunderung galt aber einer Manufaktur, der Porzellanfabrik von
Sèvres[182],
einer Stiftung, wie sie meines Wissens und Erachtens auf der Welt geradezu
einzig ist, ein Werk der Wissenschaft, der Kunst und des Handwerkes zugleich.
Was die ältesten und gebildetsten, die neuesten und rohesten Völker der ganzen
Erde von den Urzeiten an durch alle Jahrhunderte bis zur Gegenwart auf dem
Gebiete der Töpferei in seiner weitesten Ausdehnung an Gefäßen, Zieraten,
Ausstellungen irgendwelcher Art hervorgebracht haben, liegt hier in einer
großen, viele Säle füllenden Sammlung in Musterstücken, in ethnographischer und
geschichtlicher Anordnung, mit einem Blicke übersehbar, dem Besucher offen. Die
modernen französischen Porzellansachen waren von einer Feinheit und Weiße, daß
ich nur mit großer Mühe der Versuchung widerstand, eine einfache Tasse oder
einen kleinen Nachttisch-Teller mit Goldrand zu 8 Frs. zu kaufen. Die Malereien
waren vollendet, Blumen, Landschaften, Porträts - sie waren durch den Schmelz
und die Zartheit der Farben über alle Beschreibung schön. Prinz Albert und
Königin Victoria, damals in der Londoner ersten Weltausstellung, hatten in
meinen Augen geradezu etwas Zauberhaftes.
Auch
eine Teppichfabrik habe ich mit dem größten Interesse beim Teppich-Weben und
Scheeren und beim Gobelin-Sticken am Werke gesehen. Man kann es nicht leugnen,
die Franzosen "wissen zu machen"[183].
Diese Schmucksachen der Reichen waren in der Tat lauter Kunstwerke. Schade, daß
sie nur den Oberen Zehntausend zugänglich sind.
Auch
ein Abenteuer, das leicht hätte bedenklich werden können, sollte mir nicht
erspart bleiben. Eines besonders schönen Abends hatte ich länger als gewöhnlich
auf den Boulevards, die ja dann erst ihr volles Leben entfalten, auf- und
abgeschlendert. Um rascher zu Hause zu kommen und nicht erst, wie gewöhnlich,
die Rue Vivienne zu nehmen, dachte ich, der Richtung meiner Straße St. Honoré
und meines Gasthofes vollkommen sicher, gerade durchzugehen, und schlug mithin
eine ganz beliebige Querstraße von den Boulevards nach der Seine zu ein. Nicht
lange, so tauchten in der sonst ganz stillen und unbegangenen Straße allerlei
verdächtige Gestalten auf, namentlich die mir aus Eugene Sue so wohlbekannten
Pariser Lumpensammler mit ihren Pik-Stuben; was aber bedenklicher wurde, auch
Frauenzimmer, die im höchsten Staate vor ihren Türen auf und ab patrouillierten,
zuerst sich begnügten, mich anzurufen, bald auch handgreiflich wurden und mich
zu fassen und zu halten suchten. Plötzlich, von einer furchtbaren Angst erfaßt
und über den Charakter der Gegend und ihre Gefahren in der Nacht aufgeklärt,
setzte ich mich in eine Bewegung, die jeder Bemühung der Verfolger spottete. Zum
Glück wurde kein größeres Publikum auf den Vorgang aufmerksam; die Lumpensammler
warteten ihres Handwerkes und nach einigen heißen Minuten konnte ich, da das
Aussehen der Straße sich änderte, eine gemäßigtere Gangart annehmen. So gelangte
ich dann ganz richtig, wie ich gerechnet hatte, schließlich glücklich wieder in
die Straße St. Honoré und dankte meinem Gott für gnädige
Errettung.
So
verlief mein Aufenthalt in Paris in der erwünschtesten und befriedigendsten
Weise. Ich genoß die großartigen Eindrücke, die mir alle so neu waren, in vollen
Zügen. Wiederholte Anwandlungen eines mir in dieser Weise unbekannten und damals
besonders fernliegenden Bangens gingen vorüber und wurden wieder vergessen. In
Paris nämlich sah ich zum ersten Male, was es damals in Hamburg und Berlin noch
nicht gegeben haben wird, Läden, welche ausschließlich Trauerzeug enthielten. So
oft ich einen solchen Laden sah, erfaßte mich ein Bangen. Den berühmten Kirchhof
Père Lachaise verließ ich bald wieder, weil der Anblick der Zypressen und Gräber
mir schwer war. Ein Leichenwagen erschreckte mich. An einem Sonntage, wo ich in
St. Cloud war und mich hier sonst an der wundervollen Übersicht der in einem
großen, weiten Talgrunde, in die Ferne fast unabsehbar hingestreckten Stadt ganz
besonders hoch erfreut hatte, ergriff mich ohne sichtbare Veranlassung plötzlich
eine ganz besondere Sehnsucht nach den Meinen und eine tiefe
Niedergeschlagenheit. Einmal, vielleicht mehrmals, aber das eine Mal erinnere
ich mit großer Bestimmtheit, fiel es mir plötzlich auf die Seele: Mein Gott! du
hast ja noch nicht ein einziges Mal nach Hause geschrieben! Vier Wochen pflegten
in gewöhnlichen Zeiten zwischen meinen Briefen mindestens zu verlaufen, und daß
ich die aus dem Auslande größeren Porto-Kosten scheute, ist in einem meiner
hierauf bezüglichen Briefe ausdrücklich ausgesprochen. "Wenn etwas passierte",
diese Form nahmen meine sich so plötzlich aufdrängenden Erwägungen an, ich
erinnere es mit größter Bestimmtheit, "sie könnten dir ja gar keine Nachricht
zukommen lassen!"
Doch
diese und ähnliche Anwandlungen gingen vorüber. Ich war im Ganzen über das
Gelingen meines Unternehmens hoch beglückt und hatte Lust zu weiteren, nämlich
auf der Rückreise zu einem Abstecher nach London und zu der ersten
Weltausstellung bekommen. Ich war mit Paris in der Tat in den 16 Tagen "fertig"
geworden. An allen Ecken lockten die Anschläge: En onze heures à Londres! Eine
Nacht - und am andern Morgen war ich da! Gedacht - getan! Ein Schnellzug, der
uns von einer Seite beständig zur andern warf, sauste mit uns nach Boulogne, das
Schiff ging in die hochgehenden Wogen, einer der Gäste nach dem anderen verfiel
der Seekrankheit; nach kurzer Qual schon kamen wir in stilleres Wasser; noch vor
Mittag legten wir am Themse-Quai an. In den 3½ Tagen, die mir noch blieben, sah
ich die Ausstellung, was einen ganzen Tag wegnahm, Westminster, St. Paul's, den
Themse-Tunnel, Windsor, und ja wohl auch das britische Museum. Von Ermüdung
wußte ich damals nichts. Morgens brannte ich nur immer vor Begierde nach neuen
Unternehmungen. Mit Einkäufen für alle versehen, machte ich mich auf die
Heimreise, zu Schiff nach Ostende, bei dem starken Ostwind eine 12-stündige
Qual, sodaß ich ganz erschöpft in Ostende ankam und sofort das Bett aufsuchte.
Meine Weiterreise ging ohne jeden Vorfall vonstatten.
Abends
war es, wo ich in Altona bei meinem Vetter Eduard ankam. Das Haus schien mir
merkwürdig tot und still. Auch mein Vetter und seine Familie steif und
einsilbig. Es wurde gegessen, und ich fing dann an, so recht in voller
Befriedigung über meine herrliche Reise zu erzählen. Es machte wenig Eindruck,
was mir so wichtig erschien. Plötzlich fragte Eduard dazwischen: Sag mal, bist
du kürzlich auf Lensahn gewesen? - Sowie er die Frage getan, erfaßte mich das
Bangen, und nur noch eines verhüllenden Wortes bedurfte es, da wußte ich alles.
In lautes und heftiges Weinen brach ich aus: der Tod meines Vaters, der vorher
in seinem 73. Lebensjahr noch so rüstig gewesen war, schien mir so unmöglich,
und unsere Verwaistheit und Verlassenheit, obwohl ich, der jüngste, doch 28
Jahre war, so unüberkommbar, daß ich, trotzdem unser Verhältnis das einer
herzlichen Liebe und eines offenen Vertrauens nicht gewesen war, doch mich aufs
tiefste gebeugt fühlte. Nun verstand ich meine Ahnungen! Ich habe seitdem in und
vor schweren Heimsuchungen derartige Vorempfindungen, - auch solche eines
besonders freudigen Ereignisses! - so manche und so deutliche gehabt, daß keine
Philosophie mir je das Dasein solcher Fernwirkungen auf die menschliche Seele
wegdisputieren wird. Ich werde noch weiter von der Sache zu melden
haben.
Am
andern Morgen ging ich, statt nach Meldorf in mein Amt, nach Lensahn, wo ich
dann das Nähere erfuhr und mich ausweinen konnte. Eine Karbunkel[184]
auf der Oberlippe hatte ihn innerhalb weniger Tage am 29. Juli dahingerafft. Als
ich am 9. oder 10. August kam, deckte ihn schon seit einer Woche die
Erde.
Auch
in Meldorf empfing mich die wärmste Teilnahme. - Aus meinem hinbrütenden
Schmerze riß mich zum ersten Mal das Geburtstagsgeschenk empor, das der liebe
Gott mir zubereitet hatte.
Ich
war nach einem Spaziergang gegen die Dämmerung zurückgekehrt und bei meinem
guten Freunde, dem Apotheker oder Provisor Schmedto, der gleichfalls als
Junggeselle hauste, eingetreten. Es war ein Sonntag. Da kam der Physikus, der
liebe, menschenfreundliche, stets heitere Dr. Michelsen und gratulierte. In der
Meinung, es sei zu meinem Geburtstage, fragte ich ihn, wie er es erfahren? Von
Kolster, antwortete er, der sei bei mir gewesen und habe mich nicht getroffen.
Noch immer ahnte ich nichts, bis er dann endlich damit herauskam, meine
Bestallung sei eingetroffen! Nicht lange, so kam auch Delff atemlos angerannt,
um mir Glück zu wünschen. Dann gingen wir zu unserem Kollegen Bünz, der dasselbe
erfahren, auch ernannt war. Sowie ich nach Hause kam, setzte ich mich hin und
schrieb den Brief vom 17. September 1851, der Euch, liebe Kinder, das
Freudentränen entlockende Glücksgefühl noch heute vergegenwärtigen kann, das
mich über das so lange ersehnte und so bescheidene Glück, das mir geworden war,
erfüllte. Ich glaubte in der Wahl des Tages eine Stimme zu vernehmen: Sei
getrost! -
Am
Montag den 6. Oktober - Fides! - wurden wir eingeführt. Kolster verwendete die
Namen des 6. und 8. - Fides und Charitas - der 7. hieß wie seine Frau Amalia -
sehr gut und sehr angebracht, und ich verstand ihn wohl. Meine Gegenrede sollte
meine Strenge begründen und rechtfertigen, wegen welcher ich verrufen war. Durch
ihre Offenheit entwaffnete und versöhnte sie. Frau Kirchspielvögtin Hensen
drückte mir dafür in der nächsten Gesellschaft bei Kolsters die
Hand.
So
ging es denn wieder in den Winter hinein, der damals für mich nur noch
angenehmes hatte. Ich wurde als nunmehr wohlbestallter Lehrer Gegenstand
erhöhter Aufmerksamkeit für Mütter und Töchter, als ich, ohne es zu ahnen, auch
schon bisher gewesen war, und wurde sehr viel ausgebeten. Nach Weihnacht wurde
es damit noch häufiger, und es kam vor, daß ich 5 Abende nacheinander in
Gesellschaft war.
"In
dieser Zeit" - so heißt es in einem meiner Briefe, vom 8. Februar 1852, "hatte
ich sehr ernste Gedanken." Eine neu gemietete, unendlich viel angenehmere
Wohnung, die ich am 1. März bezog und in der ich mich ganz ungemein befriedigt
fühlte, trug dazu bei, meine frohe Stimmung zu steigern. Was aber den noch ganz
geheimgehaltenen Grund und Gegenstand lieblichster, aber mit Furcht gemischter
Hoffnungen ausmachte, das will ich jetzt im Zusammenhange
erzählen.
Laßt
mich Euch nur ganz offen die Geschichte meiner Liebe zu Eurer hochverehrten
Mutter erzählen: für mich ist die Erinnerung ein nachklingendes Wiederdurchleben
einer Zeit, die mir, wenn auch unter Zagen und Bangen, unaussprechliches Glück
gebracht hat.
Stine
Paulsen
Es
muß bereits im Frühjahr 1849 gewesen sein, als in Gesellschaft einer Schwester -
Johanna - und einer anderen Dame, einer Meldorferin, glaube ich, ein ganz
junges, noch backfischartiges, kleines Mädchen mir in der oberen Zingelstraße
begegnete, die durch ihre schwarzen, glänzenden Augen, ihre braune, gesund
gerötete Gesichtsfarbe und durch ihren frisch, beinahe keck und selbstgewiß in
die Welt hinausschauenden Ausdruck, im Ganzen durch etwas Besonderes,
Fremdartiges, Ausländisches meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich erfuhr nicht,
wer sie sei. Erst gelegentlich hörte ich, es werde wohl die Schwester der
Doktorin Müller, Schwägerin des Arztes Dr. Müller gewesen sein, bei dem Delff
mich nicht eingeführt, den er nicht einmal je gegen mich erwähnt hatte; wie ich
später zu argwöhnen veranlaßt wurde, aus ganz besonderem
Grunde.
Darauf
war ich von März bis Oktober von Meldorf fort. Obwohl ich seit Neujahr 1849 und
auch wieder nach Michaelis 1849 an der Müller'schen Wohnung vorbeikam, so oft
ich, mehrere Mal täglich, nach der Schule und zurückging, hatte ich doch bis
dahin nie wieder Gelegenheit gehabt, sie dort als Kostgängerin bei ihrem
Schwager, oder anderswo an drittem Orte zu sehen.
Erst
im Winter 1850 muß ich sie öfter gesehen und mich um sie gekümmert haben; denn
zwischen mir und Schmedto war wiederholt von Müller's, die damals, meine ich,
nach der Zingelstraße in ein neu gekauftes Haus zogen, und von der Familie
Paulsen, den 4 schönen Schwestern - für Johanna schwärmte er -, auch von dem
Verhältnis zur Stiefmutter die Rede. Damals erst erfuhr ich auch, daß sie ein
auf 18-20000 M-, also noch zu klein, angegebenes Vermögen hatten. Schmedto war
es, der mir nun anbot, mich bei Müller's einführen zu lassen. Das geschah,
nachdem ich nicht lange vorher die Doktorin, - Tante Gretchen -, mit ihren
großen, dunklen und anscheinend nur sanften Ausdruckes fähigen Augen bei Delff
kennengelernt hatte. Sie machte auf mich einen bedeutenden und ungewöhnlichen
Eindruck; auch sie hatte etwas im Wesen ganz anderes als andere Frauen. Sie
hatte damals schon von mir gehört, auch, daß ich ihnen einen Besuch zugedacht
habe, worüber sie ihre Freude aussprach.
Ganz
bald nach meinem Besuch, zum 2. Pfingsttag 1850, wo sie Besuch von ihrer
Schwester Stine hatte, die damals nicht mehr ihre Kostgängerin war, wurde ich zu
ihnen in Gesellschaft geladen. Ob ich die Kühnheit gehabt habe, sie zu Tisch zu
führen, ist mir nicht mehr erinnerlich. In einem Briefe vom 22. Mai erwähne ich
sie gegen Eltern und Geschwister als "ein hübsches Mädchen, mit 6000 *[185]
Vermögen, die aber leider sehr, sehr klein ist". "Die Doktorin machte durch
Sanftmut und Milde ihres Wesens einen überaus vorteilhaften Eindruck." Am
folgenden Tage sah ich sie noch einmal bei meinem lieben Kollegen
Vechtmann.
Schon
am 12. Juni, bei herrlichstem Sommerwetter, hatte ich die Freude, zu einer Fahrt
nach Albersdorf mit eingeladen zu werden, die Gretchen und Müller bei Frau Mama
ermöglicht hatten. Delff und Frau, Vechtmann und der Advokat Müller, Schmedto,
die beiden Fräulein Hansen, Dora und Minna, waren außer mir dabei. Mein Brief
nach Lensahn erwähnt ihrer nicht. Aber sehr hat sich mir der ganze Tag und ihr
Bild damals schon eingeprägt. Ich erinnere besonders lebhaft, wie sie mit ihrem
freundlich lächelnden und strahlenden Gesichte etwas verspätet aus der Tür ihrer
Schlafstube in die bereits versammelte Gesellschaft trat, um die Einzelnen zu
begrüßen. Sie trug das von mir sog. Dornen-Kleid, das ein Muster mit lauter
Dornen ohne Rosen das bekannte Sprichwort in Erinnerung zu bringen geeignet war.
Vormittags wurde eine Tour ins Arkebecker Holz, nachmittags in die sog. tiefen
Gründe gemacht. Ich war befangen, blöde, stolztuerisch und unhöflich genug, die
drei jungen Mädchen völlig zu ignorieren. Zu Tisch führte ich sie doch, aber
auch nur, weil sie die letzte war, und keine für mich anders übrig blieb. Ahrens
und Elisabeth mit ihrem prachtvollen ersten Jungen Andreas waren auch gekommen.
Nachmittags im tiefen Grund thaute ich zu einigen Worten auf, und auf meine
Zunge, aber nicht von meiner Zunge kam auch das Wort: Keine Rose ohne Dornen.
Jedenfalls zeichnete ich den tiefen Grund, und auf der Höhe des Ufers, an dessen
Fuß wir lagerten, stand eine einzelne kleine Dame.
Als
ich bald danach aufs Neue in den Krieg hinausmußte, trug ich Stine's Bild
bereits im Herzen. Aber freilich, es kam eine Zeit, wo ich es im Unwillen
verletzter Eigenliebe da herausgeworfen zu haben meinte. Das kam
so:
Am
10. Oktober 1850 setzte ich mich mit zweitägigem Urlaub von Lunden in der
sicheren Vorahnung in Bewegung, daß ich Stine zum Besuch bei ihrer Schwester
treffen würde. Ich hatte mich nicht geirrt. Sie erschien, aber nur um zu sagen,
sie ginge zu Christiane Thiessen, um dort den Abend zu verbringen. Ich war, ohne
daß jemand sonst eine Ahnung davon gewann, wie geschlagen, zugleich aber auch
empört und für den Augenblick geheilt. Ihretwegen allein hatte ich den weiten
Weg von Lunden her gemacht, doch jedenfalls mehr als 3 Meilen, und nun lief sie
davon und schien doch damit - denn daß ein Versprechen gegen Christiane sie
band, wußte ich nicht - deutlich auszusprechen, daß sie sich nichts aus mir
mache, wie es damals auch wirklich noch der Fall war. Nun, denn nicht, so
ungefähr waren meine Gedanken; denn nachlaufen sollst du ihr nicht. Am andern
Abend gegen 12 war ich wieder bei meiner Kompagnie und klemmte mich mit großer
Mühe in ein schon ganz gefülltes Bett. Nur die sonstige Teilnahme aller
Bekannten in Meldorf, die ich gefunden hatte, konnte mich für die erfahrene
Täuschung in etwas entschädigen. Aber so übel belohnt für meinen nicht
verstandenen Liebesdienst, wie ich mich fühlte, suchte ich mir das schöne Bild
aus dem Kopfe zu schlagen.
Erst
Ostern 1851 kam ich wieder nach Meldorf. Ich wüßte nicht, daß ich sie bis zu den
Sommerferien wiedergesehen hätte. Damals war sie auch längere Zeit in Hamburg
bei ihrer seit November 1851 verheirateten Schwester Johanna. Auch in dem Rest
des Jahres 1851 erinnere ich nicht, sie getroffen zu haben. Indes ist mir ein
Bild von ihr gegenwärtig, das ich wohl im Laufe des Sommers oder Herbstes von
1851 aufgenommen haben werde. Meine damalige Wohnung bei dem Sattler und
Hutmacher Timmermann, dem Hausnachbarn Dr. Müller's, lag nach hinten, nach der
Hofhalle des anderseitigen Nachbars, des Gastwirts Schmidt. Hier sehe ich sie
noch heute in schwarzer, seidener Jacke in freundlichem und freudigem Lächeln
vom Wagen steigen - ein liebliches Bild! (- Nach weiterer Erwägung und Studium
der Hieroglyphen auf meinem Kalender möchte ich glauben, daß das Himmelfahrt
1852 gewesen sein wird. - Doch nein! Da wohnte ich ja nicht mehr bei
Timmermanns. Wohl aber wird sie damals zu Pfingsten schon Himmelfahrt gekommen
sein. -) Anders aber wurde es mit dem Anfang des Jahres
1852.
Da
war sie, wohl gegen Ende Januar, nicht lange nach dem schweren Tode ihrer
kleinen Stiefschwester Friederike, wieder einige Wochen bei ihrer Schwester in
Meldorf, und ich war dort wieder einen Abend - es war am 22. Januar; gekommen
war sie am 20. Januar - nach langer Zeit mit ihr in Gesellschaft. Sie trug ein
sehr einfaches graues Kleid mit grünem Gürtel, hoch am Halse, die ganze
jugendlich-blühende Gestalt eng umschließend. Es war eine Erscheinung von
seltener Lieblichkeit und Anmut. Vechtmann, den ich auf sie aufmerksam machte,
sagte mit Nachdruck: "Wirklich, allerliebst!" - An dem Abend hatte ich sie zu
Tisch und fand, wie mir vorkam, - das stimmt mit einem Briefe Stines vom Januar
1853 - auf ein offenes Herausgehen mit der Sprache auch ein bereitwilligeres
Eingehen ihrerseits. Die Erwähnung gegen Mutter und Geschwister vom 8. Februar
1852, - am 7. Februar war sie abgereist, - gone - in meinem Kalender - die
Tochter des Dr. Michaelsen, mit der ich geneckt würde, sei doch lange nicht so
niedlich und lieblich als die Schwester meiner lieben Nachbarin, der Doktorin
Müller, "Stine Paulsen" und der ausdrückliche Zusatz, "ich habe sehr ernste
Gedanken in dieser Zeit gehabt", zeigen die erneuten Wirkungen ihrer Gegenwart.
Teils dies, teils die sichtbaren Bemühungen mancher Mütter und Töchter, die mich
sehr in ihre Kreise hineinzogen, machten mein Leben damals zu einem sehr
vergnüglichen und angenehmen; ich lebte förmlich auf, und die Leute hatten ihr
Wunder.
Die
beiden Pfingsttage, 30. und 31. Mai, waren sehr stürmisch und rauh. Am Dienstag
saß ich in Peters' Garten, und wer barg eine größere Freude in seinem Herzen als
ich, da Dr. Müller kam und mich zu einer Wagenfahrt nach Nordhastedt zu Adolf
Peters, einem Jugendfreunde der Paulsen, und nach Riese zu Herrn Niemann, einem
Nachbarn, einlud; beides Landsleute, aber beides zugleich gebildete Leute. Denn
Stine war von der Partie! - Das Wetter, 2. Juni, war mit einem Male warm und
schön, und das Vergnügen, so schrieb ich nach Lensahn, war groß. Es scheint
aber, wenn ich recht erinnere, daß teils die mir noch unbekannten Gäste, z.B.
Onkel Karsten, der mir zurückhaltend vorkam, teils die gleichfalls noch
unbekannten Wirte ein völlig freies Verkehren erschwerten. Mit Stine namentlich
weiß ich nicht irgend länger oder eingehender gesprochen zu haben. Auch mag das
hartnäckige Hagelkorn[186],
das ich schon lange am Auge mit mir herumtrug, etwas zur Dämpfung meiner Lust
beigetragen haben.
Schon
am 7. Juni kam eine neue Holztour und zwar nach Albersdorf. Das war die sog.
