An meine Kinder.

 

Für euch, geliebte Kinder und Kindeskinder! beginne ich heute am zweiten Tage unseres diesjährigen Sommer-Aufenthalts bei meinem lieben Sohne Karl einiges auch aus meinem Leben aufzuzeichnen, das Ihr, denke ich, später doch nicht ohne Interesse lesen werdet. Der letzte Zweck aber dieser Aufzeichnungen ist, Euch ein Bild Eurer unvergeßlichen und unvergleichlichsten Mutter vorzuführen, so wie es mir in der Seele steht. Zwar tragt Ihr alle, ich weiß es, ein Bild von ihr in dankbarem und verehrendem Herzen; aber Ihr werdet doch in der Zeichnung Eures Vaters, ihres Mannes, noch eins oder das andere Neue, eine oder die andere Ergänzung, Verdeutlichung und Vertiefung finden. Denn nur Mann und Frau, zumal wenn sie wie wir, länger denn ein Menschenalter zusammen gelebt haben, kennen sich gegenseitig ganz.

Ich hätte nun zu dem genannten Zwecke mit der Zeit beginnen können, wo ich sie kennen lernte; das schien mir aber schließlich doch nur etwas Halbes oder Unfertiges geben zu können, und so entschloß ich mich auf die freilich nicht so fern liegende Gefahr hin, in der Arbeit abgerufen zu werden, mit den Erinnerungen zu beginnen, die sich aus meinem Leben mir erhalten haben.

Eine Beichte soll es nicht sein; "Bekenntnisse" will ich nicht machen. Ihr kennt Euren Vater mit seinen Schwächen, Fehlern und Sünden gut genug; Ihr habt schwer genug unter ihnen zu leiden gehabt. Aber Ihr habt ihm dennoch zu seiner unaussprechlichen Freude, zu seinem einzigen Glücke jetzt in seiner Verlassenheit, Eure Liebe bewahrt; er war ja eben doch Euer Vater.

Was ich Euch von mir besonders zeigen möchte, das ist vor allem die Zeit, die Familie, das Haus, in denen ich groß geworden bin und die bestimmenden Einwirkungen für mein ganzes späteres Leben empfangen habe. Manches, das Ihr selbst erlebt und beobachtet habt, wird Euch so erst klar werden; ganz andere Verhältnisse, als worin Ihr aufgewachsen seid, werden Euch entgegen treten; einen kleinen Beitrag zur Sittengeschichte möchte ich liefern; soweit es sich tun läßt, wollte ich Euch wohl die "alte Geschichte" vom Menschen und seiner Schuld, von seiner Unwürdigkeit und Gottes Gnade vorführen. Und sollte es nicht aus meiner Erzählung von selbst hervorgehen, so will ich es lieber hier gleich am Eingange mit Beschämung und Dankbarkeit aussprechen: wahrhaft Schweres habe ich eigentlich nur erfahren durch eigene Schuld. Was Gott mir versagt, was er mir zu tragen auferlegt hat, war nicht von wesentlicher, für die Gestaltung meines Lebens entscheidender Bedeutung. Nur soviel glaube ich sagen zu können: in gesunder und wahrhaft gedeihlicher Familien-Luft bin ich nicht groß geworden. Dagegen hat mir der gnädige Gott so viele unverdiente Gnadengaben zugewendet, daß ich bei einem schuldlosen Leben einer der glücklichsten Menschen auf Erden hätte sein müssen.

Welche Fülle des Glücks hatte Er mir allein in der wahrhaft seltenen Frau beschieden, die Eure Mutter werden sollte! Daß ich ihrer mich nicht wert erwiesen habe, bleibt die schwerste Erinnerung meines Lebens. Unaussprechlich hat sie mich beglückt! -

Doch nun zur Sache.

 

Die "Jansen"

 

Unser Name, der in verschiedensten Formen und Schreibungen vorkommt und mit Johannsen und Jensen offenbar einerlei ist, ist ein niederdeutscher, näher ursprünglich wohl ein friesischer; der ganze Küstenstreif an der Nordsee von der Widau bis nach Dünkerken ist voll von Jansen: in der gewöhnlich französiert geltenden Hauptstadt Belgiens habe ich mindestens 4-5 Seiten des Wohnungsanzeigers mit diesem Namen bedeckt gefunden.

Bekanntlich hat nun im ganzen Mittelalter ein fortwährender Zuzug von Holländern[1] in unser Land, namentlich in den Westen desselben und insonderheit in die Elbmarschen stattgefunden. In dieser geschichtlichen Tatsache findet die Überlieferung, welche sich in unserer Familie erhalten hat, ihre Bestätigung, daß unsere Vorfahren mit zwei anderen weit verzweigten Familien, den Danielsen und den ...[2] aus Holland eingewandert sind. Eine zweite Bestätigung dieser Einwanderung liegt in dem Umstande, daß die Milchwirtschaft, nach ihren Meistern und ersten Lehrern bei uns Holländerei genannt, den Lebensberuf aller Jansen gebildet hat, von denen sich überhaupt Kunde erhalten hat. Mein Urgroßvater, mein Großvater, mein Vater, auch mein älterer Bruder, ein Vaterbruder, unsere Vater-Vettern, alle sind Holländer gewesen, nur einer oder der andere später zu einem verwandten Berufe übergegangen, Bauer oder Gutspächter geworden.