Holzschule[187],
eine Verwaltungsförmlichkeit, welche der Aktuar der Landschaft
Süderdithmarschen, Kanzleirat Wagner, in den Albersdorfer Forsten gegen
Forstfrevel, glaube ich, alljährlich am Montag in der vollen Woche nach
Pfingsten vorzunehmen hatte. Da aber die Dithmarscher an jede Zusammenkunft zu
öffentlichen Zwecken nach urgermanischer Sitte einen Schmaus oder ein Gelage
anzuschließen pflegten, so war auch in diesem Falle die Hauptsache die
Festversammlung bei dem Albersdorfer Kirchspielvogt, Harders, und Frau Gemahlin,
einer Schwester der Dr'in Michaelsen. Ganz Meldorf fast, damals 5 wohlbesetzte
Wagen voll, überfielen denn schon vormittags die Kirchspielvogtei und wichen
nicht vor dem späten Abend. Es war ein lustiger Tag, und namentlich ich muß ja
wohl ein wenig ausgelassen gewesen sein; wenigstens erinnere ich - und es tat
mir recht leid - von der Vollmacht[188]
Brütt, einer äußerst verständigen Hausfrau des gastlichsten Hauses in Meldorf,
einen recht empfindlichen Rüffel davongetragen zu haben.
Und
ich ahnte nicht, daß wenige 100 Schritt von mir Stine sich den Tag auf das
furchtbarste härmte. Obwohl die 8 jungen Mädchen aus Meldorf, die bei
Kirchspielsvogts versammelt waren, sämtlich ihre genauen Bekannten und
Freundinnen waren, hatte man sie nicht eingeladen. Wie nachher zweifellos
hervortrat, hatten Michaelsens und noch mehr Tante Harders meine Verlobung mit
Emilie Michaelsen, wo ich oft gekommen war und gern kam, ohne jemals die Tochter
ausgezeichnet zu haben, als eine Frage kurzer Zeit angesehen. Jedoch war auch
schon nicht ganz verborgen geblieben, daß ich ein Auge auf Stine Paulsen habe.
Ob sie nun irgend etwas gefürchtet haben, kurzum, des Nachmittags, wo die jungen
Mädchen ihr einen Besuch machten, brachten sie sie zur eigentlichen Holztour
nicht mit.
Was
aber, ich muß es ja gestehen, viel schwerer für Stine sein mußte und von mir
geradezu gegen sie unverantwortlich und gegen die Eltern unhöflich war: auch ich
kam nicht, einen Besuch im Pastorat zu machen. Und warum nicht? Einzig und
allein aus Furcht, aus Menschenfurcht und Unentschlossenheit nicht. So reizend
und in jeder Beziehung ein glückverheißender Besitz sie mir schien, mit meinem
Entschlusse, wirklich um ihre Hand zu bitten, war ich noch weitaus nicht fertig.
Nicht die Besorgnis vor einer Abweisung, die ich schon damals kaum mehr hegen zu
brauchen glaubte, war es, was mich zurückhielt, sondern einzig und allein das
Gefühl: ich sei ihrer nicht würdig. So wagte ich weder Ernst zu machen, noch die
Liebe zu ihr ein für alle Mal aus meinem Herzen zu reißen, sondern ließ es so
hinstehen, wie es war, und suchte den wahren Sachverhalt allen zu verbergen und
die Meldorfer Gesellschaft auf ganz falsche Fährte zu leiten; nur das Zeugnis
darf ich mir geben, daß ich keiner anderen irgendwelche Dinge gesagt oder
Aufmerksamkeiten erwiesen hätte, aus denen sie auf Heiratsgedanken und
-absichten hätte schließen dürfen. - Wohl kam mir nun der Gedanke: Du mußt hin;
aber immer wieder hielt mich die leidige Sorge zurück: Du verrätst dich! Es
wurde nichts daraus. Wie oft hat später Stine mir die Qualen geschildert, die
sie ausgestanden. Ach und sie hat gesagt, daß sie bereue, zu ihrem heißen,
heißen Gebet nicht hinzugefügt zu haben: Nicht mein, sondern Dein Wille
geschehe! - So habe ich sie gequält, noch ehe sie meine Frau, noch ehe sie meine
Braut war. Es war nicht mannhaft von mir gehandelt. Das kleine Gedicht vom 28.
April in Mamas Album spricht mein Schwanken sehr entsprechend aus. Aber - was
sind Worte!
Kaum
3 Wochen, so wurde ich von Müllers schon wieder auf Sonntag, den 4. Juli, zu
einem großen Picknick nach Riese geladen.
Es
war in jeder Beziehung, besonders auch durch ein Sommerwetter ohne Gleichen ein
herrlicher Tag. Natürlich war zu all den Meldorfern auch Ahrens und Elisabeth
von Süderrade, auch Stine Paulsen aus Albersdorf gekommen. Die Zeit im Walde
verlief in der Freude verschiedener Spiele. Auf eine allgemeine Aufforderung
Stine's bei einem Dattelkern: wer will mit mir Vielliebchen essen? - wagte ich
wieder nicht zu sagen: Ich! Doch kam ich in den Besitz des Kernes, ich weiß
nicht, wie? Gegen Abend ward auf den Hof gezogen; in der Scheune sollte getanzt
werden. Die Lehmdiele war recht uneben. Plötzlich komme ich und meine Tänzerin,
Frau Niemann, in's Stolpern und fielen übereinander dahin, sie unten, mit dem
Hinterkopf auf die harte Diele. Da sie sich nicht sofort erhob, sondern Schaden
genommen zu haben schien, so entstand sofort eine vollständige Stockung im Tanz
und große Aufregung. Sie wurde ins Haus gebracht, und Dr. Müller untersuchte
sie. Ich, ganz bestürzt und zerknirscht, war ziemlich allein auf der
Scheunendiele geblieben, als ich in einiger Entfernung draußen Stine mit dem
sichtbarsten Ausdruck der Teilnahme und der Tröstung nach mir hinblicken sah,
was vor den Augen aller, die sehen wollten, als eine Art Bekenntnis gedeutet
werden konnte. Nach einiger Zeit hörte man, es sei nichts verletzt; nur verlange
sie nach ihrem Arzte, sie sei überhaupt ein wenig hysterisch und gefährlich. Der
Tanz wurde nun zwar nicht wieder aufgenommen - und vielleicht war das ganz gut -
möglicher Weise hätte die schon angeregte Stimmung, die freilich nicht das
Mindeste von einer Anheiterung hatte, doch etwas zu lustig werden können. So
setzten wir uns bei einem Juli-Abend, wie er schöner und stiller garnicht hätte
gedacht werden können, im Kiefer-Garten zu einem einfachen Abendessen, wie es
jedem zu Gebote stand, nieder und waren bis in die Nacht hinein vergnügt wie die
Kinder. Es war ein wundervoller Tag. Meine Freude stieg, als ich hörte, Stine
führe mit nach Meldorf. "Was will sie schon wieder in Meldorf", sagte Ahrens,
"was mag sie da haben?" Nun kam noch die schöne Fahrt, gegen 3 Stunden lang. Sie
saß nicht mit mir auf einem Wagen. Aber auf der Delbrücke tauschte Liese
Thiessen mit ihr, und nun saßen wir auf einem Stuhl. Ohne ausdrückliche
Geständnisse war unsere Unterredung eine solche, daß keiner an der Gesinnung des
anderen mehr zweifeln konnte. Sie trug damals die Spangen, die noch jetzt in dem
kleinen, grünen Kasten liegen, und ich ergriff einen Vorwand, sie mit dem
Zeigefinger tastend und prüfend zu berühren, was sie geschehen ließ. Als wir
dicht vor Meldorf und vor dem Abschiednehmen waren, äußerte sie den Wunsch, es
möchte noch lange nicht zu Ende sein. Und doch war es 3 Uhr morgens! Aber
freilich, es war in jedem Sinne des Wortes eine herrliche
Nacht!
Um
8 Uhr stand ich auf meinem Platze am Katheder. -
Was
nun? Zweifeln konnte und durfte ich nicht länger. Ich hätte sofort mich erklären
müssen. Dennoch vermochte ich zu keinem Entschluß zu gelangen; sie mußte irre an
mir werden, sie mußte sich geradezu auf die Folter gespannt fühlen. Noch weitere
Zeichen des Einverständnisses fanden wir in den folgenden Tagen Gelegenheit
auszutauschen. Auch die Gesellschaft bei Müllers, wo ich, statt zu spielen wie
die anderen Herrn, mit den Damen den Spaziergang nach den Wolmersdorfer Bergen
mitmachte, gab weitere Gelegenheit zu bedeutungsvollem Zwiegespräch. Nie
entfaltete sich überhaupt die ganze Lieblichkeit ihrer Erscheinung, die ganze
Anmut ihres Wesens, die herrlichen Farben ihres Gesichtes schöner und
entzückender als in der freien Natur. Dennoch überwand ich das Zagen nicht. Ich
wollte noch einmal in der Ferne während der 3 Wochen Ferien den Entschluß
überlegen. Sie reiste nach Albersdorf zurück. Ich mit Gretchen und ihren Kindern
und Vechtmann's nach Ostholstein; ich nach Lensahn über Kiel, Gretchen nach
Kiel, Vechtmann's nach Eutin. Im Garten der "Stadt Hamburg" zu Kellinghusen
saßen Gretchen und ich lange wartend, in etwas gedrückter und befangener
Unterhaltung zusammen, offenbar beide mit denselben Gedanken
erfüllt.
Auf
Lensahn habe ich dann die Sache mit den Meinen wiederholt besprochen, wie mein
Brief zeigt; aber weiter gekommen war ich doch nicht, als ich zurückkehrte. Zwei
liebe Briefe, von meinem hochverehrten Direktor Jacob und von meinem Beichtvater
Michelsen, redeten zu; aber tun den Schritt sollte doch immer schließlich ich
allein.
Da
kam Stine am 10. September mit ihrer Schwester Elisabeth wieder zum Besuch in
Meldorf. Gleich am ersten Abend traf ich sie in großer und lustiger Gesellschaft
bei Vollmacht Brütt. Ich gewann den Platz neben ihr, ohne daß sie meine
Tischdame war. Sie war sehr lustig, machte auch namentlich mit Fräulein Laura
Gullama, die gleichfalls, vielleicht in gleichen Gedanken, besonders aufgeräumt
war, vielen Scherz. Die Erwähnung einer nur uns beiden bewußten Sache - ich weiß
nicht mehr, welcher - veranlaßte den Austausch eines Blickes, der mich ihrer
Liebe völlig gewiß machte. Am Montag und Dienstag war ich wieder zu kurzen
Besuchen bei Müller's. An meinem Geburtstag hatte ich Müller mit zu einer
Boston-Partie. Am Sonntag, den 19. September, sah ich sie wieder bei Vechtmanns.
Hier mag es gewesen sein, wo ich auf ihre Erklärung, das Stricken sei ihr so
langweilig, die andeutungsreiche Bemerkung machte, es sei aber doch sehr
notwendig! Am 23. September war große Gesellschaft bei Propst Hansen. Hier
artete die gesellige Lust infolge reichlichen Punsches ein wenig aus, ich kann
es nicht leugnen, auch bei mir. Dafür erhielt ich am 26. September von der
Doktorin Müller einen recht strengen Verweis, dem man aber die Liebe anfühlte.
Auch Stine's Liebe hatte, wie sie mir später gesagt hat, einen Stoß erlitten.
Und doch war es bei mir nur die Trunkenheit der Liebe zu ihr. Am 27. September
gaben Thiessen's ihren großen Ball. Die Familie, früher in Albersdorf, wo der
Vater Kirchspielvogt gewesen war, war durch nachbarliche Freundschaft mit den
Paulsen's auf's engste befreundet. Die Paulsen'schen Geschwister hatten in dem
Thiessen'schen Hause völlig freien Ein- und Ausgang; Speisekammer und Garten
standen ihnen zu unbeschränkter Verfügung, alle Freuden der Familie mußten die
Paulsens mit teilen. Meine Stine hat ihnen, bis zu Ende aus, eine unbegrenzte
Dankbarkeit bewahrt, am meisten der ältesten Tochter, die seit Ostern die treu
schweigende Vertraute ihres Herzens-Geheimnisses gewesen war. Die Familie
bestand aus der Mutter und deren Mutter, dem jüngsten, noch unverheirateten Sohn
Hermann und den beiden Schwestern. Obwohl in guten Verhältnissen und gebildeter
wie manche andere, zählten sie doch zur Meldorfer Gesellschaft nicht mit. Allein
Stine und mir zu Gefallen gaben sie nun ganz gegen ihre Gewohnheit und gewiß zu
nicht geringer Beschwer diesen großen Ball, zu dem sie auch mich einluden,
obwohl ich ihnen nie einen Besuch gemacht hatte. Zum Kotillon[189]
sie zu erhalten, kam ich natürlich zu spät. Aber das hatte auch sein Gutes. Nun
konnten wir uns unsere Zeichen geben. An sie kam die Reihe zuerst. Sie brachte
mir ihre Schleife. Noch überlegte ich, ob ich ihr nun auch meinerseits meinen
Strauß bringen sollte; das war ja für schärfere Augen eine Erklärung vor aller
Welt. Doch lange dauerte das Schwanken nicht; ich konnte unmöglich anders, es
wäre geradezu eine Verleugnung gewesen. Als ich sie wieder zum Platz führte,
drückte ich ihr leise die Hand. Der Druck wurde erwidert. Durch Zeichen hatten
wir uns unzweideutig erklärt. Und dennoch kam auch jetzt noch das Wort nicht
über meine Lippen. Der Brief war fertig. In zwei noch folgenden Gesellschaften
beobachtete ich eine Haltung, die sie noch einmal irre und ganz unglücklich
werden ließ, (das eine Mal wenigstens war es wohl das reine Mißverständnis. Denn
damals bei Vechtmanns muß es gewesen sein, als ich Immermanns "Ideal"[190]
vorlas. Da der Idealist "Häns'chen" genannt wird, hatte Stine und auch Gretchen
eine Anzüglichkeit darin gefunden, weil ihr Bruder Hans heißt.) zumal da sie
nach ihrer natürlichen und offenen Weise weniger zurückhaltend war. Am 4.
Oktober ging ich schon um 4 Uhr wieder hinüber. Der Doktor wurde geholt und
ging. Gretchen mußte ihre Kinder besorgen. Wir waren allein in der gewöhnlichen
Wohnstube nach Süden und saßen anfangs stumm da. Dann bat sie mich, etwas zu
spielen, und öffnete das Fortepiano. Ich spielte ein wenig, stand dann wieder
auf und sagte, ich müßte fort. Sie lud mich ein, zu bleiben. Mir pochte das
Herz; ich hatte das unabweisbare Gefühl, ich müßte heraus mit der Sprache, sie
hätte das Recht, eine Erklärung zu verlangen. Ich äußerte meine Besorgnis, ich
möchte ihrer Schwester und ihrem Schwager zu viel kommen. "Das wissen Sie doch
wohl, daß Sie das nicht tun", antwortete sie. "Ihnen auch nicht, Fräulein
Paulsen?" kam nun wie von selbst; es konnte nicht mehr anders sein. Eine kurze
Pause. - Dann flog sie mit einem "Nein! O, Herr Jansen, was haben Sie mich lange
schmachten lassen!" in meine Arme. Ich hielt sie zurück und gab ihr den Brief,
der im Grunde eine einzige Warnung war, ihr Geschick nicht an das eines Mannes
zu binden, wie ich wäre. "Stine!" - hob er an. Er hatte keine
Unterschrift.
Warum
sprach ich sie denn an? Warum hatte ich sie soweit gebracht? War es nicht Ja und
Nein zugleich? Hieß das wirklich getrost, fest und entschieden ein junges
Mädchen ansprechen, ihre Hand, ihr Alles verlangen, sie bitten, ihr Lebensglück
in meine Hand zu legen? Es war nicht, wie es hätte sein sollen. Hielt ich mich
unwürdig, dann hätte ich längst sie meiden, ich hätte überhaupt nicht die Liebe
in ihr wecken und nähren müssen. Glaubte ich mich doch wohl würdig genug, so
hätte ich sie nicht gleich mit Unglücksandeutungen ängstigen müssen. Und wie
konnte ich verlangen, daß ein junges Mädchen auf der Höhe ihrer lange
zurückgehaltenen Leidenschaft für meine Warnungen oder Bekenntnisse
irgendwelches Ohr oder Auge hätte haben sollen? Ich tat Ja und sagte Nein!
-
Ich
blieb den Abend da. Wir waren sehr vergnügt. Müller und Gretchen ahnten nichts.
Ich hatte Stine gebeten, erst ganz für sich den Brief zu lesen, ganz für sich zu
erwägen und dann ganz allein zu entscheiden. Noch war es zwischen uns beiden
allein, ein süßes Geheimnis! Gretchen legte uns den Abend Karten. Die Sprache
der Karten war geradezu wunderbar. - Übrigens hatte mir schon früher Frau Prof.
Prien, die vielleicht etwas ahnte, auch in einer Weise Karten gelegt, die etwas
Überraschendes hatte. - Gegen 11 Uhr erst riß ich mich los. Ich fühlte mich
damals noch wie befreit von einem Druck.
Am
5. Oktober holte mich Dr. Müller herüber. Sie war in der großen Stube links. Wir
gaben uns den ersten Kuß. Es waren selige Augenblicke! -
Überschwenglich
gesegnet, unaussprechlich beglückt - wie hätte ich damals es für möglich halten
sollen, daß ich je mein Glück so wenig würdigen, so wenig dankbar hätte
heilighalten sollen! Verzeihe mir, Gott! Sie hat mir immer herzlich aufs neue,
sie hat mir richtig 77 mal sieben mal verziehen! Sie hat vergeben nicht bloß,
sie hat auch vergessen! Liebe Kinder! glaubt mir, Eure Mutter war eine seltene,
ja, sie war eine einzige Frau!
Die
Worte: "O, was haben Sie mich lange schmachten lassen!" findet Ihr nicht in dem
Briefe vom 13. November an meine Mutter und Geschwister. Ich habe wohl
gefürchtet, sie könnten ihnen von meiner Erwählten einen falschen Begriff
beibringen. Sie war durch und durch eine wahre Natur; wie Ihr aus meinem Bericht
gesehen, hatte ich sie einzig durch meine Unentschiedenheit und Halbheit länger
als ein halbes Jahr hingehalten, hangen und bangen lassen. Nun war sie nicht nur
eine wahre, sie war auch eine starke weibliche Natur, voll Entschlossenheit und
Entschiedenheit, fest und sicher, klar und bestimmt in allem Denken, Empfinden,
Wollen, Sprechen und Handeln, ohne falsche Scham oder Menschenfurcht, ohne
Ziererei, Falsch und Schein. Und so brach es hervor, wie es in ihrem Herzen war,
wie es garnicht anders sein konnte, offen, kindlich, frei und wahrhaft: Was
haben Sie mich lange schmachten lassen! Ich war betroffen, ich leugne es nicht,
von dieser Sprache; aber ich konnte sie doch nur achten, es war die Sprache der
Wahrheit und eines gesunden, reinen, unverdorbenen Herzens.
-
Am
11. Oktober kam Vater, der ja schon früher von dem Verhältnis unterrichtet war
und den ich dann auch natürlich um die Hand seiner Tochter gebeten hatte, um uns
persönlich sein freilich als selbstverständlich vorausgesetztes Jawort zu
bringen. Wir waren nämlich schon spazierengegangen. Daß wir - Mittwoch meine ich
- beide nicht im Piening'schen Konzert erschienen, erregte Verdacht, die bekannt
werdende Tatsache selbst das größte Aufsehen; denn die meisten waren doch auf
falscher Fährte gewesen, und Emilie Michaelsen selbst hatte Stine mit den Worten
gratuliert: "Du kannst aber überraschen!" Die Frau Tante,
Kirchspielvögtin Harders hatte gesagt, das glaube sie nicht eher, als bis sie es
sähe. Am 14. Oktober sah sie es: wir fuhren ihr auf unserer Tour nach Albersdorf
vorbei. Dennoch benahmen sich Michaelsen's ganz würdig. Henrici's dagegen, deren
schon recht bejahrte Schwester und Schwägerin sich ja wohl, mit ihnen, aus dem
einen Grunde Hoffnung gemacht haben mußte, weil bei unseren sehr häufigen
Zusammenkünften im engeren Kreise, mit Delff's und Henrici's die persönlichen
Verhältnisse mich regelmäßig zu ihrem Tischherrn machten, benahmen sich
unglaublich dumm: obwohl ich in der Familie bis zuletzt mehr verkehrt hatte als
bei irgendeinem andern, hat kein Mitglied derselben weder mir noch meiner Braut
auch nur gelegentlich Glück gewünscht. Bezeichnend war Delff's Glückwunsch. Ich
hatte mich schon seit lange häufig mit ihm entzweit, auch wohl längere Zeit von
ihm zurückgezogen und auf seine erste Violine längst nicht mehr gehört. Unter
seinen Fehlern war einer der ausgeprägtesten der Neid; nun hatte ich eine Braut,
die nicht bloß auch ihm als äußerlich und innerlich liebenswert erscheinen
mußte, sondern die auch ein für damalige und für Meldorfer Verhältnisse recht
ansehnliches bares Vermögen und eine gute, vielleicht beinahe glänzende
Aussteuer in die Ehe brachte. Und obendrein hatte ich ihn garnicht erst um Rat
gefragt, während Vechtmann, mit dem sich schon lange ein wahres
Freundschafts-Verhältnis ausgebildet hatte, mein stiller Vertrauter gewesen war.
Was sagte er, um mir Glück zu wünschen?: "Na, ich will dir wünschen, daß es dich
nicht gereuen möge!" Und das mit einer Miene, die ich nur zu gut an ihm kannte,
als wenn er sagen wollte: Das ist eine unerhörte Dummheit und Respektwidrigkeit
zugleich. Jetzt wurde mir erst klar, warum er mich von Müller's fern zu halten
gesucht hatte. Auch der gute Kanzleirat Wagner schob unter nichtigen Ausreden
seinen Besuch lange auf. Seine Nichte, Lise Bruhn, ein harmloses, etwas
flatterhaftes und oberflächliches Mädchen, hatte ich auf der erwähnten
Baumschule[191]
in Albersdorf kennen gelernt. Da wir in Wilkerling's Saale Federball zu spielen
pflegten, brachte er sie dahin mit, und eines Tages nahm er sie an seine Linke
und mich an seine Rechte, ein Vater zwischen seinen Kindern. Ja, er ging so
weit, was ich im Augenblick garnicht mal gleich verstand, zu sagen, freilich
wohl nicht in dieser Sitzung, er habe zu Delff gesagt, wenn sie sich leiden
mögen, so habe ich nichts dagegen. Sie hatte 40000 M bares
Vermögen!
Das
alles störte uns nicht in unserem Glück. Wir hörten ja auch von dem Gerede
nichts. Ich hatte in der Sache ein völlig reines Gewissen: keiner hatte ich je
etwas weisgemacht, gegen keine irgend ein Wort fallen lassen, woraufhin sie
Hoffnung hätten bauen können, zu keiner hatte ich je einen Zug des Herzens
verspürt oder sie als die meine denken mögen. Zwischen ihnen allen, obwohl ich
oft in Gesellschaften mit ihnen gescherzt und gelacht, - und Stine war mir von
Anfang ein Unterschied gewesen wie Nacht und Tag. Und dabei war ihr Vermögen,
das darf ich Euch versichern, liebe Kinder, obwohl der liebe Gott auch darauf
einen seltenen Segen gelegt hat, der auch Euch noch zu großem Dank verpflichtet,
nicht mit einem Quentchen ins Gewicht gefallen. Ich kannte damals überhaupt den
Wert und die Bedeutung des Geldes auf der Welt noch nicht; ich hatte überdies
von meiner Einnahme schon einen stattlichen Überschuß, ich hatte von meinem
Vater einen kleinen Teil geerbt, ich hatte noch einen größeren in Aussicht; ich
war knapp gewöhnt, sodaß ich mich reich fühlte, ich konnte mir überall garkeine
Möglichkeit denken - daß jemand nach Geld sollte freien können. Alles tat und
entschied in meinem Falle die Erscheinung meiner Stine, deren Lieblichkeit und
Anmut alle gefangen nahm als Form und Bürgschaft eines Inneren, einer Seele, die
an Lauterkeit und Liebe weit, weit über alles Alltägliche hinausreichte. Und
diese Bürgschaft hat nicht getrogen. Noch heute, bald 3 Jahre nach ihrem
Scheiden, bezeuge ich ihr: daß ich sie voll bewährt erfunden habe. Wenn Ihr
einmal ihre Brautbriefe lesen werdet, liebe Kinder, - meine hat sie in ihrer
schweren Zeit verbrannt - so werdet Ihr sie vielleicht etwas überschwänglich
finden. Und doch sind sie durch und durch wahr. Eure Mutter war eine starke,
kräftige Natur, von starkem Willen und kräftiger Empfindung: Halbheit, Zweifel,
Schwanken lag nicht in ihrem Wesen; was sie wollte, das wollte sie ganz; jetzt
ging sie ganz auf in der Liebe zu mir, in dem sie damals ihrerseits den
Gesuchten zu sehen glaubte, und nun strömte sie in ihren Briefen die Bewegungen
ihres tiefsten Innern mit rückhaltloser Offenheit aus. Und wenn ihre Ausdrücke
zu hoch gegriffen, wenn ihre Hoffnungen, Verheißungen, Wünsche und Erwartungen
zu überschwänglich erscheinen sollten, das kann ich Euch sagen: sie hat nicht
bloß alles wahr gemacht, was sie mir je durch ihre Erscheinung, ihr Wesen, ihre
Person oder auch durch ihre Worte versprochen, verheißen oder hoffen lassen hat,
sie hat alle meine Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche weit, weit noch
überboten! -
Am
Sonnabend und Sonntag, den 23. und 24. Oktober, besuchte ich sie zum ersten Mal.
Welche Tage, die Sonnabende! wenn ich dann angestrebt kam, sie mich erwartete,
aufsprang, nach der Hintertür mir entgegen eilte und mich umfing! Oder, wenn wir
abends, wo Vater studierte und Mutter bei den Kindern saß, in der großen
Wohnstube allein das einfache und herrlich mundende Abendbrot zusammen
einnahmen. Wie oft habe ich sie, bei mir still, Göttermähler genannt! Aber wenn
dann der Sonntag-Nachmittag kam, die Dämmerung nahte, sie mich noch eine Strecke
hinaus begleitete, und wir dann Abschied nahmen - o, welche Zentnerlast lag dann
auf unseren Seelen!
Der
Mittwoch brachte dann die erste Tröstung wieder, Briefe auf beiden Seiten. Wie
viele Male habe ich sie gelesen! Und dann war der Sonnabend auch nicht mehr so
fern, wo ich einen Brief, sie mich selbst erhielt. Am 30. Oktober kam
stattdessen sie zu mir, und am 8. November ging sie zu Tante Johanna, um mit der
ihre Aussteuer möglichst preiswürdig und möglichst sparsam einzukaufen. Das
dauerte bis zum 25. November, wo ich sie endlich in meine Arme schließen durfte
und sie mich. Viel Sehnsucht und Herzbeklemmung hatte es mittlerweile gegeben.
Nun kam ihr Geburtstag, der 23. November, zu dem mein Hauptgeschenk das Gedicht
war, das ich in ihr Album geschrieben habe. Wie wenig hab' ich es wahr gemacht!
- Sie blieb bis zum 4. Dezember Wie flogen die Tage! Spät in der Nacht erst
pflegten wir uns zu trennen. Es war nicht vernünftig, weder von mir noch von
ihr, aber ich trug die Verantwortung als der Mann und als der älteste, der
obendrein am andern Morgen nicht bloß da sein, sondern auch frisch sein sollte.
Am 11. Dezember, wo ich eigentlich nicht hatte kommen wollen, überraschte ich
sie doch. Sie flog mir an der stets mir allein geöffneten Hintertür entgegen und
lag - ich sehe sie noch so deutlich - in der ganzen Erregung der Freude in
meinen Armen. (Vielleicht verwechsele ich das Bild mit dem vom 22. Januar. Es
hat sich mir ganz besonders tief eingeprägt.) Der Höhepunkt aller Besuche war
der zu Weihnacht. Als ich am 22. Dezember gleich nach dem Essen zu Thomas
Schmidt hinüberging, um mit der Albersdorfer Wochenpost von Eggert Horn zu
fahren, war ich so hochgestimmt wie wohl nur je: Heut' ist gute Zeit, sagte ich
zu Hans Leicht, einem Primaner, der auch in die Ferien ging. 14 Tage, teils in
Albersdorf, teils in Süderrade bei den lieben Ahrens durfte ich bei ihr sein.
Unaussprechlich glückliche Zeit! Vom zweiten Weihnachtstage an waren wir in dem
gemütlichen Süderrade.
Aber
in demselben Maße schwer war dann nach so langer, schöner Zeit das Scheiden, am
5. Januar, dem ein Wiedersehen erst nach 1½ Wochen folgte. Namentlich ihre
Briefe aus dieser Zeit sind schwer und bedrückt.
Auch
am 22. und 23. Januar war ich wider Erwarten bei ihr und fast ganz mit ihr
allein. Am folgenden Sonntag nicht, da sie erst den Freitag oder Sonnabend auf
einige Stunden in Meldorf gewesen war, und wir zu Fastnacht in Süderrade 3 volle
Tage in Aussicht hatten. Dahin kam ich dann am 5. Februar bei mildestem
Winterwetter zu Pferde, und sie kam mir mit Vetter Altmann, der dann das Pferd
nahm, mit entgegen. So herrlich diese Tage waren, so schwer war der Abschied,
als ich am 8. Februar mit sinkendem Tage in das mittlerweile aufgekommene
Schneegestöber hineinritt. Sehr lebhaft steht mir ein Augenblick besonders in
Erinnerung, wo ich auf der einsamen Landstraße in lautes Weinen ausbrechen
mußte. - Ihr nächster Brief, besonders lieb und zärtlich, unterzeichnet "Deine
glückliche Stine" verscheuchte wieder auf Augenblicke allen Druck und alle
Schwermut, und wenn wir zusammen waren, wie darauf vom 12.-16., die sie in
Meldorf war, schwanden die Schwermutsgefühle wie Nebel vor der
Sonne.
Es
war dem Wetter nach ein wunderbarer Winter. Bis Weihnacht war es das mildeste
Wetter gewesen; erst in den Weihnachtstagen selbst war Frost eingetreten, aber
bald wieder gewichen. Am 8. Februar, grade Fastnacht, als ich von Süderrade
fortritt, begann der Schnee zu fallen, und zwar von nun tagtäglich, erst nur
spärlich und leise, aber ohne Unterbrechung und geradezu tagtäglich, dann auch
einige Male - und zwar je weiter gegen den Frühling, desto mehr - reichlich und
massenhaft. So schon am 19., wo ich jedoch zu Pferde glücklich hin und herkam.
Am 27. aber ward es ein solches Schneetreiben, daß ich, da Gehen eine
Unmöglichkeit oder gradezu ein Wagnis gewesen wäre und kein Wagen fahren wollte,
in der Tat zu meinem größten Verdruß in Albersdorf einschneite und nicht einmal
eine Nachricht an den Rektor gelangen lassen konnte. Erst Montag Abend kam ich
wieder in Meldorf an. Das Ausbleiben auch der Post und die von überall her
gemeldete, völlige Stockung alles Verkehrs rechtfertigte mich wohl vollständig.
Die Schneemassen häuften sich bis gegen Ostern noch mehr, verhinderten jedoch
meinen Besuch an dem nächstfolgenden Sonntag nicht, wo ich Marktferien hatte. Am
16. März kam Stine, um das Fest über in Meldorf zu bleiben; auch hatten wir,
obwohl bei dem schwankenden Wetter nicht fest, eine Reise zu meiner Mutter und
den Geschwistern in Aussicht genommen, die dann auch in der Tat trotz Wetter und
Wege ausgeführt wurde.
Das
hing zusammen mit den Gemütszuständen, die sich bei mir je länger, desto mehr
entwickelt hatten.
Fast
vom Tage der Entscheidung an hatte sich meiner, sobald ich allein war und
namentlich die Abende, wenn ich zu Bett ging, eine wahre Verbrecher-Angst
bemächtigt. Ich glaubte immer deutlicher zu empfinden, daß ich meiner Stine,
dieses Bildes einer blühenden Jungfrau, nicht wert, daß sie zum Weibe zu
begehren und zu nehmen ein Frevel sei. Vor ihrer Gegenwart wichen diese Gedanken
wie weggeblasen. Je mehr aber allmählich die Zeit der Hochzeit herannahte, desto
hartnäckiger kehrten sie wieder und wichen auch in ihrer Nähe nicht mehr ganz.
Ich sprach endlich immer deutlicher und entschiedener die Überzeugung aus, mein
Gewissen verlange, auf das Glück ihres Besitzes zu verzichten. Sie ward namenlos
traurig. So stand es hin. Am 28. Februar habe ich ihr in Albersdorf einen Brief
hinterlassen, dessen sie vom 1. März erwähnt, in dem eine weitere Beichte
enthalten gewesen sein wird. Ihre Antwort vom 1. März zeigt die Liebe, deren sie
fähig war. Es half aber nur für kurze Zeit. Ich kam immer wieder mit dem Satze,
wir müßten uns trennen, ich dürfte sie nicht heiraten. Dieses immer erneute
Drängen machte sie namenlos unglücklich. Sie kämpfte einen schweren Kampf, der
ihrer Schwester und Dr. Müller nicht ganz verborgen bleiben konnte. Endlich kam
sie so weit, mir zu sagen, wenn es denn nicht anders sein könnte, dann wollten
wir uns trennen. Sowie die Trennung Wahrheit zu werden drohte, vermochte ich den
Gedanken nicht zu ertragen und zog wieder zurück. So ging es namentlich noch in
den ersten Tagen der Osterferien hin und her. O, wie hab' ich sie nutzlos,
ergebnislos, wie ein Kind, nicht wie ein Mann, gequält, sie, die ich so liebte,
die mir so über alles hoch und teuer war, sie, die sich mir in dem ganzen
Vertrauen einer reinen und lauteren Seele völlig und für immer zu eigen gegeben
hatte! Was hat sie als Braut mit mir getragen! Und wann hat sie jemals nicht
vergeben und nicht vergessen?!
Dieser
Qual machte Dr. Müller dadurch zunächst ein Ende, daß er uns trieb und
bestimmte, die lange beabsichtigte, aber schon wieder aufgegebene Reise nach
Lensahn dennoch anzutreten. In der Nacht des stillen Freitags setzten wir uns in
die Post, am andern Tage kamen wir auf Lensahn an.
Hier
war es nun am 2. Festtage und entschiedener noch am 31. März, wo ich mich noch
einmal gegen meine Braut rückhaltlos aussprach und nur, wie immer, die süßeste
Milde und Vergebung, die ungetrübteste, ja wahrhaft himmlische Liebe fand. Zum
ersten Mal kam ein voller Friede und eine selige Ruhe über mich. Ich sah und
erfuhr obendrein auf's neue mit der Tat, eine Frauenseele von ungewöhnlicher
Hoheit und Größe der Gesinnung habe sich mir zu eigen gegeben. O, ich hätte
immer vor ihr verehrend auf den Knieen liegen müssen! Wie eine Heilige hätte ich
sie verehren, wie einen kostbaren, aber heilig zu haltenden Schatz hätte ich sie
mein ganzes Leben lang auf Händen tragen müssen! O, sie war eine seltene Frau!
Und ich war ihrer nicht wert und wurde ihrer nicht wert. Nur der Gedanke an ihr
nie versagendes, himmlisches Vergeben vermag in etwas die Bitternis zu lindern,
die nun dem Schmerze des Verlassenen für immer beigemischt bleibt. Auch nach
ihrem Tode ist sie mir eine segnende Macht. Ihr sei ewig
Dank!
Am
3. April kamen wir noch auf schneebedeckten Wegen unter hohen Schneemauern
zurück.
Der
Hochzeitstag nahte. Die Zurüstungen zur Eröffnung des Hausstandes nahmen
vielfach die Aufmerksamkeit und Zeit in Anspruch. Am 15. April überbrachte sie
mir noch einmal selbst einen Brief, der die ganze Fülle und Stärke ihrer Liebe
offenbarte. Sie hat wahr gemacht, was sie darin versprochen hat. Zum Bußtag war
ich noch einmal mit ihr drei Tage auf Süderrade. Die letzte Woche brachte sie
zum Besuch der Einrichtung in Meldorf zu. Am 7. Mai fuhren wir dann zurück nach
Albersdorf. Am 8. Mai - Exaudi-Sonntag![192]
- war die Hochzeit.
Sie
war richtig still. An Gästen waren nur Dr. Müller, Carsten und Braut und
Christiane Thiessen erschienen. Vormittags waren wir nicht zur Kirche. Die
Trauung sollte um 3 Uhr sein. Die Kirche war von Neugierigen und Teilnehmenden
recht gefüllt. Vater hielt eine erbauliche Traurede, die er uns nachher auch
aufgeschrieben hat. Mit tiefer Bewegung und gewiß auch ich mit ernsthaftestem
Willen gelobten wir uns Treue und Liebe.
Als
wir zurückkehrten und in ihrer nunmehr für immer zu verlassenden Stube allein
waren, faßte sie mich um den Nacken und mit einem Ausdruck der Liebe, den ich
nie vergessen werde, sagte sie zu mir wie triumphierend über alle Hindernisse
und Hemmungen und Kämpfe: "So, nun bist du mein Mann!" In solcher Verklärung
habe ich ihr schönes und seelenvolles Gesicht nur noch einmal wiedergesehen: am
11. Mai, als sie nach langem Kampfe unter furchtbaren Qualen unserer ersten
Tochter das Leben gegeben hatte und nun nach beendetem Ringen ihren geliebten
Mann, der vor Tränen nicht sprechen konnte, umarmen durfte.
-
Nach
dem einfachen Mittagessen rüsteten wir uns zur Abfahrt. Das Wetter war am Morgen
sonnig und freundlich angefangen. Dann hatte es sich bezogen. Als wir über die
gestreuten Blumen zur Kirche gingen, war es schon ganz trübe; beim Herausgehen
regnete es. Als wir die Fahrt antraten, fielen schon große Schneeflocken, und
als wir nach langer und erschwerter Fahrt in Meldorf gegen 10 Uhr eintrafen, lag
die Erde unter einer Schneedecke von einem halben Fuß. Ich glaube recht zu
erinnern, wenn ich schon damals gleich mich der Auffassung als eines Vorzeichens
nicht ganz erwehren konnte.
Unsere
Wohnung war von freundlichen Händen lieblich geschmückt. Sie war nur klein, 4
Zimmer und der sogenannte Glasschrank, ein Verschlag, - aber wie Stine sie in
einem Briefe nennt, eine Paradieseswohnung. Sie war ganz neu zurecht gebaut und
schön tapeziert, namentlich die mattblaue Wohnstube. Dazu die neue, blitzende
Einrichtung, für Meldorfer Verhältnisse, vollends für meine Gewöhnung, fein, ja
geradezu glänzend und alles, namentlich auch die Mobilien aufs erwünschteste und
gediegenste gearbeitet und gelungen. Endlich die Blumen! Meine Stine selbst
hatte damit ihr und unser Heim zu schmücken rechtzeitig Sorge getragen und mit
dem ihr eigenen Geschmack und künstlerischem Sinn einen wundervollen Flor,
geradezu einen Garten im Zimmer hergestellt, dem durch den rankenden
Eisenbahn-Efeu an den Fenstergardinen die Laube nicht fehlte. Von dem Augenblick
an, wo sie mir mit dem erhaltenen Zettel und Vers ihre Rose brachte, hat sie
mir, der ich mich früher um Blumen nie gekümmert, die Liebe zu ihnen wahrhaft
eingeimpft. Das Prachtstück nämlich des Ganzen war eine centifolia
missima[193],
dicht mit einer Fülle der lieblichsten Röslein bedeckt. Sie ging uns leider
nachher aus, und wir haben nie vermocht, uns wieder eine zu verschaffen. Bei
keinem Gärtner, in keiner Ausstellung habe ich je etwas Ähnliches
gesehen.
So
sah es äußerlich in unserem Daheim aus - ganz Meldorf war voll davon - und in
unserem Innern sah es ähnlich aus. Wie überschwenglich reich hatte der gnädige
Gott mich gemacht!
Kiel,
10. März 1894
Ein
Bild Eurer Mutter,
wie
es mir sich darstellt und im Laufe eines 38-jährigen, engsten Zusammenlebens
eingeprägt hat, in Worten zu zeichnen, wird hier die geeignetste Stelle sein.
Denn wenn auch ihr Charakter im Laufe eines langen und nicht leichten Ehestandes
seine ganze Reife und Vollendung erhalten hat, so war er begreiflich doch in
allen seinen Grundzügen beim Eintritt in die Ehe fest und
fertig.
Stine
hatte das Glück, das oft über die ganze Natur des Menschen eine entscheidende
Bedeutung hat, gute und gesunde Eltern zu haben. Ihr Vater, Johann Paulsen, war
der Sohn eines Lehrers in dem bei Welmbüttel unweit Albersdorf gelegenen, zum
Kirchspiel Tellingstedt gehörigen Dorfe Gaushorn. Daß er zugleich auch Bauer und
zwar in Welmbüttel war, ist sicher, wenn auch befremdlich; Lehrer für die Schule
Gaushorn-Welmbüttel war er vielleicht aus Neigung; vielleicht ist es auch aus
dem Wunsche, im Winter etwas hinzuzuerwerben - obwohl die Haupteinnahme in dem
"Wandeltische"[194]
bestanden haben wird - und aus den geringen Ansprüchen an Fähigkeiten und Zeit
des Lehrers zu erklären. Seine Frau Gretje Peters gebar ihm zwei Söhne. Der
ältere, Franz, starb, als er eben erwachsen war. Der andere, bedeutend später
geboren, 1794 am 26. September, Johann Paulsen, erwies sich zur Freude der
Eltern und namentlich des Vaters, der es schon bei dem ersten Sohn vergebens
gewünscht hatte, zum Studium befähigt und geneigt. Den ersten Sprachunterricht
erhielt er von dem damaligen Diakonus Petersen in Tellingstedt, nachherigen
Pastor in Nordhastedt, besuchte dann die Meldorfer Schule und die Kieler
Universität, wohl gerade in den ersten Jahren der so anregenden und aufregenden
Wirksamkeit von Claus Harms, dessen erklärter Anhänger und Verehrer er wurde und
auch Zeit seines Lebens geblieben ist.
Nach
dem Tode seines Vaters verheiratete sich die Mutter wieder an Hans Thiessen in
Welmbüttel, den die älteren Geschwister Stine's noch als liebevollen Großvater
gekannt haben. Dann starb die Mutter, und Thiessen freite wieder, eine Groth,
"Antje Meller". Als dann auch Thiessen starb, nahm auch Antje Meller einen
andern Mann, Peter Thomsen, der immer noch als in einem Verwandschaftsverhältnis
stehend von der Familie Paulsen angesehen wurde.
Seine
erste Anstellung fand Vater in Nienstedten als Prädikant des alten Pastors Witt,
eines geborenen Sylters und Freundes von dem gleich zu nennenden Carsten Peter
Hayken. So wird es sich gemacht haben, daß er die Bekanntschaft der Tochter
dieses Kapitän Hayken machte, damals Wittwe eines wohlhabenden, aber wohl sehr
wunderlichen Engländers John Smith, von dem sie einen Sohn gleichen Namens
hatte, dessen Erziehung ihr zu allen Zeiten schwer aufgelegen zu haben scheint.
Als sie Vaters Bekanntschaft gemacht hatte, - er muß, wenn auch von recht
kleinem Wuchse, in seiner blühenden Jugend ein sehr hübscher Mann gewesen sein,
von blühendem Gesicht, schwarzen Haaren und blauen Augen, mit freundlichstem
Ausdruck - soll sie geäußert haben, wenn sie einen solchen Vater für ihren Sohn
(ein Bruder von John, der in einem Briefe Onkel Smith's erwähnt wird, muß damals
schon gestorben sein) kriegen könnte, so würde sie das als ein Glück ansehen.
Das mag ihm hinterbracht sein; sie selbst, des Vaters älteste und
Lieblingstochter, dunkel wie alle Geschwister, eine stattliche Gestalt, von
sanftem, gewinnendem Wesen, wird ihres Eindruckes nicht verfehlt haben: sie
wurden ein Paar, nach einem Briefe Vaters, zu Anfang 1821 und bezogen demnächst
das Diakonat in Heide. Nach einigen Jahren, 1825, wurde Vater in Albersdorf zum
Diakonus, dann zum Hauptpastor gewählt und hat hier bis zu seinem Tode, am 21.
Januar 1867, mit sichtbarstem Erfolge und großem Segen gewirkt und einer
allgemeinen Hochschätzung, ja Verehrung genossen.
Vater
war eine durchaus reine und lautere Natur, von vollendeter Schlichtheit und
Selbstlosigkeit, demütig und bescheiden, bis in sein Alter in größerer und
unbekannter Gesellschaft blöde und schweigsam, dabei aber, sobald höhere
Interessen in Frage kamen, besonders, wenn sein Amt es forderte, also namentlich
auch auf der Kanzel ohne alle Menschenfurcht und von rücksichtslosem
Wahrheitsmute. Nur einer Leidenschaft ist er wohl nie ganz Herr geworden, des
Jähzornes, der ihn dann für jede ruhige Erwägung und vernünftige Einrede völlig
taub zu machen vermochte und ihn der Umgebung als gänzlich ungebärdig erscheinen
ließ. Hatte er dann der Erregung in einem fast unverständlichen Worterguß Luft
gemacht, so rannte er auf sein Zimmer, um hier dann aber bald genug seine Ruhe
und Freundlichkeit wiederzugewinnen. Wie oft hat seine jüngste Tochter, die ihn
wohl von allen Kindern am meisten verehrte, je älter sie wurde, desto mehr, mit
dankbarem Herzen und kindlicher Verehrung von ihm gerühmt, daß sein über
kindliche Vorstellungen einen Augenblick verdüstertes und zürnendes Gesicht,
wenn sie ihn um Verzeihung baten und Reue bezeigten, im nächsten Augenblick
wieder geglänzt und geleuchtet habe, wie die Sonne. Dennoch konnte es wohl nicht
ausbleiben, daß Frau und Kinder vor seinen Ausbrüchen mit einer gewissen Angst
erfüllt wurden und das um so mehr, als er nicht bloß überhaupt an die
Gewissenhaftigkeit seiner Kinder die strengsten Forderungen stellen zu müssen
glaubte, sondern auch von Anfang an ihr Hauslehrer sein wollte, obwohl ihm dazu
nicht bloß sehr häufig die Zeit und Ruhe, sondern in der Tat auch die rechten
Gaben, vor allem die gerechte und eingehende Beurteilung der Kindesnatur abging.
Ganz besonders hohe und geradezu unvernünftige Forderungen stellte er an ihre
Fassungskraft und an ihr Gedächtnis in der Religions-Lehre, worin er verlangte,
daß sie allen Kindern der Gemeinde weit vorangehen sollten. Mit ihrem neunten
Jahre hat meine Frau an den Konfirmationsstunden nicht bloß teilnehmen, sondern
auch alle Aufgaben, die nicht ganz gering bemessen wurden, gleich den älteren,
14- und 15-jährigen Mädchen mitlösen müssen. Da nun der Vater gegen seine
eigenen Kinder am wenigsten nachsichtig war und von der Fassungskraft des
Kindesalters keine rechte Vorstellung hatte, so läßt es sich begreifen, daß sich
sein Unterricht für seine Kinder geradezu zu einer Qual gestaltete. Oft pflegte
meine Stine, die sich selbst eines ausgezeichneten Gedächtnisses und rascher,
leichter Auffassung erfreute, zu erzählen, wie bei ihrer minderbegünstigten
nächst älteren Schwester die Vor-Angst vor der nahenden Stunde stetig gewachsen
und mit dem Schlage 12 und den Tönen der Betglocke, wo der Unterricht begann,
sich in körperlichem Zittern kundgegeben habe. Nie hat der gute Vater von diesem
Stande der Dinge eine Ahnung gekriegt: arglos und unbewußt, wie er war, hatte er
auch eine merkwürdige Blindheit für die Personen und Vorgänge seiner Umgebung,
auch seine eigenen Kinder. Wie sich das auch in ganz gleichgültigen und äußeren
Dingen zeigte, beweist der Umstand, daß er auf Spaziergängen seinen eigenen
Töchtern als ein Fremder ehrerbietig grüßend vorbeigehen konnte. Vater war, im
allerbesten Wortverstande, und blieb bis in sein Alter wie ein
Kind.
Etwas
weiter hinauf als des Vaters kann ich den Stammbaum der Mutter meiner Stine
verfolgen. Was ich auf Sylt teils aus den Kirchenbüchern, teils von den
Verwandten erforscht habe, ist im Stammbaum
zusammengefaßt.
Über
Großvater hinaus reicht meine, auf Stine's Erzählungen aus ihrer Kindheit
beruhende Kunde nicht.
Karsten
Peter, wie er wohl nach niedersächsischer Sitte genannt wurde, ist noch im
Knabenalter, wahrscheinlich gleich nach der Konfirmation, hinausgezogen in die
Welt, zur See, wie es die meisten jungen Friesen damals taten, sein Glück oder
doch sein Fortkommen zu suchen. 8 Schilling, so heißt es, hatte er in der
Tasche. Als er nach längeren Jahren selbstständiger Schiffsführung als Kapitän
in Altona sich zur Ruhe setzte, war er ein wohlhabender Mann. Von den Besuchen
der Familie Paulsen in Altona bei den Großeltern, auch bei Tante Altmann, die
ein Haus mit schönem Garten an der Palmaille bewohnten, pflegte meine Stine mit
der ihr zu Gebote stehenden, dichterischen Anschaulichkeit, mit wahrer
Begeisterung zu erzählen. Der Großvater führte bei aller Freundlichkeit gegen
Kinder und Enkel ein patriarchalisches, strenges Hausregiment. Seine Stimme, in
Sturm und Wogengebraus gestählt, vermochte wohl einmal das Haus erzittern
lassen. Ein Brudersohn von ihm, Uwe Hayken, der noch lebte, als ich das erste
Mal auf Sylt das Geschlecht der Hayken in Morsum aufsuchte, sagte von ihm in
seiner Weise: es wäre ein "furchtbarer Kerl" gewesen; da er unter ihm gefahren
hatte, wird das der Nachklang seiner schweren Jugenderinnerungen gewesen sein:
große, vielleicht in jüngeren Jahren ungebändigte Kraft spricht in der Tat
sowohl aus dem Abbilde von ihm, das unsre liebe Mutter aus der Albersdorfer
Rumpelkammer gerettet hat, als auch aus der Photographie, die gleichfalls sie
den Nachlebenden durch Vervielfältigung zweier Elfenbein-Medaillon-Bilder (im
Besitze Tante Luises und der Familie Brunswig) erhalten hat. Seine Lebensführung
blieb einfach, er für seine Person sehr haushälterisch, - jedoch, wenn Vater
Paulsen oder seine Frau gelegentlich Sparsamkeitsrücksichten nehmen zu müssen
glaubten, pflegte er wohl zu ermutigen: "krigst genog von't Schiet". Ging er aus
dem Hause, so hieß es: "Attüs Lischen!", "Gah mit God, Karsten!" (sprich:
Kassen!). Daß "das Leben hier im Hause nicht zur Aufheiterung" sei, daß man "so
manches höre und sehe, was dem Herzen wehe tut", schreibt Gretchen von ihrem
Bruder John. Während ihres zweijährigen Aufenthaltes bei dem Großvater waren ihr
die Sonntagsbesuche bei Altmann's die erhellenden Lichtblicke. - Auf Großvaters
Grabstein, der mit dem alten Altonaer Kirchhofe verschwunden ist, ließ er ein
Schiff nachbilden und darunter den bezeichnenden Spruch
setzen:
Auf
diesem Schiffe fahr ich hin,
Wo
ich noch nicht gewesen bin.
Weniger
deutlich und ausgeprägt, obwohl sie länger lebte als ihr Mann, muß in der
Vorstellung der Enkelinnen, besonders auch meiner Stine, das Bild der Großmutter
Hayken gewesen sein. Von ihrer Herkunft hat sich garkeine Kunde erhalten; die
Mutter hat, nach Tante Gretchen's Erinnerung, als Kuchenbäckerin die Märkte
bezogen; eine Schwester von ihr, verheiratete Schröder, hat bei ihrem Sohn,
einem Tischler, in ärmlichen Verhältnissen, zuletzt bei Großmutter Hayken im
Hause gelebt. Ihr Bild zeigt ein hübsches Gesicht mit dunklem Haar; jüdisches
Gepräge läßt sich zwar auf demselben nicht erkennen, und doch möchte ich
glauben, daß es vorhanden gewesen ist. In der Überzeugung nämlich, daß keins von
Euch, liebe Kinder, den geringsten Anstoß daran nehmen, keins von Euch das teure
Bild unserer Heimgegangenen auch nur im allergeringsten sich trüben lassen wird,
bringe ich hier Eurer Mutter und meine eigene Ansicht zur Erwähnung, daß in der
Nachkommenschaft des Hayken'schen Paares ein kleiner Zusatz semitischen Blutes
erkennbar wird, der auf Großmutters Vorfahren zurückzuführen scheint. Zum ersten
Mal fiel mir dieser Anflug jüdischen Typus' auf in dem Daguerrotyp, das Mama als
Braut in Hamburg, wo sie ihre Aussteuer einkaufte, hatte machen lassen. So
brünett sie war, hatte ich in ihrem Gesichte nie etwas derartiges bemerkt, auch
nicht bei irgend einem ihrer, bis auf Elisabeth, sämtlich brünetten Geschwister;
mir ist es aber bekannt und namentlich durch die Abnahme der Himmelskörper
festgestellt, daß die Lichtbild-Platte schärfer aufnimmt, sieht gleichsam und
wiedergibt, als das menschliche Auge; und als ich später das Daguerrotyp von
Hans und Carsten sah, traten mir in des letzteren Zügen wiederum ganz
unverkennbare semitische Linien, ja in den Augen auch auf Stine's oben erwähntem
Bilde, ich weiß nicht wie, ein Etwas hervor, das einen ganz besonderen Glanz und
eine ganz besondere Kraft des Braunes der Augen widerstrahlte. Obwohl ich nicht
leugnen kann, daß Stine's Bild mir nicht so ganz nach Wunsch war, so ähnlich ich
es auch fand, weiß ich doch nicht, daß ich damals gegen sie oder andere
irgendetwas darüber geäußert hätte. Erst in späteren Jahren, als Tante Altmann
älter wurde, fing Stine von der Frage zunächst im Scherz, mehr und mehr im Ernst
an zu sprechen, ob nicht Tante Altmann ganz die Mutter Lea sei; ihre Söhne, Karl
und Eduard, hätten, selbst im Wesen, unzweifelhaft etwas jüdisches. Ich konnte
dem nur beipflichten, namentlich auch in Bezug auf Tante Altmann; bei Tante
Brunswig fanden wir nichts der Art, wohl aber Stine bei ihrem mir nicht bekannt
gewordenen Vetter George, dem jüngsten Brunswik. Zum letzten Mal trat mir der
semitische Zug mit unverkennbarster Deutlichkeit hervor, als ich Henriette
Altmann, verwittwete Becker, bei Schwager Otto's Leichenfeier durch die Stube
gehen und mir das Profil zuwenden sah: es war mir, als wenn ich altsemitische
Umrisse auf ägyptischen Bildwerken vor mir erblickte. Selbstverständlich läßt
sich so etwas nicht beweisen; man kann auch nicht angeben, wo das eigentümlich
Semitische steckt. Es steckt nicht etwa bloß in der gebogenen Nase, nicht in den
sonstigen Umrissen, es steckt auch in der besonderen Nüance der Farbe, des
braunen Teints, der Röte der Wangen und der Lippen, die entschieden in das
Violette spielte, dem bei Germanen nicht vorkommenden Glanz des braunen Auges,
dem Schwarz und der Weichheit, der Fülle und Üppigkeit des Haarwuchses, kurz, in
einer Vereinigung verschiedener Kennzeichen, die ein empfängliches und
geschärftes Auge, in Völker-Psychologie geübtes Auge sofort erfaßt, die aber
einem unempfänglichen Blick nicht mathematisch zu demonstrieren sind. Ein Beweis
aber, daß unsere Meinung nicht aus der Luft gegriffen ist, ist der Umstand, daß
meine Frau wiederholt auf Freunde den Eindruck gemacht hat, sie müßte eine
Südländerin, z.B. eine Spanierin sein. So hat sich mir wie meiner Stine die
Meinung zu einer ganz festen und ernsten Überzeugung gestaltet, daß ihrem und
ihrer Geschwister und Verwandten germanischem Blute ein semitischer Tropfen
beigemischt war. Ja, ich glaube, gewisse geistige und seelische Züge meiner
geliebten Frau, z.B. allein schon die seltene Kraft ihres Wollens und Glaubens
mögen auf die schönsten und tiefliegendsten Charaktereigenschaften des
israelitischen Wesens zurückgehen. Wie fern aber lag ihrem Sinn der Gedanke,
eine solche Stammesverwandschaft könne ihr zur Unehre gereichen, wie wenig hat
sie mir je ihr liebes, hochverehrtes und heiliges Gesicht und Bild trüben oder
entstellen können. Ob unsere Meinung Wahrheit hat oder nicht, ist ja schließlich
von keinem Belang; aber ich kann nicht leugnen, daß die Frage doch deshalb ein
Interesse für mich hat, weil sie die unverwüstliche Zähigkeit des jüdischen
Wesens weiter in's Licht zu setzen geeignet ist. Bemerkenswert ist noch, daß die
Augenschwäche, die bei Großmutter zuletzt zum richtigen Star führte, auch bei
ihren Enkelinnen wieder hervorgetreten ist; zwei Brunswik, Elise und Jenny,
haben sich gleichfalls am Star operieren lassen müssen, Elisabeth und Stine
haben ungewöhnlich früh einer Brille bedurft; unsere Christine hat schon jetzt,
eben in den dreißigern, eine nehmen müssen.
Das
Hayken'sche Paar hatte vier Kinder. Der Sohn, 1832 mit seiner damaligen Braut,
Luise von Döhren, Pate seiner jüngsten Nichte, ist nach kurzer Ehe mit
Hinterlassung eines Sohnes Andreas, der in Laguaira den spanischen Kosenamen
Andressito, Cito, sich geholt hat und jetzt auf Heuerstubben wohnt, gestorben.
Tante Luise, reich und schön, lustig und witzig, kehrte aus Amerika mit ihrem
Kleinen zurück, eine viel umworbene junge Wittwe; erst in reiferen Jahren gab
sie einem Kaufmann Lunschen ihre Hand, mit dem sie auch nur eine kurze Ehe
gehabt hat. Meine Stine, ihr Patenkind, hat immer viel Anhänglichkeit und
Dankbarkeit für sie gehabt.
Die
zweite Tochter von Großvater Hayken, Henriette, heiratete den Erwählten ihres
Herzens, den Kaufmann Altmann in Altona, den sie aber früh verlor. Von den
Kindern ist Karsten noch als junger Mensch an der Schwindsucht gestorben,
Mathilde, verheiratete Eisenblatt, als junge Frau mit Hinterlassung eines Sohnes
und einer Tochter, von denen der erste gleichfalls in jugendlichem Alter in
Bangkok starb, die letztere als Gouvernante des Inspektors Koyen die
Bekanntschaft des Prinzen von Schleswig-Holstein-Noer[195]
machte, der sich zum Grafen von Noer herabsetzen ließ, um sie zu heiraten. Auch
früh Wittwe geworden, lebt sie mit schon erwachsenen Töchtern auf Noer, das sie
mit Grönwohld und Behrensbrook von ihrem Mann geerbt, aber erst gegen die
Anfechtung des Prinzen Christian von Schleswig-Holstein-Augustenburg in einem
langen Rechtsstreite zu verteidigen hatte. Karl Altmann wollte Landwirt werden,
ging dann nach Amerika, wo er sich auch am Kriege beteiligt und später eine
reiche Plantage im Süden verwaltet hat. Verheiratet mit einer Amerikanerin, ist
auch er früh gestorben. Eduard Altmann, der jüngste, wurde Kaufmann, hatte aber
im selbstständigen Geschäft kein Glück, und ist gleichfalls nicht alt geworden.
Eine der Töchter heiratete den Bruder von Rike Brunswik's Mann, Kaufmann Behn in
Lübeck; Henriette, die allein noch am Leben ist, hat von ihrem verstorbenen
Manne, Daniel Becker, ein nach Millionen zählendes Vermögen überkommen, während
die sämtlichen übrigen Altmann'schen Kinder trotz der nicht ganz kleinen
elterlichen Erbschaft es zu keinem wirtschaftlichen Gedeihen zu bringen gewußt
haben.
Die
jüngste Hayken, Christine, tat, wie wenigstens erzählt wurde, eine sog.
Vernunftheirat, scheint aber eine sehr glückliche Ehe mit ihrem Brunswig,
Kaufmann in Lübeck, geführt zu haben. Erst nach der Feier seiner goldenen
Hochzeit starb der Mann; Tante Stine überlebte ihn um mehrere Jahre und hatte
selbst noch ihre Schwiegermutter, Urmutter genannt, im Hause. Das alte
Brunswig-sche Haus in der Fischerstraße, ziemlich unten, ist noch heute (oder
war bis vor kurzem) kenntlich an den buntglasierten Lacksteinen und der
Inschrift: Mortalium negotia fortuna nexat.[196]
Das Brunswig'sche Geschäft ging vorzugsweise nach Schweden und Finnland, scheint
aber je länger, desto mehr zurückgekommen zu sein. Auch die Söhne, sämtlich
Geschäftsleute, haben hier wie "drüben" - Fritz war längere Zeit in Lima - keine
Seide gesponnen. Von den Töchtern wurde die älteste, Elise, früh verheiratet an
einen Landmann Dühring, der das Gut Caden bei Ulzburg pachtete, einige Jahre
scheinbar in großem Wohlstande lebte, dann aber die Pachtung aufgeben und ein
Wirts- oder Gasthaus in Itzehoe übernehmen mußte. Da er sich dem Trunke ergab,
ging auch das nicht, und die Frau mußte es wohl als eine Erlösung betrachten,
als er starb. Allgemein geschätzt, hat sie dann das Hotel du Nord noch Jahre
lang allein verwaltet und gehalten. Friederike heiratete den wohlhabenden
Kaufmann Behn und lebt in glänzenden Umständen. In bescheidenen, aber
glücklichen Verhältnissen lebt auch noch die in der Familie und namentlich von
unserer lieben Mutter am meisten verehrte Jenny Soltau, Frau eines Kaufmannes,
jetzt Buchhalters, jetzt dicht an 80, aber von großer körperlicher und geistiger
Rüstigkeit. Emilie allein ist nicht verheiratet.
Nun
komme ich zurück auf die Mutter meiner Stine, Johanna. Großvater Hayken, selbst
in den ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen und mit den bescheidensten
Kenntnissen ausgerüstet, auch, soweit ich sehe, ohne ein ausgesprochenes
religiöses Interesse, ließ doch seine sämtlichen Töchter in
Christiansfeld[197]
in einer derzeit von weither aus Dänemark, Schleswig-Holstein, und Norwegen viel
besuchten höheren Mädchenschule erziehen, aus welcher Mutter offenbar dauernde
Eindrücke und die ganze fromme Richtung ihres Herzens ins Leben mitgenommen hat.
In einem Briefe vom 20. Mai 1835, also etwa 4 Monate nach ihrem Tode, schreibt
Vater an seinen Stiefsohn John: "Kein Tag vergeht noch, mein Sohn, an welchem
ich nicht Deiner teuren, selig vollendeten, mir ewig unvergeßlichen Mutter, die
mir 14 Jahre hindurch die köstlichste Herzensfreundin und treueste
Lebensgefährtin war, heiße Tränen der innigsten Liebe nachweine." Ihre
erhaltenen Briefe an den Sohn in der Fremde, John, eine offenbar etwas leicht
angelegte Natur, bezeugen die zärtlichste Mutterliebe und Sorge sowohl um seinen
Seelenzustand als um sein körperliches und äußeres Wohlbefinden, zugleich die
sorgsame Wirtschafterin in Haus und Garten, selbst in Scheune und Stall, auch
die oft glückliche Heilkünstlerin in den Häusern des Dorfes und der Gemeinde,
als welche ich sie auch sonst in den gelegentlichen Erzählungen ihrer Kinder
habe nennen hören. Ihre Briefe zeigen, daß sie, wo es angezeigt war, auch
entschieden zur Annahme eines Arztes riet. Die Gemeinde verehrte sie auch sonst
als Helferin und Trösterin in Not und Leid, die, wie später ihre Tochter, manche
Träne getrocknet hat. Auffallend ist es, daß ihre Kinder sie vorwiegend als eine
zum Schelten und Verweisen geneigte Richterin, weniger als die liebevolle Mutter
in ihrer Erinnerung haben. Bei ihrer zweifellosen Zärtlichkeit läßt es sich wohl
nur aus einer übergroßen Sorge um ihr Seelenheil und einer etwas zur Schwermut
geneigten, vielleicht auch nervös angegriffenen Natur erklären; daß sie Zeiten
wirklichen Trübsinns durchgemacht hat, wissen wir auch sonst. Wunderbar, wie
verklärt ihr Bild in dem Herzen ihrer jüngsten Tochter stand, die gerade 2¼ Jahr
alt war, als sie ihre Mutter verlor. Natürlich beruhte es vorzugsweise auf den
Erzählungen der Geschwister und der näherstehenden Mitglieder der Gemeinde; aber
daß sie Recht hatte, wenn sie immer mit vollster Sicherheit erzählte, sie
erinnere, wie ihre Mutter vom Bett aus ihre Wiege gerührt und wie sie sie in
einem gewissen, genau bezeichneten Kleide auf dem Arm gehabt habe, daran ist bei
dem frühreifen Geistesleben meiner Stine nicht der mindeste Zweifel gestattet.
Ein Bild von der Mutter ist nicht erhalten; ob es je eins gegeben hat, ist mir
zweifelhaft; daß sie eine schöne, stattliche Erscheinung gewesen ist, darin
stimmen alle Berichte und Erinnerungen überein. Wenn Gretchen in ihren
Erinnerungsbildern sich keines Ausdrucks des Schmerzes bei ihrer kleinen,
verwaisten Schwester erinnert, so ist das wohl begreiflich; wie sollte ein
2¼-jähriges Kind sagen können, was es empfinde; aber darum ist es
nichtsdestoweniger gewiß genug, daß die Kleine die Mutterliebe auf das schwerste
entbehrt hat. Noch als Frau in den schweren Stunden ihrer Wochenbette empfand
sie die Sehnsucht nach der nie gekannten mit aller Stärke, und nichts trieb sie
1875 mehr nach Töstrup als der Wunsch, ihrer Tochter zu gewähren, was ihr selbst
versagt gewesen war. So leben geliebte Menschen in den Herzen Willensregungen
und -richtungen ihrer Lieben auf Erden fort.
In
Heide waren meinen Schwiegereltern 2 Kinder geboren, Tante Gretchen und Hans;
Elisabeth, meine ich, ist die erste in Albersdorf geborene. Hans und Elisabeth
sind die beiden, die Ihr nicht kennen gelernt habt; der erste ging schon 1852,
die andere mit ihrem Manne 1854 nach Amerika. Onkel Hans, das einzige der
Paulsen'schen Kinder, das man nicht schön nennen konnte; er hatte in der Tat
einen leisen Anflug mulattischer Gesichtsbildung, war immer nicht bloß ein
äußerst liebevoller und, bei äußerer Keuschheit zärtlicher Bruder, sondern auch
eine durch und durch brave, redliche, wahrhafte Natur, dessen briefliche
Herzensergüsse an seinen Stiefbruder John Smith oft wahrhaft rührend sind zu
lesen. Er sollte und wollte Pastor werden, war sehr fleißig schon bei seinem
Vater und erhielt auch auf der Meldorfer Schule die besten Zeugnisse. Michaelis
1843 bezog er die Universität Kiel. In dem Kolleg des Prof. Mau über den
Römerbrief fiel mir unter den Hörern einer auf durch sein fremdartiges Gesicht
und durch seine gewählte und feine Kleidung. Es fiel mir nicht ein, mich nach
ihm zu erkundigen oder seine Bekanntschaft zu suchen; obwohl er dauernd meine Aufmerksamkeit
fesselte, hatte ich doch keine Ahnung, daß ich noch mal die Hand seiner
geliebten jüngsten Schwester davontragen sollte. Er ging dann bald nach
Königsberg und kam von da als entschiedener Rationalist zurück. Bei seiner
großen Offenheit und Wahrhaftigkeit konnte es nicht fehlen, daß das Verhältnis
zu dem streng gläubigen Vater darunter litt. 1848 trat er sofort mit den übrigen
in das Studentenkorps und wurde bei Bau gefangen. Nach seiner Befreiung verblieb
er im Dienst und wurde Unteroffizier im Reserve-Jägerkorps, als welcher er auch
im Frühling 1849 mit einexerziert hat. Nach dem Kriege, in dem er zuletzt zum
Offizier ernannt war, konnte er sich, 3 Jahre aus dem Studium heraus und mit der
Theologie wohl auch ziemlich zerfallen, nicht mehr zur Wiederaufnahme der
Studien überhaupt entschließen. Er ging mit einem hübschen Vermögen nach Iowa,
verheiratete sich dort mit einer auf der Überfahrt ihm bekannt gewordenen
Probsteierin und wurde Farmer. Damals waren es in Amerika für Bemittelte gute
Zeiten. So bewog er nicht bloß Ahrens und Elisabeth zu dem lange schwer gebüßten
Entschlusse, auch mit ihren Kindern auszuwandern, sondern auch Dr. Müller und
mich, ihm Geld hinüber zu schicken, um es dort zu einem Zinsfuß von 20% nutzbar
zu machen. Ich wagte 500 * Courant[198],
ungefähr mein väterliches Erbteil, daran, meine Mutter auf mein Zureden 2000
*[199].
Einige Jahre ging es gut; wir machten, wenn nicht 20%, doch 10%. Dann kam der
Krieg und mit ihm schwere Zeiten für Hans wie für Ahrens. Das dauerte, wenn ich
recht erinnere, wohl ungefähr ein Jahrzehnt. Bei der Teilung unseres
mütterlichen Erbes 1867 war noch alles unsicher; ich übernahm daher den
amerikanischen Posten mit einigen Abzügen für mich allein. Schon in den ersten
70-er Jahren, meine ich, fing Hans, der auch Ahrens' Schuldenteil als den
seinigen übernahm, wieder an, Zinsen zu einem ermäßigten Fuß, dann auch Abträge
zu zahlen. Eine genaue Berechnung der aufgelaufenen Summe war nicht möglich;
Hans aber machte sie nun nach bester Schätzung und Berechnung mit einer
Uneigennützigkeit, die weit über meine Ansprüche, vielleicht selbst über die
buchstäblich geltend zu machende Berechtigung hinausging und mich mit größter
Achtung vor seiner strengen Rechtlichkeit und Ehrenhaftigkeit erfüllte. Als ich
gegen Ende des ganzen Geschäfts auf Stine's Drängen weitere Sendungen verbat und
mich mit dem Zurückgezahlten für völlig befriedigt erklärte, was ich ja um so
mehr sein konnte, als ich nichts mehr zu erhalten gefürchtet hatte, ward er gar
aufgebracht und erklärte kurz und gut, er wolle von solchem Erlaß nichts mehr
wissen. So hat er denn dies von ihm freilich sittlich zu verantwortende
Geldgeschäft in einer Weise erledigt, welche die höchste Anerkennung verdient.
Er hatte das ganze Paulsen'sche Feingefühl in Geldsachen in hohem Grade. Um so
mehr hätte ich gewünscht, seinen stets festgehaltenen Gedanken der schließlichen
Rückkehr nach Europa verwirklicht zu sehen. Er wartete auf einen günstigen
Verkauf seiner Farm. Seine wankende Gesundheit, - er war in Amerika mehr und
mehr periodischem Trinken verfallen - verschlechterte sich: es kam nicht mehr
dazu. Juni 1890 nahm ihn nach längerer Schwäche der Tod dahin. Das war der erste
von den Paulsen's, sagte damals meine Frau, wer wird der zweite sein? Ich irre
wohl nicht, wenn ich glaube, sie dachte an sich.
Von
Elisabeth kann ich kürzer sein. Sie war die Blonde unter den Dunklen, ein edles,
dem väterlichen ähnliches Gesicht mit etwas hängendem, schmachtendem Blick. Auch
ihre Natur hatte etwas Unbefriedigtes; sie lebte sehr in Idealen und erfuhr dann
viele Täuschungen. Von allen Schwestern war ihr weitaus der schönste und
stattlichste und zugleich der beste, freundlichste Mann beschieden; aber sie
fand sein überaus gleichmäßig gemütliches, etwas zum Phlegma neigendes
Temperament, noch mehr freilich die ihr so ganz ungewohnte Arbeit und Stellung
einer Bauernfrau zu prosaisch, und diese ihre Unbefriedigtheit mit einem
einfachen Lose und schlichtem häuslichen Glück, wie sie es schöner eigentlich
nicht fordern durfte, ist es wohl hauptsächlich gewesen, was den romantischen
Gedanken, in die Ferne zu wandern, zum Entschluß und zur Tat gereift hat. Sie
sowohl wie ihr Mann waren Naturen, für Amerika so ungeeignet wie irgend denkbar.
So haben sie Jahre lang mit Nahrungssorgen zu kämpfen gehabt, und Elisabeth hat
unter dem harten und meist gottentfremdeten Volke von Anfang an bis zu Ende aus
an namenlosem Heimweh gelitten. Erst in den letzten Jahren, nachdem sie mit
Hans' Wittwe nach Iowanischem Gesetz den unbeweglichen Nachlaß des Bruders
geerbt haben, nachdem auch die Kinder eine Lebensstellung und ihr Auskommen
gefunden haben, scheint es, ist das Sehnen der Vereinsamten mehr zur Ruhe
gekommen. Sie haben beide ein unschätzbares Gut: sie sind - er in den
Achtzigern, sie bald siebzig - beide gesund und dürfen einem längeren
Lebensabend mit Ruhe entgegensehen.
Noch
muß ich im Sinne meiner Stine und der anderen Geschwister, die ihren Stiefbruder
so liebhatten, ein Wort von John Smith hinzufügen. Er war - geboren nach einem
Brief von ihm 1816 - eine äußerst gewandte, aber etwas leichtlebige Natur; ich
denke mir immer, der Vater ist ein Ire gewesen. Schon in Albersdorf machte er
Vater und Mutter manche Sorge und Kummer. Dann kam er von Hause in die
Apotheker-Lehre, und die erhaltenen Briefe von Vater und Mutter zeigen, daß es
auch hier an Verdruß und Kummer nicht fehlte. Später wurde er dann selbstständig
und verheiratete sich mit einer Berlinerin, die aber bald, unbeerbt, gestorben
sein muß. Mit seinem Geschäfte, zuerst, wie ich meine, einer Apotheke, dann
einer Fabrik - Hasenhaarschneiderei[200]
hieß es wohl mehr spottweise - wollte es nicht gehen, vielleicht hat auch der
Kompagnon ihn betrogen. ( a) In einem Briefe an Stine, die damals bei Müllers
war, vom 23. August 1848 aus Rostock, spricht er die Hoffnung aus, im Examen -
er hatte 32 Jahre zurückgelegt - No. 1 zu bekommen, "der erste notwendige
Schritt zur Wiedervereinigung mit meiner Mathilde, meiner treu ergebenen
Leidensgefährtin." (Der Brief liegt in unserer Mutter Nürnberger Koffer.) b) In
einem Briefe von "Onkel Schütt", Vaters liebem langjährigen Kollegen, später in
Hemmingstedt, ist von einem Rechtsstreit die Rede, den John wegen Ausschließung
von dem mütterlichen Erbe beabsichtigt haben muß. Schütt stellt ihm vor, daß er
schon einmal nach dem Tode seines Bruders (?) und seines Vaters Vater und Mutter
nach Hamburger Recht beerbt habe und nun nicht zum zweiten Mal Anspruch erheben
könne. Von diesem Bruder habe ich nie sonst gehört, und über den
Streitgegenstand kann man aus dem Briefe keine Vorstellung gewinnen. Wie es sich
erklären läßt, daß er nicht wenigstens mit seinen Stiefgeschwistern gleichen
Anteil gehabt hat, verstehe ich nicht.) Er hatte zum zweiten Mal geheiratet -
1841 war es schon - Mathilde Buring, gleichfalls eine Berlinerin. Nicht lange
danach entschloß er sich, allein nach Amerika zu gehen, wo er als Apotheker eine
Reihe von Jahren in Laguaira sein Auskommen gefunden hat. 1862 kam er nach
Europa zurück und besuchte zunächst alle seine Verwandten, war auch bei uns in
der Brunswik Wochen lang. Seine Frau war aus Berlin gleichfalls gekommen. Hier
erst scheint er den Entschluß gefaßt zu haben, in Europa zu bleiben und das mit
einem Kompagnon betriebene Geschäft von hier aus fortzuführen. Sie richteten
sich in Hamburg neu ein, mieteten eine Wohnung. Am 15. - ich meine, - November
wollte er sein Testament machen, es war der Tag, wo wir ihn auf dem alten
Kirchhofe vor dem Dammtor, Matthaei meine ich, in dem Familienbegräbnis seines
Onkels Waitz zur letzten Ruhe bestatteten. Die erneute Ehe hatte kurz gedauert;
aber er hatte seine Heimat, seine Geschwister wiedergesehen, seine Frau nach
langer Entfremdung wiedergefunden, - ein Wiederschein von Glück und Frieden
hatte sich über sein plötzliches Ende gelagert. -
Und
nun zu meiner Stine!
Aus
der Zeit vor ihrem Erscheinen und auch aus der späteren ist Gretchen so
freundlich gewesen, die angeschlossenen Erinnerungsbilder aufzuzeichnen. Aus den
von John aufbewahrten und in unseren Besitz gelangten Briefen der dreißiger
Jahre setze ich über ihre ersten Erdentage und Jahre Folgendes hinzu, was für
mich vom höchsten Interesse gewesen ist.
Der
26. November 1832 war ein Sommertag. Die Mutter schrieb an ihren Sohn in der
Fremde. Am 1. Dezember konnte sie ihm schon wieder schreiben mit dem Ausdruck
der Dankbarkeit und der Freude über Gottes Durchhilfe und ihr Befinden: "Den
27-sten ½1 Uhr ist die Kleine geboren." Nach Gretchens schon erwähnten
Aufzeichnungen muß es 1½ Uhr nachts gewesen sein. "Donnerstag, den 29.
November", heißt es vorher, - es war der Mutter Geburtstag - "ist die Kleine
getauft und genannt worden Christine Margarethe, die Gevattern: Onkel John,
seine Braut und Tante Stine; Christine ist die Kleine genannt, weil Vaters
Mutter auch so heißt." Nicht viel später kann der nicht genau datierte Brief von
Bruder Hans geschrieben sein: Mutter sei schon wieder den ganzen Tag auf, sei
aber erst einmal in der Kirche und einmal in "unsers geliebten Vaters
Studierstube" gewesen, "und unsere kleine Schwester Christine hat ebenso dunkles
Haar wie du und schickt Dir eine kleine Locke zu Weihnachten, welche mein Brief
Dir überreicht". Sie ist von John aufbewahrt und uns, ich glaube, erst 1862
zurückgegeben; (Ein Irrtum: Schon 1850, den 8. November, ist der soeben erwähnte
Brief von John geschrieben. Der Nürnberger Koffer, ein Geschenk von meiner Reise
1858, ist samt seinem Inhalt so von ihr hinterlassen, wie er noch jetzt ist.)
sie liegt in einem Briefe von John im Nürnberger Koffer.
Am
Weihnachtstage 1832 schreibt Elisabeth: "Unsere kleine Christine hat reine,
blaue Augen." (Vgl. Rückert, dessen Frau ihm auch sagte, sie habe blaue Augen
einst als Kind gehabt.) An demselben Tage "Gredel": "Die kleine Christine wird
unserm guten Vater von allen seinen Kindern am ähnlichsten, und wir freuen uns
schon auf die Zeit, da wir wieder nach Altona reisen werden, und Du sie sorgen
wirst; sie ist ein kleines kräftiges, wohlgebildetes Mädchen!" (Dieser Brief ist
gut und fast völlig richtig geschrieben. Dennoch hat es Vater für nötig
gehalten, unten am Fuß desselben seine Unzufriedenheit damit
auszusprechen.)
Am
18. März 1833 schreibt Gretchen dem lieben Bruder: "Unsere kleine Christine ist
ein niedliches Mädchen, das uns sehr viel Freude macht. Wärest Du hier, Du
würdest sie auch recht oft an Dein Herz drücken." Und dasselbe Gedeihen des
lieben Kindes bezeugt der Auftrag der Mutter an John vom 23. März: "Sage ihr
(Großmutter Hayken) daß die kleine Christine, wenn der liebe Gott sie gesund
erhält, mit 3/4 Jahren gehen wird; sie setzt ihre kleinen Beine so fest an,
welches sie schon immer von Anfang an getan, daß ich sie ungern aus der Hand
gebe. Dabei ist sie kugelrund und ganz lieblich, John, Du würdest sie oft an
Dein Herz gedrückt haben.... Vater freut sich auch recht sehr zu der Kleinen."
Am 26. März kam sie zum ersten Mal in den Garten. Den 11. Dezember 1834 schreibt
Hans: "... Christine ist ein kluges Mädchen. Sie ist am 27. November 2 Jahre
gewesen und kann alles sprechen. Mutter sagt: sie ist die klügste von uns allen
gewesen." Die Mutter beurteilte ihre Kinder richtig: vergl. den von Gretchen
berichteten, so überaus bezeichnenden Zug von ihr.
Am
21. Februar 1837 schloß Vater seine zweite Ehe mit seiner bisherigen Mamsell,
Ida Engeholm aus Preetz, den älteren Kindern, namentlich Gretchen und Hans ein
"unfaßbares" Ereignis, ein schweres Ereignis! Stine war 4¼ Jahre alt; daß sie
dennoch von den Geschwistern, die ihre übervollen Herzen oft genug gegeneinander
ausgeschüttet haben werden, das Wesentliche aufgefangen und verstanden hat, ist
mir nicht zweifelhaft. Ebenso begreiflich ist es auf der andern Seite, daß sie
sich von der neuen Mutter leichter als die andern bis zu einem gewissen Grade
hat gewinnen lassen. Je länger, je mehr stand sie mit ihren Empfindungen auf der
Seite ihrer Geschwister und trug mit großer, kindlicher Treue das Bild ihrer
leiblichen Mutter im Herzen.
Schon
im fünften Lebensjahr konnte sie, wie ich von ihr weiß, lesen und schreiben; zu
diesem Unterricht muß die Stiefmutter eine gewisse Begabung gehabt haben. Sehr
früh nahm sie dann an den Stunden der älteren teil, von denen Gretchen 1837 in
das Haus der Großeltern gekommen war, um einige Sprach- und Musikstunden zu
nehmen. Die übrigen wurden nicht in die Dorfschule geschickt, erhielten auch
keinen Hauslehrer, von dem die Mutter nichts wissen wollte, sondern wurden,
außer in einzelnen Stunden von einem Seminaristen, nur von Vater unterrichtet.
An Regelmäßigkeit des Unterrichts war bei der wenig strengen Hausordnung und bei
den vielen Störungen, die dem Prediger und Seelsorger nicht erspart werden
können, garnicht zu denken; auch nicht an Musik, Zeichnen, Singen, fremde
Sprachen, in denen sonst doch Töchter von Pastoren wenigstens nicht ganz fremd
zu bleiben pflegen. Teils legte wohl Vater auf diesen Schmuck weiblicher Bildung
neben dem einen Hauptgegenstand all seines Lehrens, der Religion, zu wenig Wert,
andrerseits wird die Mutter die Kosten eines Aufenthaltes in einer städtischen
Mädchenschule oder Erziehungsanstalt für viel zu groß angesehen haben. Es kam
hinzu, daß die Seminaristen meist der nötigen Autorität entbehrten, daß Vater
selbst für Geschichte, Geographie, deutsche Literatur und Dichtung wenig
Verständnis und Empfänglichkeit besaß, daß er auch durch seine Heftigkeit und
mangelndes Verständnis der kindlichen Natur und Fassungskraft die Wirkung seiner
Lehrstunden beeinträchtigte, daß er Zeit und Kraft unter den Knaben und Mädchen,
zumal, als Hans Griechisch und Lateinisch lernen sollte, unter Größeren und
Kleineren teilen mußte. Wenn man bedenkt, daß Vater selbst Schulinspektor war,
so begreift man es kaum, daß er sich selbst einen so ungenügenden, gänzlich
zerstückten Unterricht für seine Kinder gestaltet hat. Seine Tochter Stine hatte
nun zum Glück ein seltenes Gedächtnis und eine überaus rasche und glückliche
Auffassung. Dieser hervorragenden Begabung dankt sie, daß sie einmal aus dem
häuslichen Unterricht eine sichere Herrschaft über die deutsche Grammatik und
ein wahrhaft eindringendes Verständnis der evangelisch-lutherischen
Glaubenslehre samt einem sicheren und unerschöpflichen Schatz an Bibelsprüchen
und Gesängen mitgenommen hat und imstande gewesen ist, einen Teil der Lücken
ihrer Schulbildung durch Lesen und im Wege der Unterhaltung und des mündlichen
Verkehrs mehr und mehr auszufüllen. Nach ihrer Konfirmation, Gründonnerstag
1848, kam sie auf ein Jahr nach Meldorf, um hier Sprachen und Musik zu treiben.
Da die Kosten dafür in den 300 M Kostgeld, die ihr Schwager Müller erhielt,
eingeschlossen sein sollten, da die Lehrerin des Französischen eine zimperliche
Dame war, da der Musikunterricht dem Bruder des Schwagers, Advokat Müller, einem
alten Hagestolzen, anvertraut war, so läßt sich denken, was in dem Alter
noch aus Musik- und Sprachunterricht herauskommen konnte. Und doch hatte sie
gerade auch für Musik soviel Sinn und Begabung, Gehör und Stimme! Es ist kein
Zweifel, daß sie später, als sie die Frau eines Gelehrten wurde, als sie in Kiel
hin und wieder auch mit hochgebildeten Frauen zusammenkam, als ihre
heranwachsenden Töchter z.T. recht bedeutende Fertigkeiten im Englischen und
Französischen erwarben, öfter unter dem Gefühl des ihr Abgehenden und einmal
Versäumten gelitten hat. Zwar hat sie versucht, es nachzuholen noch als Frau,
noch zu der Zeit, wo ihre Kinder schon nicht mehr soviel persönliche
Aufmerksamkeit und Dienste bedurften; es konnte aber nicht anders sein: es blieb
Stückwerk. Und dennoch - süßer ist mir keine Musik gewesen, als wenn sie die
beiden Lieder sang und begleitete: "Heil'ge Liebe"[201]
und "Laßt mich gehen"[202].
Es hatte für mich etwas von himmlischem Klang.
Je
weniger die Kinder durch den Schulzwang an das Zimmer gebannt waren, desto
freier konnten sie sich in Garten und Feld, in Wald und Wiese ergehen und
tummeln. Und obwohl sich zwischen der Stiefmutter und den Kindern, namentlich
auch den Mädchen, je mehr sie heranwuchsen und aufblühten, kein gedeihliches
Verhältnis gestalten wollte, obwohl ihnen durch die "Fremde" selbst die
väterliche Liebe abgewendet zu werden drohte, war dennoch ihre Kindheit und
Jugend freudlos mitnichten; dazu waren sie zu gesund und kräftig und bot auch
die freie Natur und das wechselnde Leben des Jahres zu viele köstliche Freuden,
Genüsse und Abwechselungen dar. Dazu kam, daß sie, von den Dorfkindern zu ihrem
Schmerze geflissentlich ferngehalten, in zwei Familien einen reichen Ersatz
fanden. Die eine war die Familie des Kirchspielvogtes Thiessen, wo drei Söhne
und zwei Töchter von passendem Alter waren. Sie bewohnte ein großes, unweit vom
Pfarrhaus gelegenes Haus mit großem, schönen Obstgarten. Der Kirchspielvogt
starb früh; die Mutter, eine einfache Frau, ließ die Kinder völlig gewähren;
mehrere derselben zeichneten sich durch Mutterwitz und Laune aus. Die Familie
zählte, obwohl der Vater kein Studierter war, doch im Dorfe zu den Honoratioren;
die Kinder des Pastors durften nicht bloß hier verkehren, sondern sie waren
gesuchte, geehrte und fast verzogene Gäste; was Keller und Speisekammer, was
namentlich der Garten zu seiner Zeit an Köstlichkeiten lieferte, stand alles zu
ihrer freien Verfügung. Wurde nach Meldorf zu bloßem Besuch oder zu Markte
gefahren, so mußten die Paulsen's mit, soviel der Wagen faßte. Wie wußte meine
Stine die Besuche bei "Großmutter Thiessen" in der Süderstraße zu beschreiben!
Es war eine Lust, es zu hören. Dies schöne Verhältnis dauerte ungestört fort,
und der verschwiegenen Liebe zu mir war von Anfang an Christiane Thiessen die
einzige treue Vertraute. Keine aber auch von allen Geschwistern hat die
Freudenquelle, die ihrer Kindheit in dem Thiessen'schen Hause strömte, mit so
lebhafter und tatbewährter Dankbarkeit Zeit ihres Lebens anerkannt als meine
Frau. (Elisabeth in einem Briefe aus Amerika meint, was sie (die Kinder) in
Albersdorf an Freude genossen, verdankten sie dem Thiessenschen
Haus.)
Das
andere liebe Haus war das Diakonat, das 1837 ein Sohn von dem berühmten Claus
Harms bezog, zu großer Freude des ganzen Pastorates, 1837 als Nachfolger von dem
allerseits schmerzlich vermißten "Onkel Schütt" gewählt. Kinder waren hier
damals noch nicht; aber der Pastor Harms und seine Frau waren beide
außerordentlich kinderlieb. Er, mit Vater in vielen Dingen in bestem
Einvernehmen, bewies den Kindern des Amtsbruders unendlich viel Freundlichkeit,
auch unter anderm dadurch nicht selten, daß er seine Besuche bei Vater in die
Schulzeit legte, um ihnen einen freien Tag zu machen. Seine Liebkosungen wurden
der kleinen Stine, obwohl sie erst 5 Jahre alt war, doch oft zu viel oder wurden
von der früh Feinfühligen als unzart empfunden. Mit innigster, wenngleich
verschwiegener Verehrung und Liebe sah sie dagegen in der Pastorin, geborene
Tiedemann aus Glückstadt, ihr ganzes Ideal der Schönheit, der Herzensgüte und
Liebenswürdigkeit. In ihrem ganzen Leben ist das Gefühl der Dankbarkeit und
kindlichen Verehrung gegen diese früh abgerufene Frau und alles, was irgend mit
ihr zusammenhing, nicht erloschen. Und es ist eigen, daß dies Verhältnis
bewundernder Liebe sich später, als die mutterlosen Töchter der Pastorin Harms
mit der verschwägerten Familie Lucht nach Kiel kamen, zwischen einer derselben
und meiner Frau wiederholt hat.
Gar
schön waren die Zeiten, wo aus dem weiten Verwandtenkreise der Familie Harms
Kinder gleichen Alters zum Besuche kamen.
Dieser
fröhliche und unschuldige Verkehr der Paulsen'schen Kinder mit ihren Vettern und
Cousinen in Altona und Hamburg, mit deren Bekannten und Verwandten, mit dem
Besitzer des Hofes Riese, Dr. Berkhahn und dessen Kindern, mit den Petersen's
aus Nordhastedt, dessen Sohn Adolf - jetzt Urvater einer großen Familie im
fernen Westen - die zweite Hausdame Vaters, Auguste Stockfleth, geheiratet
hatte, mit den lieben Gerlings in Süderrade u.a.m. erfuhr desto mehr allmählig
eine Ausdehnung, als Hans auf die Meldorfer Gelehrtenschule kam, und nun seine
Kommilitonen sich nur gar zu gern in das zwar nicht eben gastliche, aber vier
heranwachsende, blühende, durch Liebreiz und Anmut, die meisten auch durch
Schönheit ausgezeichnete Töchter bergende Pfarrhaus mitbringen ließen. Mit
jugendlicher und ländlicher Unbefangenheit wurden dann in Haus, Feld und Garten
allerlei Spiele, auch lebende Bilder, Rätsel, kleine Lustspiele aufgeführt, in
denen meine Stine durch ein ganz ungewöhnliches Talent der Nachahmung, der
Deklamation und des Vortrags hervorgeragt haben muß. Wie fesselnd wußte sie von
diesen Spielen zu erzählen! Das soll niemand sagen, pflegte sie dann wohl zu
schließen, daß im Albersdorfer Pastorat keine Poesie geherrscht
habe.
1847
wurden erst Elisabeth, dann Gretchen Braut und am 15. (?), bezüglich am 1.
September verheiratet. Johanna kam auf ein Jahr nach Sarau zu Pastor Steffensen
- Sarau, wo sie bei dem Pächter Classen und seinen Töchtern, namentlich der
späteren Pastorin Axt, ein zweites Thiessen'sches Haus fand. Auch dieser Familie
hat meine Stine allezeit ein warmes Dankgefühl im Namen ihrer Schwester bewahrt.
Den Winter 1847/48 fühlte sie sich, da auch Karsten und Hans schon länger das
Vaterhaus verlassen hatten und ohne der Mutter Verdruß zu bereiten, auch nicht
besuchsweise betreten konnten, unendlich vereinsamt. Ostern 1848 kam sie dann ja
auf ein Jahr nach Müllers in Meldorf. Noch heute ist es mir unerklärlich, daß
ich sie von Ende Oktober bis Anfang März, wo ich doch da war, nie zu sehen
Gelegenheit gefunden habe. Freilich war ich damals noch zu sehr mit mir selbst
beschäftigt und lebte zu sehr in meiner Klause und meinem Schwersinn dahin. Wie
ich dann sie zum ersten Male sah und sehr allmählig ihr näher trat, ist oben
erzählt. Jetzt will ich versuchen, ihre äußere Erscheinung und besonders ihr
inneres Wesen zu zeichnen, soweit es in Worten möglich ist und so, wie es mir
lebendig und leuchtend vor der Seele steht.
Stine
war klein -, und Unrecht will ich dem Kanzleirat Wagner nicht geben, der
ausgesprochen haben soll, wenn sie größer wäre, so wäre sie eine vollendete
Schönheit gewesen. Der Eindruck dieser Kleinheit wich aber völlig vor dem ihrer
ganzen Erscheinung. Denn, obwohl auch etwas gedrungen von Wuchs, war sie doch
zugleich von großem Ebenmaß und selbst in der Zeit ihrer ganzen jugendlichen
Blüte und Fülle von den anmutigsten Formen, die zumal in der Bewegung, im Gange,
im Tanze aufs lieblichste hervortraten. Die Rundung und Elastizität ihrer
Glieder, das kompakte Gewebe der Muskeln und Fleischteile, ganz wie bei dem
Vater, hat sie bis an ihr Lebensende behalten; nur ein einziges Mal, in ihrer
langen Krankheit von ihrem Geburtstag 1876 an bis zu ihrer allmählichen Genesung
im Frühjahr 1877, war sie mager geworden, sodaß die Knöchel ihrer Hände
hervorragten, die sonst kaum zu fühlen waren. Das Gesicht zeigt im Ganzen wie in
seinen Teilen die edelsten Linien: das volle Haar, von großer Fülle - als jungem
Mädchen reichten ihr die Zöpfe bis gegen den Saum ihres Kleides - und von dem
angenehmsten Schwarz, in den Schläfen mit einem Stich ins Kastanienbraun, von
seidenartiger Weichheit, die dunklen, glänzenden Augen vom kräftigsten und
wohltuendsten Braun, der liebliche Spiegel ihres liebevollen Inneren, darüber
die scharf und fein gezeichneten schwarzen Brauen, die roten Wangen oft mit
einer Schattierung ins Violette, das auch an den Lippen sichtbar werden konnte,
die mit Stirn und Untergesicht harmonisch in Einklang stehende Nase, das alles
bildete ein Ganzes, das an Schönheit der Formen, wie an Lieblichkeit des
seelischen Ausdrucks nicht leicht überboten werden konnte. Mit Recht sagt man,
ein richtiges, gesundes Kindergesicht zeige noch etwas von der Lieblichkeit und
dem Glanze des Ewigen, aus dem es hervorgegangen: diesen Hauch und Duft der
Unschuld, diesen Abglanz des Göttlichen, wie ihn nur die unberührte Frucht des
Pfirsich versinnbildlicht, - Stine hatte ihn sich zu bewahren gewußt. In
Augenblicken freudiger Bewegung und gehobener Stimmung, verklärt von der inneren
Seligkeit und Wonne, bot dies Antlitz, zumal seitdem es als junge Frau eine
Milderung der Farben und eine leise Ermäßigung der Fülle erfahren hatte, ein
wahrhaft ideales Bild. Ein schöneres und zugleich lieblicheres, von dem inneren
Wesen durchgeistigtes habe ich in meinem Leben nicht gesehen. Die schönen Zöpfe,
um die Stirn geschlungen, wie sie sie hin und wieder noch als Braut trug, hoben
durch eine kleine Erhöhung der ganzen Gestalt den Eindruck ihres Bildes nach
Form und Farbe zu wahrhaft königlicher Wirkung, und ich müßte mich sehr irren,
wenn es nicht gerade diese auch von ihr selbst gemachte Wahrnehmung gewesen sein
sollte, die sie zur Gegnerin dieser Haartracht gemacht hat: sie fürchtete, für
eitel angesehen werden zu können. Das Abbild von 1868 gibt ihr Obergesicht
völlig, ihren Mund mit Umgebung nur mangelhaft wieder. Das schönste und
verklärteste Bild von ihr ist das mit dem bebänderten Haarputz, obwohl der
Ausdruck etwas schwermütig ist - es stammt aus der Zeit von 1860 bis 1861, wo
sie am 22. Mai 1860 Christine geboren, im Sommer das Nervenfieber durchgemacht
und am 19. Juli 1861 Martin unter furchtbaren Kämpfen zur Welt gebracht hatte
und sich recht angegriffen fühlte. Dennoch ist es mir ein wahres
Madonnengesicht, vor dem ich in meinem Schmerze oft mit gefalteten Händen
gestanden habe.
Denn
was der körperlichen Schönheit erst den Zauber verlieh, der über ihrem Wesen
lag, das war ihr geistiges und seelisches Innere, ein Ganzes, das sich aus einer
seltenen Fülle von Gaben zur harmonischen Einheit
zusammenfügte.
Ihr
Temperament müßte man als sanguinisch bezeichnen. Zum Frohsinn und zur Freude
angelegt, wie konnte sie sich entzücken über alles, was der liebe Gott den
Erdenkindern Liebliches hienieden bietet! Vor allen Dingen an der freien Natur,
am Garten, an Wald und Feld, an dem Gesange der Vögel, an dem Duft und der Form
der Blumen, ihrer ganz besonderen Lieblinge, die unter ihren für alles
geschickten und sorgenden Händen ein unvergleichliches Gedeihen zu haben
pflegten. Sie erschienen ihrer kindlichen Einbildungskraft als belebte Wesen,
und namentlich aus dem Kelche der Narzisse, hat sie mir oft erzählt, habe das
Bild ihrer verewigten Mutter ihr zugelächelt.
Von
den Künsten waren es vorzugsweise Musik und Gesang, die ihr Herz erfreuten, und
wenn sie durch Gehör und Stimme völlig imstande war, sich selbst und den Hörer
zu befriedigen nicht bloß, sondern zu erfreuen, so hatte sie ja leider ein
Instrument dazu zu spielen nicht gelernt.
Auch
die Freuden an der Geselligkeit genoß sie so gern, am liebsten mit Verwandten
und näheren Bekannten, für die sie eine ungemein starke und treue Anhänglichkeit
bewies. In solchem vertrauten und lieben Kreise traten alle ihre reichen Gaben
in die lebhafteste Tätigkeit, und ihre seltene Unterhaltungsgabe kam zur
wirksamsten Geltung. Was immer auch im Leben ihr geboten wurde, selbst die
kleinste Freundlichkeit der Menschen oder ihres Gottes, sie hatte für alles die
höchste Empfänglichkeit, die dankbarste Anerkennung, und wenn sie in ihrem
täglichen Manna[203]
den Spruch ihres Todestages, des 21. Februars,:
"Ich
hab' ein töricht Herze,
Geneigt so oft zum Schmerze,
Ich
bin so undankbar.
Ach,
laß mich Dank Dir bringen,
Von
Deiner Güte singen
In
meinem Herzen immerdar!"
mit
einem dicken Strich eingefaßt hat, so ist das ein Beweis nicht gegen, sondern
für ihre kindliche Empfänglichkeit und Dankbarkeit für alle Lebensfreuden, die
irgend an ihrem Wege sich boten. Zugleich ein Beweis, wie strenge sie sich
selbst beurteilte und richtete.
Denn
das ist richtig: so empfänglich sie war für alle Freude, so leicht erregbar
waren auch die zarten Saiten ihrer Seele von jedem Schmerze und besonders von
dem Schmerze über ihre Sünden, für welche von Kindheit an ihr Sinn durch eine
strenge Erziehung geschärft worden war. Daher denn der wohl schon im
mütterlichen Blute liegende Hang zur Schwermut, der neben dem natürlichen
Frohsinn herging, wohl auch länger oder kürzer, aber immer auch wieder bereit
war, hervorzutreten und die sonst hellen Tage zu überschatten. Nur was man
Verstimmung und üble Laune nennt, hat sie nie gekannt; die kleinen
Widerwärtigkeiten des täglichen Lebens hatten keine Macht über sie. Aber
freilich, so gesund sie war, ihre Nerven waren zart: ein Mangel, der mit ihren
Vorzügen und Gaben in tiefem und notwendigem Zusammenhange
stand.
Diese
aber, und zunächst die künstlerischen, waren mit freigiebiger Hand über sie
ausgeschüttet: was eine Tochter, eine Freundin, eine Lebensgefährtin, eine
Mutter den Eltern, der Freundin, dem Manne, den Kindern und Kindeskindern wert,
lieb, tröstend, erquickend, fesselnd, beglückend machen kann, sie hatte es in
wahrhaft seltener Fülle von ihrem himmlischen Vater zum freundlichen Geschenk
erhalten:
Zunächst
erfreute sie sich eines Gedächtnisses, das durch seine Treue wie durch seinen
Umfang oft mein wahres Staunen erregt hat. Der reiche Schatz an Bibelsprüchen
und Gesängen, den sie dem väterlichen Unterricht verdankte, ist ihr Zeit ihres
Lebens unverloren geblieben. Dazu kam aber - und das ist um so wunderbarer, weil
kein Zwang sie dazu getrieben hatte - ein noch größerer Schatz an Gedichten und
Sprüchen unsrer besten Lieder-Dichter und zu diesem wiederum noch eine endlose,
schier unerschöpfliche Zahl von Gelegenheits-Poesien, wie ich sie nennen möchte,
und Haussprüchen, wie man sie bei den mannigfaltigsten Vorkommnissen,
Erfahrungen, Widerwärtigkeiten des täglichen Lebens zu Trost, Lehre, Warnung und
Mahnung brauchen kann. Nicht etwa bloß, wenn durch eigene Schuld oder wenigstens
Sorglosigkeit ein Unfall geschehen war, sondern auch irgendeiner der vielen
Zufälle des gewöhnlichen Lebens sich wiederholte, wenn du dein Messer verloren,
deinen Schirm vergessen, deinen Schlüssel stecken lassen solltest, wenn Besuch
kam, wo wir ausgehen wollten, wenn der Apfelbaum leer war, den wir pflücken
wollten, wenn die Suppe uns brannte, die wir essen wollten, kurzum bei jedem
noch so kleinen und unbedeutenden Vorkommniß wußte sie irgend einen
einschlagenden Spruch oder Vers aus dem Gedächtnis herzusagen und beizubringen,
der irgend für diese Gelegenheit gedichtet zu sein schien. Und wenn ich sie
fragte, wo sie das her hätte, wußte sie es meist selbst nicht zu sagen: es war
ihr sozusagen im Vorbeigehen angeflogen und haften geblieben. Wie oft habe ich
Anlaß gehabt, über diesen unerschöpflichen Vorrat an Haus-Poesie meine
lebhafteste Bewunderung auszusprechen, um so mehr, als die Quellen sich meiner
Kunde, ja auch meiner Vermutung völlig entzogen. Oft genug habe ich nachher
bedauert, daß ich mir nicht eine Sammlung dieser Spruchweisheit angelegt hatte;
jetzt weiß ich auch garnichts mehr davon; denn sie wiederholten sich nicht, es
kamen immer neue, sie hätten eine stattliche und interessante Sammlung
gebildet.
Mit
solchem Gedächtnis stand eine ungemein lebhafte und geschäftige Phantasie im
engsten Zusammenhang. Die Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend, die mancherlei
Vorgänge des Hauses, die bunten Geschichten des Dorfes, die in ihnen handelnden
Personen, alles stand vor ihrem inneren Auge wie ein eben sich vollziehendes und
gegenwärtiges Bild. Aber auch aus der bloßen Vorstellung heraus konnte sie
Bilder der Zukunft, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, gehoffte und
erwartete Ereignisse in Worten vor den Augen der Hörer entrollen, die dem
größten Dichter nicht zur Unehre gereicht hätten. Mir ist namentlich ein Fall in
Erinnerung, wo sie zwei Schwestern unter der Form des Kartenlegens eine grade
spielende, etwas ins Romantische fallende Geschichte mit solcher Lebenswahrheit
und Anschaulichkeit in ihrer Vergangenheit wie in ihrer weiteren Entwicklung
vorführte, daß sie aufs tiefste betroffen ihr Dinge eingestanden und
offenbarten, von denen sie keine Ahnung gehabt hatte und es ihr selbst bei der
wunderbaren Wirkung ihrer Gabe unheimlich wurde. Sie hat seitdem die Übung
dieser unterhaltenden Kunst aufgegeben. Ein zweiter Fall, wo sie bei einem
Besuch in Meldorf ihrer jetzt auch schon verewigten Freundin Dora Hansen mit
einem wunderbaren Phantasiegebilde zu umspinnen wußte, ist mir leider in seinen
Einzelheiten völlig entschwunden; nur soviel weiß ich noch, es war geradezu
zauberhaft. Dazu kam nun die Gabe einer Wohlredenheit, die ich meinerseits auch
aus dem semitischen Blute herleite, das in ihren Adern wirksam war. Sie sprach
nicht nur etwa fließend und ohne jede Schwierigkeit oder Hemmung, sondern sie
fand auch für jeden Gedanken und jede Sache, für alles, was sie sagen und
ausdrücken wollte, mit Leichtigkeit jedesmal den gewünschtesten und den
entsprechendsten Ausdruck. Auch die Sprechweise ihrer ältesten Schwester ist von
nicht germanischer Leichtigkeit, Anmut und Glätte.
Endlich
verfügte sie über ein Darstellungs-Nachahmungs-Talent, sie von allen ihren
Geschwistern allein, John vielleicht ausgenommen, das geradezu einzig war:
Ausdruck, Gang, Behaben, vor allen aber den Ton der Stimme von Personen, die
irgendetwas Besonderes und Auffallendes hatten, ihr Lachen, ihre Bewegungen
konnte sie mit so täuschender Ähnlichkeit zur Darstellung bringen, daß ich, wie
alle anderen, denen sie es überhaupt zu sehen und zu hören gab, aufs äußerste
davon betroffen waren. Nur selten aber und unter besonderen Bedingungen gewann
sie es über sich, etwas davon zum Besten zu geben. Ihr Bruder Hans, der endlich
mit Mühe sie einmal soweit gebracht hatte, Vaters wenig kunstgerechtes Singen am
Altar wiederzugeben, war von dem Talent seiner kleinen Schwester dermaßen
hingerissen und entzückt, daß er in laute Bewunderung ausbrach und nicht umhin
konnte, ihr auch einen klingenden Lohn in die Hand zu
drücken.
Diese
vereinten Gaben hätten sie zur Dichterin machen müssen, wie ihre Schwester
Gretchen es war, wenn sie nicht, - was soll ich sagen? - zu stolz dazu gewesen
wäre. Nur ganz einzelne Male hat sie kleine Gelegenheitsgedichte gemacht, so
eins zu Weihnacht nach Töstrup zur Erklärung der übersendeten Gaben; es
sprudelte von Witz und Laune; als sie es eben fertig und mir vorgelesen hatte,
und ich meinen lebhaftesten Beifall und Entzücken darüber aussprach, vernichtete
sie es, und warum? es könnte jemand verletzen! Diese unschuldigen, harmlosen
Scherze von ihr! Ein kurzes, aber mir unendlich teures Sprüchlein ist übrig, der
Vers, mit dem sie mir (15. April 1853) die oben erwähnte, unvergleichliche
Zwergrose schickte:
Dem
Geliebten fand ich dich,
Er
soll, Rose, dich nun pflegen.
Geh'
ihm liebevoll entgegen,
Daß
ihm ist, als säh' er mich.
Richtige
Urform; und neu noch schöner!
Meinem Liebsten fand ich dich,
Er
wird, Röslein, dich nun pflegen.
Lächle freundlich ihm entgegen,
Daß
ihm sei, als säh' er mich.
Oft
genug aber kamen die erwähnten, von ihr mit soviel Gewissenhaftigkeit, so ohne
alle Eitelkeit und Gefallsucht geübten Gaben zur Anwendung und Geltung; zunächst
in ihrer jungen Mädchen-Zeit bei Aufführung kleiner Lustspiele, z.B. der Rosen
des Herrn von Malesherbes[204],
beim Vortrag einzelner Gedichte und später in der Unterhaltung und Schilderung.
Sehr wohl kann ich mir denken, daß sie auf der Albersdorfer Hausbühne die
reizendste Erscheinung gewesen ist. Über ihre Kunst aber der Deklamation kann
ich aus eigener Erfahrung urteilen. Als ich sie schon länger kannte, es wird
schon 1852 gewesen sein, wurde sie eines Abends ganz unvorbereitet von ihrer
Schwester Gretchen aufgefordert, das Lied von "der Kleinen" vorzutragen, das auf
sie in der Tat wie gemacht war. Man hätte denken können, daß ihr dieser Titel,
den sie unter den Geschwistern wirklich lange geführt hatte, und dieser
Gegenstand vor dem Manne, dem sie damals schon sich zugewandt hatte, nicht grade
der angenehmste sein mochte; aber es übel zu vermerken, dazu dachte sie zu groß;
vielleicht mag sie sich auch damit getröstet haben, was sie einst ihrer
Schwester Gretchen antwortete: Klein, mein Gretchen, aber niedlich. Einerlei,
ohne sich im allergeringsten zu zieren, begann sie alsbald: "Es hat mich oft so
sehr verdrossen, daß man mich nur die Kleine hieß; viel Tränen hab' ich drum
vergossen u.s.w.". Dann kamen die Trostgründe, und das Lied schloß: Denn in dem
kleinen, kleinen Herzen Ist nur für Einen Raum genug![205]
dies alles, auch wieder ohne alle Ziererei oder Übertreibung, falsches Pathos
oder Gestikulation, wurde mit solcher fehllosen Sicherheit des Gedächtnisses,
mit so richtiger und schöner Aussprache, mit solchem Verständnis der Betonung
und Modulation der Stimme vorgetragen, daß ich wahrhaft überrascht und in einem
Erstaunen war. Soviel ich erinnere, brachte ich es dennoch nicht soweit, ihr ein
anerkennendes Wort darüber zu sagen, das sie in so hohem Maße verdient hatte.
Wer ohne alle einschlagende Schulbildung, ohne Vorbilder, allein auf Grund eines
natürlichen Schönheitsgefühls ein dichterisches Erzeugnis so vortragen konnte,
das mochte wohl ein reich begabtes Talent sein. Wenn sie später ihren Kindern
oder ihren Enkeln die Speckter'schen Fabeln, wie sie gewöhnlich statt
Hey'sche[206]
genannt werden, vortrug, habe ich diesem Vortrag nie anders als mit Freude
folgen können.
Daß
solche Talente sie zu einer Meisterin in der Unterhaltung machen mußten, kann
jeder sich selbst sagen. Schon als junges Mädchen in dem Kreise ihrer
Freundinnen war sie die belebende und erfreuende Seele der Gesellschaft. Nicht
anders war es später schon in Meldorf, wenn sie als junge Frau es an
jugendlicher Lieblichkeit allen Frauen und allen jungen Mädchen zuvortat. Als
sie dann mit mir nach Kiel kam, erregte sie geradezu Aufsehen, und Familien, die
mich von meiner Studentenzeit her kannten, konnten bei allem sonstigen
Wohlwollen für den fleißigen Studenten, aber blöden Schäfer, doch garnicht
begreifen, wie ich dazu gelangt war, eine solche Rose zu pflücken. Frau
Conferenzrat Ratjen, die mir sehr wohlgesinnt war, wie auch ihr Mann, der alte
Bibliothekar, obwohl ich ihnen nicht mal einen Besuch gemacht hatte, luden uns
offenbar hauptsächlich ihretwegen nicht bloß einmal zu einer Gesellschaft ein,
sondern Frau Ratjen konnte nicht umhin, meine Frau über das Rätsel meines
Erfolges und meiner Kühnheit auszuforschen. Meine Stine war auch in diesen sonst
ziemlich ausschließlichen Professorenkreisen mit nichten auf den Mund
geschlagen; Witz und Schlagfertigkeit, Anmut und Wohlredenheit machten sie allen
noch so hochgebildeten und selbst gelehrten Damen ebenbürtig, und mehr als einem
Professor hat sie durch die Gaben und die Wirkung ihres Wesens Achtung und
Wohlgefallen abgewonnen. Unvergleichlich gelangen ihr Erzählungen und
Schilderungen des Selbsterlebten. Wie oft hab ich zu ihr gesagt: mein' Mutter,
dies kann sofort gedruckt werden! Wie oft habe ich ernstlich daran gedacht, eine
kleine Sammlung ihrer Erinnerungen schriftlich festzuhalten! Wer denkt dann,
umfangen von dem herrlichen Genuß der Gegenwart, daß das Leben verrinnt, daß der
Augenblick nie wiederkehrt, daß das Morgen so ungewiß ist, daß, wenn einmal der
beredte Mund sich schließt, er auf immer geschlossen ist.
Obwohl
ich lebhaft fühle, daß sie den bei weitem besten Teil ihrer Wirkung verlieren
müssen, wenn sie nicht aus dem beredten Munde mit dramatischer Verkörperung
hervorkommen, will ich doch zur Probe wenigstens den Inhalt einiger dieser
Albersdorfer Dorfgeschichten hier angeben. Eine große Zahl bildeten die, welche
sich um Liebe und Heirat drehten und natürlich in einem Pastorenhause besonders
bekannt werden mußten.
Eine
Wittwe will sich wieder verheiraten. Es geschieht Einsage. "Ach Gott", sagt sie,
"ist Peter So und So dat wull? Ja, den heff ick dat all' verspraken op't
Grafbier[207]."
Das
sogenannte "Freiwarben"[208]
spielte in Dithmarschen seit Alters eine große Rolle. Ein Fall wurde im Pastorat
bekannt, wo die Ehestiftung eine englischlederne Hose eingetragen hatte. Auch
der Einfluß und das Zureden von Vater und Mutter, Verwandten und Freunden, meist
von Vermögensrücksichten bestimmt, wurde vielfach wirksam. Als einmal Vater am
Altar schon die heilige Handlung begonnen hatte und im nächsten Augenblick das
entscheidende Ja gesprochen werden sollte, kommt ein Mädchen aus Arkebeck in die
Kirche gestürzt, atemlos und in voller Erregung und tut Einspruch: sie wisse es
ganz gut, daß sie seine Wahl sei; nur durch Zureden hätte er sich ihr abspenstig
machen lassen. Die Handlung mußte unterbrochen werden, die Sache ward untersucht
und klargestellt; die mutige Braut holte sich ihren Verlobten
heraus.
Geschichtlichen
Wert finde ich in zwei Erlebnissen aus ihrer Kindheit, die sich ihrem Gedächtnis
eingeprägt hatten. Ein kleines Mädchen aus dem Dorfe, das ihr wehe tun will,
rückt ihr vor, daß sie garnicht mal ein eigenes Haus habe; "'t is 'n
Kaspels-Hus"[209].
Einmal hatte Vater mit dem durch seine ungewöhnlichen Körperkräfte bekannten
Klas Andres, der unter der Überschrift "Dres" auch im Quickborn[210]
vorkommt, übrigens einem rohen und gottlosen Menschen, einen Streit im Pastorat
über Ansprüche an die amtliche Tätigkeit des Pastors, die Vater zurückweisen zu
müssen glaubte. Vater ward sehr lebhaft, aber ohne Furcht, wie David neben dem
Goliath war er seiner Tochter vorgekommen. Es kam so weit, daß Vater ihm die Tür
wies. "Fallt mi garni in; 't is 'n Kaspelshus." Das republikanische,
urgermanische Gesamteigentumsbewußtsein hat in Dithmarschen das Gemeinwesen,
"die Freiheit" lange überlebt. In Lensahn, wo die Kirche den Patronen gehörte,
waren auch solche Anschauungen unbekannt.
Ein
bettelndes kleines Mädchen wird ein wenig examiniert und vermahnt. "Wat deit
Dien Vatter denn?" - "Sit inne Stu-uf." "Wat deit Dien Mutter denn?" - "Sit uk
inne Stu-uf." "Worüm geihst Du denn nich to School?" - "Is keen School."
-
Lise
Thiessen und Stine sitzen auf der großen Diele im Thiessen'schen Hause. Da kommt
die Frau Kirchspielvögtin die Diele hergegangen, langsamen, schleppenden
Schrittes, etwas dick und schwerfällig, wie sie war. Stine, die sie offenbar
auffällig langsam findet, fragt: "Du, wo old is Din Mutter eegentlich all?" -
"Söben un dörtig; is se dor nich noch mal krall för?"
Ein
wahres Meisterstück niederdeutscher Volksberedsamkeit, das allen Ansprüchen der
Logik und Rhetorik gerecht wird und in einem höheren Sinne als dem von der
Rednerin zunächst gemeinten die weltenerhaltende Macht des ****[211]
unbewußt aufdeckt, ist die folgende Antwort einer Magd im Nordhastedter Pastorat
an ihre verwarnende Herrin:
"Ach, wat, Mamsell:
Friet is dor wor'n,
un
Friet ward dor,
un
Friet mut dor wor'n,
un
Friet schall dor wor'n."
Ich
wüßte nicht, welcher Philosoph das Thema anders anfassen, auch nicht, wie man
dem bekannten Luther'schen Rate an den Redner besser gerecht werden
wollte.
In
dem heißen Sommer 1868 waren wir in der Schweiz, und ich ließ mich vom Bädeker
bestimmen, statt vom Furka-Gletscher ins Berner Oberland zu gehen, die lange,
anstrengende und keineswegs genugsam lohnende Tour nach Vispach und von dort
nach Zermatt und den Riffel hinauf zu machen. Die Hitze hatte die Gletscher in
eine wahre Auflösung versetzt; die obere Visp war in den schäumenden Wellen voll
von einer sich stoßenden Masse von Eis-Quadern; an dem Ufer selbst konnte man
vor dem Brausen des hochgehenden Stromes sein eigenes Wort nicht hören; weite
Strecken des Tales standen unter Wasser; über die niedrigeren Enden der
gewölbten Brücken brauste die Visp in weißem Schaume dahin. Ortseinwohner rieten
ab: Sie mögen nicht auf den Riffel gehen; die Wasser sind zu groß. Selbst der
Führer ward bedenklich. Aber auf der anderen Seite winkten schon zwei bisherige
Reisegefährten. Ich fragte Mama, ob sie es wagen wollte. Mit dem Ausdruck der
Resignation, aber Angst im Gesicht, antwortete sie: Nur zu. Es ging dann gut.
Wir gelangten auf den Riffel, ich zu Fuß, den Schweif des Pferdes um meine Hand
geschlungen, in einem Zustand der Erhitzung, daß ich eine Lungenentzündung für
unausbleiblich hielt. Das Bett und ein tüchtiger Grog stellte mich in einer
Stunde wieder her. Am andern Morgen bestieg ich auch den Gorner Grat; aber meine
Stine hatte genug. Am andern Tage kamen wir nicht ohne ein unfreiwilliges Fußbad
über den brausenden Strom. Diese Fahrt, erinnere ich, schilderte mal meine Stine
der Familie Lucht mit wahrhaft künstlerischer Vergegenwärtigung; die
Lebhaftigkeit ihrer Empfindung und ihrer Phantasie, der Fluß und die
dichterische Kraft ihrer Beredsamkeit, das schöne und belebte Gesicht, die
ungesucht folgende Gestikulation machten zusammen auf die Zuhörenden einen
solchen Eindruck, daß der alte, wortkarge, träumerische Etatsrat nachher zu
seiner Frau gesagt hat: "Die versteht's!" - Es war eine Lust, ihr
zuzuhören.
Ihre
künstlerische Begabung trat auch in der Fertigkeit des Ausschneidens von
Figuren, menschlichen und tierischen, selbst im Entwerfen von Zeichnungen
hervor. Es muß geradezu als ein Jammer bezeichnet werden, daß sie nicht im
Zeichnen, nicht in Musik und Gesang eine Ausbildung ihrer Talente hat erhalten
sollen.
Mit
der künstlerischen stand ihre intellektuelle Begabung auf gleicher Höhe. Das
Urteil der Mutter über ihre zweijährige Kleine eigne ich mir in ganzem Unfange
an: sie hatte eine ebenso richtige wie gesunde und zugleich auch rasche und
klare Auffassung. Es ist aber hinzuzusetzen: vorwiegend auf dem ganzen Gebiet
des praktischen Lebens; denn sie war auf das Können gerichtet, das Wissen schien
ihr weniger begehrenswert. Ohne jemals eine einigermaßen genügende Anleitung
oder Übung im Kochen und Wirtschaften gehabt zu haben, wurde sie mit den
Aufgaben ihres kleinen Hausstandes von Anfang an spielend fertig. So wie sie
unser Heim vom ersten Tage an bis zum letzten durch Blumen und allerlei
einfachen Schmuck zum behaglichen Aufenthalt zu gestalten wußte, so verstand sie
auch alle so mannigfaltigen kleinen Aufgaben der Hausfrau lächelnd zu lösen;
gastfrei im höchsten Maße und "gerne herbergend"[212],
wurde sie mit allen Schwierigkeiten schon in der ersten Zeit unserer Ehe fertig,
wenn ihre Schwester Gretchen noch sorgte, sie möchte sich zuviel aufgeladen
haben. - Eine kleine Landoldenburgerin, die mal bei uns zu Mittag ißt, meinte,
so schönes Essen hätte sie noch nie geschmeckt. Wie oft haben Wilhelm und die
anderen Verwandten sich's nicht bloß etwa an ihrem Tisch, sondern in ihrem
ganzen Hause schmecken und wohl sein lassen. Alle Fragen des täglichen Lebens,
von denen so oft Stimmung und Wohlbefinden der ganzen Familie abhängt, entschied
sie mit ruhigem Blick und sicherem Urteil. Auch in wichtigeren und
entscheidenden Dingen traf sie meist von Anfang an das Richtige und fand sofort
den beherrschenden Punkt.
Noch
viel höher anzuschlagen aber ist die Gesundheit und Hoheit ihres sittlichen
Urteils, das Ergebnis ihrer tiefen, religiösen Durchbildung und ihrer
empfänglichen und eindringenden Auffassung. Wie fern zunächst lag ihr trotz
alles Angenehmen, was ihr gesagt wurde, und was auch der Spiegel ihr zeigte,
jede Eitelkeit! Wohl wußte sie und liebte es auch, sich ordentlich, sauber,
geschmackvoll zu kleiden; es wurde ihr auch nicht grade schwer gemacht; denn was
stand ihr nicht? Aber gesucht hat sie nie etwas darin und ein Gegenstand der
Sorge ist es ihr nie gewesen; ihr Herz hat nie daran gehangen. Wie gänzlich
unbekannt war ihr die Sucht nach eitler Ehre, nach Rang oder Titel oder irgend
einer Stellung in der Gesellschaft, wie gleichgültig, ob sie Frau Jansen oder
Frau Dr. oder Frau Prof. hieß! Wie richtig war ihre Stellung dem irdischen
Besitz, dem Gelde, dem ungerechten Mammon gegenüber, wie sie ihn gern zu nennen
pflegte. Obwohl sie ja ihrem Manne ein für seine Verhältnisse recht ansehnliches
Vermögen zugebracht hatte, ist ihr doch ihr Leben lang nie das leiseste Wort
entfallen, das auch nur entfernt darauf gedeutet hätte, sie lege irgendeinen
Wert darauf, sie glaube, damit dem Manne irgend etwas besonderes geleistet zu
haben oder sie erwarte, sich dafür irgend etwas zu Gute getan zu sehen. Wohl sah
sie es an als ein freundliches Geschenk ihres Gottes, das sie mit Danksagung
genießen, dessen sie sich im Interesse ihrer Kinder freuen dürfe. Meine
vorsichtige und haushälterische Verwaltung hatte ihre Billigung; Verschwendung
oder Aufwand hätte sie beunruhigt; noch viel ferner war sie vom Geiz, besonders
wenn es galt, Hilfe zu leisten oder Freude zu machen. Sie war richtig die Herrin
des Mammons, nicht sein Sklave! Und weil sie überhaupt die Bedingungen irdischen
Glückes nicht in äußerlichen Gütern und Vorzügen sah, war sie auch frei von
jeglichem Neide und jeglichem Scheelsehen, so volständig frei, so vollständig
geneigt und fähig, sich zu freuen mit den Glücklichen, wie ich nie einen
Menschen getroffen habe. Alles Irdische, alles Nichtige und Eitle, aller Schein
und Flitter war ihr nichts, hoch stand ihr edler Sinn über allem Niedrigen und
Gemeinen.
Rasch
und klar wie ihr Urteil war auch ihr Wille, unbeirrt von Zweifeln und
Schwankungen faßte sie ihre Entscheidungen. Sie wußte alsbald, was sie zu tun
hatte, und fand die Kraft in sich, zu tun, was sie mußte. Zögern und Zaudern,
Bedenken und Besinnen, Umsatteln und Übergehen von einem zum andern,
Stehenbleiben auf halbem Wege, alles derartige war ihr zuwider. Aufschieben,
zumal Unangenehmes, konnte sie nicht. Hatte sie ihren Entschluß gefaßt, so
führte sie ihn aus mit dem Gebet und in dem Vertrauen, Gott möge ihn segnen, -
und dabei war sie getrost und unerschüttert. Wie oft hat sie in ihrem Leben sich
in bittere Notwendigkeiten fügen müssen! Immer tat sie es ohne Murren, ohne
Bitterkeit, ohne Klage, mit einer rührenden und bewunderungswürdigen Ergebung in
ihres himmlischen Vaters heiligen Willen, mit einer Stärke und Festigkeit, ja,
ich darf sagen, mit einem weiblichen Heldenmute, wie er nicht oft gefunden wird.
Damit in engstem Zusammenhang stand die Offenheit und Wahrhaftigkeit, die
Geradheit und Tapferkeit ihres ganzen Wesens, geübt und bewährt unterschiedlos
gegen Arm und Reich, Vornehm und Gering, aber nie verletzend, nie bitter oder
hämisch, nie hochmütig oder tugendstolz, sondern im tiefsten Grunde verbunden
mit der Liebe und Demut. Nur auf das Gute war ihr Wille
gerichtet.
Denn
der letzte Grund und Kern ihres Wesens war die Lauterkeit und Reinheit ihres
schuldlosen Herzens, das, von sittlich und leiblich gesunden Eltern entstammt,
durch Vorbild, Erziehung und Lehre vor dem Bösen behütet, mit seltener, ja
ängstlicher Gewissenhaftigkeit über sich wachte und jede Sünde und Unreinigkeit
von sich auszustoßen stark genug war; immerhin oft unter schweren Seelenkämpfen.
In diesem lauteren Herzen wohnte ein Schatz von Güte und Menschenfreundlichkeit,
der sich nie verleugnete und gegen keinen versagte. Ein Beweis davon und von
ihrem frühen sittlichen Feingefühl ist, daß sie schon als Kind, obwohl eine
große Freundin der gefiederten Sänger, keinen Vogel ohne Mitleidschmerz in der
Gefangenschaft schmachten sehen konnte. Wenn ich bedenke, wie es mir als Knaben
doch auch nie in den Sinn gekommen ist, wie sehr ich die Vögel und andere Tiere,
die ich jeden Frühling und Sommer zu fangen wußte und einsperrte, damit quälte,
daß es meinen Gesellen, soweit ich weiß, nicht anders ging, so kann ich nicht
anders als mit tiefer Beschämung an meine Stine in ihrer Kindheit denken, der es
doch auch niemand anders klargemacht hatte, als ihr liebevolles
Herz.
Wenn
sie so fühlte gegen die Tiere, wie hätte sie nicht Freundlichkeit und Güte üben
sollen gegen die Menschen! Insonderheit gegen alle Mühseligen und Beladenen,
gegen die Armen und Kranken, gegen die Alten und gegen die Kinder. Nie ist ein
Beschwerter und Trauriger von ihr gegangen ohne Zuspruch und Erquickung, nie hat
ein Kind sie verlassen, ohne mit irgendetwas erfreut zu sein. Was mußte sie
vollends, zumal noch mit ihrer unerschöpflichen Phantasie dazu, ihren eigenen
Kindern und Enkeln werden! Wenn Karl als kleiner Junge einmal in die Worte
ausbrach: "Mama, Du bist süß, Du bist süß wie Zucker, morgen wollen wir dich
essen", so sprach er wohl nur den Eindruck aller ihrer Kinder aus. Ja, liebe
Kinder, ihr habt eine unvergleichliche Mutter gehabt!
Aber
lieb und freundlich war sie auch gegen alle anderen Menschen, sie mochten hoch
oder niedrig im Leben stehen, gebildet oder ungebildet sein. Es ist wohl ein
schöner Zug, daß sie des einfältigen und treuen Mädchens, das in den letzten
Jahren vor ihrer Verheiratung in ihrem Vaterhause diente, Dorthe Schüler aus
Meldorf, so sich angenommen hatte, daß diese für ihre "Mamsell" durchs Feuer
gegangen wäre. Eine andere ganz einfache Albersdorferin, Wiebke Wagner, hat sie
bis zuletzt als ihre Freundin behandelt, durch Briefe und kleine Geschenke,
durch gelegentliche Besuche erfreut. Keinen Albersdorfer, mit dem sie je als
Kind gespielt, ist es ihr eingefallen zu verleugnen; nie hat sie sich durch das
einfältige Du, wenn es ihr entgegengebracht wurde, verletzt oder abgestoßen
gefühlt. Und von wem sie gar Freundlichkeiten und Liebe genossen hatte, gegen
den war ihre Dankbarkeit unbegrenzt und unauslöschlich. Dankbarkeit und Demut
schmückten sie in ganz besonderem Maße. Oft genug hat sie noch in ihren letzten
Lebensjahren, wo sie aus langem Trübsinn zur Lebensfreude wieder erwacht war,
ihr Dankgefühl gegen ihren himmlischen Vater ausgesprochen; so Schweres sie auch
erfahren, konnte sie dennoch sagen: Er ist uns ja so gnädig gewesen! Einen
stärkeren Beweis ihres wahrhaft frommen und demutsvollen Kinderherzens kann es
wohl nicht geben.
Ja,
nach dem höchsten Maßstab, dem der heiligen Schrift gemessen, erhält sie auf der
Stufenleiter menschlichen Wertes ungesucht und unbeansprucht einen der
allerersten Plätze. Nun aber bleiben, sagt der Apostel, diese drei: Glaube,
Hoffnung, Liebe[213].
Was Christenglaube sei und wirke, das habe ich in meinem ganzen Leben, weder bei
Geistlichen noch bei Laien, weder bei Männern noch bei Frauen auch nur annähernd
ein so schönes und erbauliches Beispiel gesehn als bei ihr. Felsenfest stand ihr
insonderheit ihres Gottes Wort, das der gläubige Vater seinen Kindern bei der
Konfirmation mit ins Leben hinaus gab: Es sollen wohl Berge weichen und Hügel
hinfallen; aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines
Friedens soll nicht hinfallen[214].
Mit der ganzen Kraft und Treue ihres Wesens hatte sie vor allem den ersten und
obersten Satz des evangelischen Christentums erfaßt und sich zu eigen gemacht:
Aus Gnaden sollst du selig werden[215].
Ihr Heiland und Erlöser war ihr unentbehrlicher, aber auch ihr vollgenügender
Trost und Halt in allen schweren Anfechtungen ihres Lebens. Ja, dieser Glaube
ist es auch in erster Linie gewesen, an dem sie sich auch aus der Nacht des
Trübsinns wieder emporgearbeitet hat. Das war auch ihres verehrten Arztes,
Rüppels, Meinung. So kann man von ihr, wenn von einer sagen: sie hat Glauben
gehalten, im Glauben hat sie den Lauf vollendet, fortan ist ihr beigelegt die
Krone der Gerechtigkeit[216].
Und
die Hoffnung gehörte tief zu ihrer Natur in kleinen, wie in großen Dingen. Von
jedem Menschen, in allen Lebenslagen hoffte sie immer das Beste. Mißtrauen,
Argwohn war ihr fremd. Wie oft hab' ich still für mich in Bezug auf sie und ihr
kindlich vertrauensvolles Herz den wahren Ausspruch des Euripides mir
wiederholt, den unser verehrter Lehrer Nitzsch, eine sehr ähnliche tapfere und
treue Natur wie meine Frau, unter sein Bild gesetzt hat: ***** ***** *******,
***** ****** ***** *** *** ** *********, ****** *****[217].
Gegenüber einem zweifelhaften Ausgange hoffte sie immer die glücklichere
Möglichkeit; sie wußte auch mit gleicher Hoffnung andere zu erfüllen. Dankbar
namentlich hat Frau Pastor Fürsen ihr nachgerühmt, wie sie ihr auf ihrem
Krankenlager Trost und Hoffnung zugesprochen und einzuflößen gewußt habe, sodaß
sie ganz getrost geworden und auch ihrerseits Hoffnung wieder gefaßt habe.
Ähnlich hat sie viele andere aufgerichtet, niemand öfter als ihren
Mann.
"Aber
die Liebe ist die größeste unter ihnen."[218]
Wie hat sie ihre Mitmenschen, ihre Freundinnen und Verwandten, ihre Eltern und
Geschwister, wie hat sie ihren Mann und ihre Kinder, ihre Schwiegersöhne und
Enkel geliebt! Nur ein reines und starkes Herz war solcher Fülle und Kraft der
Liebe fähig, vermochte eine solche Hingabe und Selbstverleugnung zu üben, so zu
vergeben und zu vergessen, zu heilen und zu erheben, zu trösten und zu
erquicken. Alles, was der Apostel als Kennzeichen der Liebe aufzählt, traf bei
ihr zu: Die Liebe ist langmütig und freundlich; die Liebe eifert nicht; die
Liebe treibt nicht Mutwillen (Hoffart!); sie blähet sich nicht; sie stellt sich
nicht ungebärdig, sie sucht nicht das ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie
rechnet das Böse nicht zu; sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut
sich aber der Wahrheit. Sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hoffet alles,
sie duldet alles[219].
Es ist wie von ihr abgeschrieben. Und dennoch war sie nicht etwa eine träge,
phlegmatische, gleichgültige Natur, die alles über sich ergehen ließ aus
Unempfindlichkeit. Im Gegenteil kräftig, feinfühlig, elastisch. Wie viel größer
mußte also bei ihr die Macht der Liebe sein, um solche Wirkungen zu
üben.
Am
Ende meiner Charakteristik fühle ich erst recht, wie gänzlich unzulänglich Worte
und zumal meine Worte sind, um das ganze Wesen Eurer seligen Mutter nach ihrer
leiblichen Erscheinung und ihrer geistigen Begabung zu vergegenwärtigen. Nur
eines kann ich wiederholen: es lag auf ihrer Person, es lag, um einen
Goethischen Ausdruck zu gebrauchen, in ihrer "Gegenwart" ein Zauber, - ich kann
es nicht anders nennen - der sich mit nichts vergleichen läßt, was mir sonst
vorgekommen ist, und der mich gefangen genommen hatte, als ihn nur noch das
körperliche Auge wahrzunehmen Gelegenheit gehabt hatte. Eine wunderbare Kraft
des Erfreuens und der Anmut, der Erheiterung und Erhellung, des Trostes und der
Erquickung strömte von ihr aus. Wo sie erschien, ging mir die Sonne auf; wo sie
ging und stand, sproßten mir Rosen, ihre Nähe beseligte mich, nahm mir alle Last
vom Herzen. Ich kann es immer nur wiederholen: sie hat mir auf Erden ein
unaussprechliches Glück bereitet. Nehmt Ihr die einzelnen Züge zusammen, wie ich
sie nach einander vorzuführen versucht habe, so wird Euch auch die Quelle dieser
Wirkungen nicht entgehen können: irdischer Liebreiz und himmlische Verklärung.
-
Mit
tiefer Beschämung, mit reuevollem und dankbarem Herzen wüßte ich ihr, was sie
mir gewesen ist, nicht besser nachzurufen als mit dem Wort des Herrn: "Wer an
mich glaubt, von des Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen."[220]
-
21.
März 1894
ANMERKUNGEN
[1]
Vgl. Mensing: Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch II, 863 ff unter "Holland"
[2]
Lücke im Manuskript
[3]
Tagelöhnerhaus, steht hier für Verarmung
[4]
Niederdeutsch Dracht: hölzernes Schulterjoch zum Tragen von Eimern
[5]
Diabetes
[6]
Fideikommiß war eine Erbschaftsregelung des älteren deutschen Rechts zur
Erhaltung des adeligen Grundbesitzes, nach der z.B. das Gut in der Hand eines
Familienmitglieds verblieb und nur die Erträge zur freien Verfügung standen
[7]
Altes, auf die einzelne Bauernfamilie bezogenes Ackerflächenmaß um 7,5 ha,
bezeichnete etwa das, was eine Familie als Existenzgrundlage benötigte; später
in ganz Holstein gebräuchliches Wort für Bauernhof bestimmter, aber sehr
unterschiedlicher Größe; der Hufner war demnach Besitzer einer Hufe, also Bauer
[8]
Kruppsche Krankheit (Diphterie)
[9] Als Zeichen so nicht nachweisbar: nach
dem Kontext handelt es sich um Kuranttaler
[10]
Bankrott
[11]
Genosse, Freund
[12]
"Dienen lerne beizeiten das Weib nach ihrer Bestimmung..."; "Hermann und
Dorothea", 7. Gesang, 114-116
[13]
Lücke im Manuskript
[14]
Lübeck hatte zahlreiche Stiftungen mit zugehörigen Ortschaften und Gütern
innerhalb und außerhalb des Stadtgebietes; so gehörte z.B. Heringsdorf zum
Jungfrauenstift St. Johannis (St. Johanniskloster)
[15]
Niederdeutsch Regel (= Riegel): eingefriedeter Melkplatz auf der Weide
[16]
Die maskuline Form von Weihnacht ist bei Mensing: Schleswig-Holsteinisches
Wörterbuch V, 626 nachgewiesen
[17]
Klüterklas: als Ereignis nicht nachweisbar; möglicherweise handelt es sich um so
etwas wie Julklapp
[18]
Miliaria (harmloser fieberhafter Hautausschlag)
[19]
Niederdeutsch Trallen (= Traljen): Gitter
[20]
Cannabich, Johann Günther Friedrich: Lehrbuch der Geographie nach den neuesten
Friedensbestimmungen. Sondershausen 1816 u.ö.
[21]
"Der beste Tabak unter der Sonne" (damals stark verbreitete billige Tabaksorte);
"Petum" ist der aus dem Indianischen stammende, ursprüngliche Ausdruck für Tabak
[22]
Vgl. Mensing: Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch I, 113 f
[23]
Krämer, Kleinhändler
[24]
(= Insasse) Tagelöhner, Landarbeiter
[25]
Ackerknecht
[26]
Vgl. Anm. 51
[27]
Niederdeutsch "Vaagt": Aufseher
[28]
Landpolizist des Gutsherrn
[29]
Kuranttaler
[30]
Fürstliches Privatgut (im Gegensatz zum Lehen)
[31]
Kartenspiel mit dem französischen Blatt ohne die 8, 9 und 10
[32]
Niederdeutsch Keesbieter, Keesknieper: Spottnamen für Holländer
[33]
wodurch täglich die größten Einberufungen (oder) Versammlungen
stattfinden
[34]
Lossius, Kaspar Friedrich (1768-1817): Gumal und Lina, eine Geschichte für
Kinder. Gotha 1795-1800
[35]
Dassel, Christian Konrad Jakob (1768-1845): Merkwürdige Reisen der Gutmannschen
Familie. Hannover 1794-1798
[36]
Campe, Joachim Heinrich (1746-1818): Geschichte der Entdeckung von Amerika.
Hamburg 1780-1781
[37]
Liederbuch für deutsche Studenten. Leipzig, 5. neubearb. Aufl. 1892 (frühere
Auflagen nicht nachweisbar)
[38]
Der preußische Offizier F.v. Schill fiel 1809 in Stralsund, nachdem er
eigenmächtig in der Folge der Kriegserklärung Österreichs an Frankreich und
angesichts der zögernden preußischen Haltung in die Kämpfe gegen Napoleon
eingegriffen hatte; Gegener war der dänische General Johann von Ewald
[39]
Niederdeutsch Arndbeer: Erntefest am letzten Erntetag
[40]
Kohlrausch, Heinrich Friedrich Theodor: Die deutschen Freiheitskriege von 1813,
1814 und 1815. Elberfeld 1824 u.ö.
[41]
Ein Maler Delfi ist nicht nachweisbar: mutmaßlich handelt es sich um den in
Segeberg geborenen Moritz Delfs
[42]
Kuranttaler
[43]
Je mehr sich jemand versagt hat, desto mehr wird er von den Göttern
getragen
[44]
Agesilaos (II.), um 444-um 360 v. Chr., König von Sparta
[45]
Aus: Friedrich Justin Bertuch (1747-1822): Das Lämmchen ("Wiegenliederchen",
1772)
[46]
Niederdeutsch Kreet, Kretel, Kretelie: Zank, Streit; Kunstausdruck deshalb, weil
er wohl auf "Kritik" (vgl. kritteln, bekritteln) zurückzuführen ist
[47]
Vgl. Mensing: Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch I, 919 unter "dunsen"
[48]
Vgl. a.a.O.: I, 98 unter "Akree"
[49]
Vgl. a.a.O.: II, 80 f unter "Fiefsteen"
[50]
Vgl. a.a.O.: II, 809 f unter "Hinkepott"
[51]
Wagrien, die Landschaft im Südosten Holsteins um die Lübecker Bucht, war von
etwa 800 bis 1139 von den wendischen (slawischen) Obotriten besiedelt
[52]
Dünen
[53]
Vgl. z.B. "Der Eislauf", Ode (1764) von Friedrich Gottlieb
Klopstock
[54]
13. Juli
[55]
Niederdeutsch Sünnring: Sonnenuhr einfachster Bauart
[56]
Zungenbändchen (frenulum linguae), das, bei Vögeln gelöst, das Sprechenlernen
fördern sollte
[57]
48 Schilling lübisch entsprachen auch einem Kuranttaler
[58]
Megaron: im altgriechischen Haus der Männersaal
[59]
Niederdeutsch Kenater bezeichnete die Schlafkammer des Dienstmädchens, die
Kemenate, also das Frauenzimmer
[60]
Lukas 16, 19
[61]
Niederdeutsch Kürwagen, Kürwaag: der frühere Staatswagen der Bauern für
besondere Anlässe
[62]
Niederdeutsch Stohlwagen, Stöhlwagen: Korbwagen mit aufgesetzten Stühlen;
Fuhrwerk des Bauern für besondere Anlässe wie der Kürwagen
[63]
Stadttheater, heute Hamburger Staatsoper
[64]
Noch bestehendes Lokal an der Binnenalster
[65]
Calderón de la Barca, Pedro: "Das Leben ein Traum" (1636)
[66]
"Guido und Ginevra oder Die Pest in Florenz" (1838), Oper in 5 Akten von Jacques
Fromental Halévy, Text von Eugène Scribe (Premiere im Hamburger Stadttheater am
16.1.1839)
[67]
Kleines norwegisches Pferd
[68]
Altes Hohl- und Flächenmaß, aufgefaßt als das Stück Land, das mit einer Tonne
Korn besät werden konnte
[69]
Kuranttaler
[70]
Hilfslehrer an Gymnasien
[71]
In dem in einer Abschrift im Schleswiger Landesarchiv liegenden Tagebuch 1839-42
von Jansen heißt dieser Schulfreund Hesse (Blatt 17), so daß dieser Name
angesichts der zeitlichen Nähe als korrekt zu unterstellen ist
[72]
Sonntag vor Ostern
[73]
Aufsicht führende obere Kirchenbehörde
[74]
1831: erste große, über Rußland eingedrungene Epidemie der sog. asiatischen
Cholera in Europa
[75]
denn, nun, jawohl, gewiß
[76]
Werke und Jahre, Seele und Geist
[77]
Kleist, Ewald Christian von: Der Frühling. Idyll in Hexametern (1749)
[78]
Gemeint ist hier der Hexameter
[79]
Chateaubriand, François René de: Itinéraire de Paris à Jérusalem et de Jérusalem
à Paris, en allant par la Grèce, et revenant par l'Égypte, la Barbarie et
l'Espagne (1811)
[80]
Newman-Sherwood, Samuel: Englisches Lesebuch nach dem Natursystem des
Sprachunterrichts, oder leichte Einleitung in die praktische Kenntniß der
englischen Sprache. Lübeck 1832 u.ö.
[81]
Gemeint ist wohl: "fossil" im Sinne von
"versteinert"
[82]
Schlosser, Friedrich Christoph: Geschichte des 18. Jahrhunderts und des 19. bis
zum Sturze des französischen Kaiserreichs. Heidelberg 1836-43
u.ö.
[83]
Reform der gymnasialen Lehrordnung auf Veranlassung Wilhelms II
1890/91
[84]
Hollenberg, Wilhelm Adolf: Hülfsbuch für den evangelischen Religionsunterricht
in Gymnasien. Berlin 1854 u.ö.
[85]
Ritual in studentischen Verbindungen mit dem Lied "Alles schweige! Jeder neige
ernsten Tönen nun sein Ohr!", gesungen bei feierlichen Kommersen, verfaßt nach
älteren Liedern von August Niemann, benannt nach dem Beginn einer der älteren
Strophen ("Landes-Vater! Schutz und Rater")
[86]
29. September
[87]
Ich habe mit Vergnügen gelesen
[88]
Ich habe mehreres mit Vergnügen gelesen
[89]
Du gefällst (im Sinne von: es gefällt mir)
[90]
Ich habe mit Vergnügen gelesen und würde Dir sogar sagen, daß du gefällst, wenn
ich nicht etliche sphalmata sähe, auf deren baldige Beseitigung ich vertraue
[91]
Fehler im Sinne von Schönheitsfehler
[92]
Niederdeutsch Smack: Geschmack
[93]
Mutmaßlich: Observationes ad Taciti Annales criticae. Lübeck 1839-42.
Gymnasial-Programm.
[94]
Jacob, Johann Friedrich: Horaz und seine Freunde. Berlin 1852
[95]
Horaz, Oden, Buch 2, 16: "Otium divos rogat in patenti prensus Aegaeo..." (Ruhe
von den Göttern erfleht, wer in der offenen Ägäis überrascht wird...)
[96]
Horaz, Oden, Buch 2, 3: "Aequam memento rebus in arduis servare mentem..."
(Gelassen gedenke in Lagen voll Härte zu bewahren den Sinn...)
[97]
Aus der Ballade "Bertran de Born" (1829) von Ludwig Uhland
[98]
Glücklich sind die, denen die Beschwerden des Alters erspart bleiben
[99]
Jacob, Johann Friedrich: Lübische Spiele. Hamburg 1844
[100]
Erst später als Gruppe aufgefaßte Reihe oppositioneller,
fortschrittlich-liberaler Schriftsteller (Namen: Gutzkow, Laube, Wienbarg,
Mundt; nahestehend auch Heine, Börne), die eine Plattform in den
linkshegelianischen "Hallischen Jahrbüchern" fanden
[101]
Kotzebue, August von: Die Hussiten vor Naumburg im Jahr 1432 oder Der
triumphierende Viertelsmeister (1803)
[102]
24. Juni
[103]
De coniuratione Catilinae (Die Verschwörung des Catilina)
[104]
Kuranttaler
[105]
Wie das in einer Abschrift im Schleswiger Landesarchiv liegende Tagebuch 1839-42
von Jansen beweist (Blatt 46), handelt es sich hier tatsächlich um Hamfelde
[106]
In Einträgen des in einer Abschrift im Schleswiger Landesarchiv liegenden
Tagebuchs 1839-42 von Jansen heißt es unter dem 7.5.1842: "Schwarz der Himmel,
sturmbewegt die Luft, dunkel die Nacht - schaurig - und in Hamburg vollends, da
wütet entfesselt und ungezähmt von Menschenhand das Feuer mit all seinen
Schrecken. Schon gestern kam die Nachricht her, die unglückselige, doch heute
ist sie immer trauriger und gräßlicher geworden. Kourire über Kourire kamen an
und baten um Hilfe, die Hamburger Posten waren immer überlaufen von Hunderten
von Menschen, eine riesige Bewegung, - die selbst, wie sich erwiesen hat,
unheildrohend auch in Lübeck war, - es haben nämlich 3 Kerle unseren Teerhof
anzünden wollen, sind aber ergriffen - herrschte überall; deshalb wurden auch
die Brandwachen verstärkt und waren selbst des Tages auf ihrem Posten. - Heut
Abend konnte man vom Walle aus nach Hamburg eine weite Strecke am Horizont, hoch
hinauf den Himmel rot sehen, bald aufflammend, bald mehr niedergehend." (Blatt
45); und unter dem 14./15.7.1842 heißt es: "Nachmittags waren wir im Tivoli und
nachdem besahen wir die Brandstelle und die neue Börse. Die Brandstelle hatte
ich mir noch schrecklicher gedacht, obwohl sie einem noch schrecklich genug war
und man das Wüten des schrecklichen Elementes sich deutlich vorstellen konnte;
eine ungeheure Strecke lag in Trümmern, teils gesprengt, teils niedergebrannt.
Die Straßen lagen voll Holz und Stein, auf weiteren Stellen brannte es noch ganz
hell, namentlich der große Kornspeicher, wo das Korn, was noch nicht ganz
verbrannt war, gesichtet wurde. Unter all den Trümmern ragten zwei eingestürzte
Türme hervor als trauriger Beweis, was der Menschen ohnmächtige Kunst sei! - Ein
wenig ist durch diesen Schlag der Mut und die Geldwut der stolzen Hamburger
gebrochen; aber im Allgemeinen ist es schon wieder vergessen, man ging
spazierend mit sonntäglichem Gleichmut unter den Trümmern umher." (Blatt 48)
[107]
Classen, Johannes: Friedrich Jacob, Director des Catharineums in Lübeck in
seinem Leben und Wirken dargestellt. Nebst Mittheilungen aus s. ungedruckten
poetischen u. prosaischen Nachlaß. Jena 1855
[108]
Von der Billigkeit des Urteils
[109]
Feierliche Begleitung eines von der Universität Abgehenden durch die
Kommilitonen
[110]
Landständige Vertretung der adeligen, später auch bürgerlichen
Rittergutsbesitzer
[111]
Der beste Mann ist der, der immer seinen Hoffnungen traute, der schlechte aber
der, der immer an ihnen zweifelt
[112]
Präraffaelitische Malerschule unter Führung von Friedrich Overbeck, die seit
Anfang des 19. Jahrhunderts im verlassenen römischen Kloster San Isidoro wirkte
[113]
Der Zweck heiligt die Mittel
[114]
An verschiedenen deutschen Universitäten durch Stiftungen vermittelte
Nahrungsmittelgaben (unentgeltlich oder zu einem geringen Preis)
[115]
1675 von dem reichen Holländer Samuel Schass der Universität Kiel gestiftetes
Stipendium
[116]
Schilling
[117]
Kuranttaler
[118]
Studentendemonstration 26.11.1844 zur Unterstützung der vier Professoren, die
eine Petition an die in Itzehoe tagende Holsteinische Ständeversammlung
gerichtet hatten mit der Forderung, sich gegen den Antrag des Kopenhagener
Bürgermeisters Tage Algreen-Ussing in der Ständeversammlung von Roskilde
22.10.1844 auf Durchsetzung des dänischen Königsgesetzes auch bei weiblicher
Erbfolge zu verwahren
[119]
Auf breiten Protest deutscherseits stoßende Verlautbarung des dänischen Königs
Christian VIII 8.7.1846, in der (angesichts der Erben-Probleme in der
königlichen Familie) die weibliche Erbfolge für den "dänischen Gesamtstaat"
einschließlich der Herzogtümer proklamiert wurde
[120]
Forchhammer faßte das Wasser als Substrat der griechischen Mythologie auf
[121]
al-Hariri, Abu Muhammad al-Qasim (1054-1122): Maqamat (Stehkonvente); entstanden
etwa 1101-1110
[122]
Während seiner Zeit als Professor an der Dresdener Militärakademie verfaßte er:
Historische Entwickelung der speculativen Philosophie von Kant bis Hegel. Zu
näherer Verständigung des wissenschaftlichen Publicums mit der neuesten Schule
dargestellt. Dresden 1837 u.ö.
[123]
Eine Quellensammlung ist nicht nachweisbar; möglicherweise handelt es sich um:
Erdmann, Johann Eduard: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der
Geschichte der neuern Philosophie. Leipzig 1834-53
[124]
Mit Scherk wurden am 4.6.1852 nach der Restitution der dänischen Herrschaft acht
weitere Professoren der Kieler Universität ihrer Ämter enthoben
[125]
Pelt erhielt schon 3.8.1852 die Patronatspfarre Kemnitz der Greifswalder
Universität
[126]
Napoleons I letzte Herrschaftsperiode nach dem Putsch im März bis 22.6.1815
[127]
Zitat aus Friedrich Schlegel: "Lucinde" (1799), wo es heißt, in der Natur des
Mannes liege "ein gewisser tölpelhafter Enthusiasmus, der gern mit allem Zarten
und Heiligen herausplatzt, nicht selten über seinen eigenen treuherzigen Eifer
hinstürzt und mit einem Wort leicht bis zur Grobheit göttlich ist"
[128]
Erklärung der Frankfurter Nationalversammlung 17.9.1846 gegen die im Offenen
Brief des dänischen Königs ausgebreiteten erbfolgerechtlichen Vorstellungen
[129]
Staats- und Erbrecht des Herzogthums Schleswig. Kritik des Commissionsbedenkens
über die Successionsverhältnisse des Herzogthums Schleswig. Von N. Falck, M.
Tönsen, E. Herrmann, Joh. Christiansen, C.O. Madai, Joh. Gust. Droysen, Georg
Waitz, Joh. Chr. Ravit, L. Stein. Hamburg 1846; eine Schrift gegen das Gutachten
einer vom dänischen König eingesetzten Kommission zur Erbfolgefrage
[130]
Sog. Plöner Bekanntmachung des dänischen Königs 18.9.1846 mit dem Versuch einer
Abschwächung der erbfolgerechtlichen Einlassungen seines Offenen Briefes
[131]
Vgl. Anmerkung 115
[132]
telos: Ziel, Zweck
[133]
eudaimonia: Glückseligkeit
[134]
Erfahrung
[135]
offerre: entgegenbringen, bieten, darstellen, zeigen; die partizipiale Form ist
oblatus
[136]
entflammt von vaterländischer Sorge und Liebe für Deutschland... die freudigsten
Hoffnungen zu schöpfen
[137]
Das Bonmot vom Schweiger in sieben Sprachen stammt von Friedrich August Wolf
oder Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (vgl. Büchmann: Geflügelte Worte)
[138]
Kuranttaler
[139]
Kuranttaler
[140]
Eine Schauspielerin Stuhr ist nicht nachweisbar: mutmaßlich handelt es sich um
die Tochter von Auguste Crelinger, Klara Stich
[141]
"Die Hugenotten", Oper in 5 Akten von Giacomo Meyerbeer, Text von Eugène Scribe
und Emile Deschamps (1836)
[142]
Die halbherzigen Zugeständnisse an die wachsenden konstitutionellen Forderungen,
gipfelnd in dem königlichen Patent vom 3.2.1847, das die Landstände mit sehr
beschränkten Kompetenzen in den Vereinigten Landtag
brachte
[143]
Beginn der revolutionären Ereignisse von 1848 mit Straßenkämpfen in Berlin,
wenige Tage vorher in Wien
[144]
Aufsehenerregender, da erstmals öffentlicher Prozeß März 2.8.-2.12. 1847 gegen
254 Beteiligte der sog. Polnischen Verschwörung 17.-21.2.1846 unter der Führung
von Ludvik Mieroslawski
[145]
Horaz, Oden, Buch 4, 5: "Divis orte bonis, optume Romulae custos gentis..."
(Durch der Götter Gunst kamst du in die Welt, bester du als des Romulusvolks
Hüter...)
[146]
Zeile 5: Licht schenke wieder, gütiger Herrscher, der Heimat!
[147]
Der Frieden von Teschen 13.5.1779 beendete den Bayerischen Erbfolgekrieg
[148]
Bildung einer Provisorischen Regierung in Kiel 24.3.1848; selbständige Tagung
von 70 Abgeordneten der Ständeversammlungen der Herzogtümer 18.3.1848 in
Rendsburg mit Bildung einer Gesandschaft nach Kopenhagen, die dem dänischen
König ihre Forderungen unterbreiten sollte
[149]
Erstes Gefecht gegen die Dänen mit einer Niederlage der Herzogtümer bei Bau
(Bov) 9.4.1848; Zurückschlagung der Dänen 23.4.1848 bei
Schleswig
[150]
Zweiter Spruch des Konfuzius
[151]
Der Kommandeur des Lauenburger Jägerbataillons Sören Johann Diedrich Michelsen
wurde April 1848 in Flensburg verwundet, geriet in dänische Gefangenschaft,
wurde gegen ärztliches Verbot transportiert und starb an seinen Verletzungen
25.4.1848 in Augustenburg
[152]
Das aufsehenerregende Landungsunternehmen des dänischen Kapitänleutnants
Friderich Rudolph Edwin Maria Dirckinck, Freiherr von Holmfeld, 13.-15.4.1848,
dessen Zweck die Verlesung einer Aufforderung des dänischen Königs an die
Fehmarner Bevölkerung war, ihm die Treue zu halten, endete mit der Intervention
des Befehlshabers der Küstenmiliz und der Gefangennahme des dänischen Kapitäns
[153]
Mutmaßlich das in den Wagrisch-Fehmarnschen Blättern Nr. 16 vom 21.4.1848
angezeigte "Lied von Dircking-Holmfeldt", verlegt bei C. Fränckel in
Oldenburg
[154]
Verhandlungen (ein Briefwechsel ist nicht nachweisbar) des preußischen Majors
von Wildenbruch ab 2.4.1848 in Kopenhagen mit dem Ziel, Dänemark von einer
militärischen Intervention in Schleswig-Holstein
abzuhalten
[155]
Niederdeutsch Haafdag, Hofdag: Arbeitstag auf dem Hof
[156]
Am 26.8.1848 auf Druck der europäischen Großmächte unter schwedischer
Vermittlung zustandegekommener Waffenstillstand zwischen Dänemark und Preußen
[157]
Die beiden Vertreter der Rechten in der Nationalversammlung wurden am 18.9.1848
im Verlauf eines Aufstandes in Frankfurt aufgrund der Annahme des Malmöer
Waffenstillstandes durch das Frankfurter Parlament 16.9.1848 ermordet
[158]
Mutmaßlich: "Aufruf an die Wähler Schleswig-Holsteins". In: Wagrisch-Fehmarnsche
Blätter Nr. 40 vom 6.10.1848
[159]
Endgültige Unterwerfung Dithmarschens 1559 durch den dänischen König Friedrich
II und die Herzöge Johann und Adolf
[160]
Staatsangehörigkeit
[161]
1884 verstaatlichte, 1842 von der dänischen Regierung genehmigte, am 18.8.1844
eröffnete Privatbahn mit der Verbindung Altona-Neumünster-Kiel
[162]
Bezeichnet die beginnende Diversifizierung der Gymnasialbildung
(altsprachlicher, naturwissenschaftlicher Zweig)
[163]
Niederdeutsch Penningmeister: in Dithmarschen Steuereinnehmer für die
Landschaftskasse
[164]
Gerichtsschreiber
[165]
Wahrscheinlich abgeleitet von "Partie" im Sinne von Spielpartie
[166]
Kartenspiel zu viert mit dem vollständigen französischen Blatt
[167]
Kündigung des Waffenstillstandes von Malmö 26.2.1849 durch Dänemark ungeachtet
des vehementen Einspruchs der europäischen
Westmächte
[168]
Werg
[169]
Das Manuskript der im Winter 1851 verfertigten Aufzeichnungen über die Schlacht
bei Idstedt 25.7.1850 ist nicht erhalten
[170]
Niederlage gegen die weit überlegenen Dänen bei Fredericia
6.7.1849
[171]
Nach dem Kontext kann eigentlich nur das Tal der Vejle Å gemeint sein
[172]
Nordjütland, ursprüngliches Siedlungsgebiet der
Cimbern
[173]
Zapfenstreich
[174]
Umstrittener, auch diplomatisch und schriftstellerisch tätiger Feldherr,
übernahm am 8.4.1850 den Oberbefehl der schleswig-holsteinischen Armee; stand
verbreitet im Ruf der Unentschlossenheit und einer bloß theoretischen Kompetenz;
wurde allgemein auch des Versagens in der Schlacht von Idstedt am 25.7.1850
bezichtigt
[175]
Am 2.7.1850 unter russischem Druck und britischer Vermittlung geschlossener
Frieden zwischen Preußen und Dänemark
[176]
Vgl. Anm. 169
[177]
Kolloff, Eduard: Paris. Reisehandbuch. Paris 1849
[178]
Pfennige
[179]
Aufweichung des französischen ll durch einen j-ähnlichen Laut
[180]
Kuranttaler
[181]
gewährend
[182]
Gegründet 1745 in Vincennes, 1751 nach Sèvres verlegt, 1760 in Staatshand
übergegangen
[183]
Französisch "savoir-faire"
[184]
Häufung dicht beieinanderliegender Furunkel
[185]
Kuranttaler
[186]
Gerstenkorn (Chalazion)
[187]
Niederdeutsch Holtschool: öffentliche Versammlung, vor allem in Dithmarschen,
zur Unterrichtung über Fragen der Forstnutzung, insbesondere des Schutzes vor
Raub
[188]
Niederdeutsch Vullmacht: in Dithmarschen Landesbevollmächtigter aus dem
Bauernstand für die Landschaftsversammlung, hier also eigentlich die
Vullmachtsche, die Frau des Vollmachts
[189]
Alter französischer Gesellschaftstanz mit Austausch von kleinen Geschenken
[190]
Immermann, Karl Leberecht: Die Ideale. Erstdruck: Deutscher Musenalmanach für
das Jahr 1833. Leipzig 1832
[191]
Vgl. Anm. 187
[192]
Der 6. Sonntag nach Ostern, so genannt nach seinem mit Psalm 27,7 beginnenden
Introitus: "Vernimm, o Herr, mein lautes Rufen, sei mir gnädig und erhöre mich!"
[193]
Rosenart (hundertblättrige Rose)
[194]
Bezogen auf Geistliche: Mittagstisch bei wechselnden mildtätigen Familien der
Gemeinde, also gegen geringes Entgelt zur Verfügung gestelltes Mittagessen
[195]
Friedrich, Prinz von Schleswig-Holstein-Noer, erhielt 1870 vom preußischen König
den Titel des Grafen von Noer
[196]
Das Schicksal bindet die Geschäfte der Sterblichen
[197]
Gründung der Herrnhuter Brüdergemeine (1732): weithin geschätzte Schule für eine
entsprechend fromme Erziehung
[198]
Kuranttaler
[199]
Kuranttaler
[200]
Hasenhaarschneiderei (für die Herstellung von Filzhüten); steht hier für
"kleiner Laden, Klitsche"
[201]
Lied von Otto Schulze (1823-1884)
[202]
Lied von Gustav Knak (1806-1878)
[203]
Z.B.: Tägliches Manna. Worte Gottes mit ihrem Widerhall aus dem Herzen gläubiger
Sänger. Hamburg 1855
[204]
Kotzebue, August von: Die Rosen des Herrn Malesherbes. Verslustspiel (1813)
[205]
Castelli, Ignaz Franz (1781-1862): Trostlied für die Kleinen (1816)
[206]
Hey, Wilhelm: Fünfzig Fabeln für Kinder. In Bildern, gezeichnet von Otto
Speckter. Nebst e. ernsthaften Anhange. Gotha 1833 u.ö. - Noch fünfzig Fabeln.
In Bildern, gezeichnet von Otto Speckter. Nebst e. ernsthaften Anhange. Hamburg
1837 u.ö.
[207]
Niederdeutsch Graffbeer, Gräffbeer: Leichenschmaus
[208]
Vornehmlich dithmarscher Sitte der Brautwerbung, Heiratsvermittlung
[209]
Niederdeutsch Kaspelhus, Karkspeelhus: Kirchspielhaus, Pastorenhaus (in
Dithmarschen Gemeindeeigentum)
[210]
"Drees" aus Groth, Klaus: Quickborn. Volksleben in plattdeutschen Gedichten
dithmarscher Mundart. Hamburg 1853 (Drees ist Groths Freund Andreas Stammer)
[211]
Eros
[212]
Römerbrief 12, 13
[213]
1. Korintherbrief 13, 13
[214]
Jesaja 54, 10
[215]
Epheserbrief 2, 5-8
[216]
2. Timotheusbrief 4, 7-8 *
[217]
Der beste Mann ist der, der seinen Hoffnungen immer getraut hat, Zweifeln gehört
einem schlechten Manne
[218]
1. Korintherbrief 13, 13
[219]
1. Korintherbrief 13, 4-7
[220]
Johannes-Evangelium 7, 38