Der erste Jansen, dessen Name und Andenken erhalten ist, Jürgen Otto, "im November" - so lautet seine eigene Angabe - 1712 geboren, war Holländer auf Vielböken, Kirchspiels Fietlübbe in Meklenburg, dann auf Golbek oder vielmehr Goldbek, Kirchspiels Klütz ebenda. Er hatte mit seiner Frau, Catharine Margarete Ovens, geboren 12. Februar 1716, neun Kinder, 7 Söhne und 2 Töchter. Der fünfte seiner Söhne, Daniel, scheint früh nach Holstein gekommen zu sein, wie eine leise Einwanderung von Landleuten aus Meklenburg nach Lauenburg und Schleswig-Holstein, selbst Jütland und den dänischen Inseln vielfach auftaucht und noch heutzutage nicht ganz aufgehört hat. Er freite die Tochter des Organisten Wedderkop zu Gnissau und der Anna Elisabeth Rüder, Maria Dorothea Wedderkop, die erste Persönlichkeit aus der Familie Jansen, von der ich eigene Erinnerungen aus der Kindheit habe.

Auch diesem Daniel Jansen wurden 9 Kinder geboren; und zwar das älteste auf Mönchneversdorf, die beiden folgenden auf Kuhhof, das vierte, mein Vater, in dem Dorfe Damlos bei Oldenburg, in der "Kathe"[3], das fünfte auf Rethwisch, Kirchspiels Hansühn, die beiden folgenden zu Neudorf, die beiden letzten zu Goddersdorf, ein Beleg für die Unsicherheit einer immer nur einjährigen Meierei-Pachtung. Auch ihm wie seinem Vater starben mehrere in den ersten Lebensjahren, während alle übrigen, groß gewordenen ein hohes Alter, von 73 bis zu 84 Jahren erreichten. Er selbst starb schon in seinem 47. Lebensjahre. Seine Wittwe setzte mit ihrem ältesten überlebenden Sohn, Daniel Wilhelm, der noch nicht lange konfirmiert, aber von Kind an zu harter Arbeit gewöhnt war, das Geschäft fort, die Holländerei des Landesoldenburger Gutes Goddersdorf; wie lange, weiß ich nicht.

Im Jahre 1805 übernahm mein Vater eine selbstständige Pachtung auf dem großen, dem Fritz Schwerdtfeger gehörigen Gute Seegalendorf, gleichfalls in Landoldenburg, und der jüngere Sohn, Karl, scheint in meines Vaters Stelle bei seiner Mutter getreten zu sein, da der auf meinen Vater unmittelbar folgende Matthias in die Kaufmannslehre gegangen sein wird.

In meiner frühen Kindheit, gegen 1830 oder um 1830, lebte meine Großmutter schon bei ihrer jüngsten Tochter, Sophie Elisabeth, verheiratete Winkelmann, der damals Inspektor oder vielmehr Verwalter - Inspektor war derzeit nur erst in Meklenburg der gebräuchliche Titel -  des Gutes Kuhhof war und, wenn ich mich recht erinnere, in dem von einem "Haus"-Graben umgebenen Herrenhause oder schlechtweg sog. "Hause", d.h. Burg, wohnte. Später und bis zu ihrem Tode lebte sie bei ihrer ältesten Tochter, Lucie, verheirateten Heise, der Frau des Holländers auf demselben Kuhhof. Hier fanden wir sie, als wir 1838 wie gewöhnlich zu dem in der ganzen Gegend berühmten Markte zu Oldenburg kamen, kurz vorher entschlafen, im zweiten Monat ihres 87. Lebensjahres. Eine harte Frau war sie: einer Freundlichkeit oder gar Liebkosung gegen ihre Enkel weiß ich mich nicht zu entsinnen. Dagegen quälte sie mich, wie mir namentlich von einem Besuche auf Kuhhof bei Onkel Winkelmann in lebhafter Erinnerung ist, mit scharfem Kämmen, was wohl nötig gewesen sein wird, dermaßen, daß ich außer mich geriet und drohte, sie totstechen zu wollen. In ähnlichem Sinn und Geiste wird sie und ihr Mann auch die Kinder erzogen haben; das war einmal so die Sitte und Art der Zeit: Liebeskundgebungen wurden als Verzärtelungen angesehen und geflissentlich gemieden. Daß er auch am Tage seiner Konfirmation seine Tracht[4] Milch zu Hause tragen mußte, habe ich meinen Vater selbst seinem ältesten Sohn Wilhelm an dessen Konfirmationstage vorhalten hören, der durch diese Alltagsarbeit nicht gestört wurde.

Dunkler als meine Großmutter väterlicher Seits taucht in meiner Erinnerung "Johann-Ohm" auf (gesprochen als ein Wort). Er muß von meines Urgroßvaters Söhnen der jüngste gewesen sein, der in dem von Jürgen Otto herrührenden Namenbaum als Johann Konrad, geboren 1755, aufgezeichnet steht. Er war wohl, soweit ich zu sehen vermochte, unverheiratet und jedenfalls, was meine Mutter treffend einen "Schüchterling" zu nennen pflegte. Denn er lebte, wie ich annehme, ohne eigenen Herd längere oder kürzere Zeit bei den Verwandten, auch, obwohl nicht eben oft oder lange, bei meinem Vater, seinem ältesten Neffen. Ich erinnere ihn als einen schweigsamen und schon alten Mann. Später, als er im Wasser den Tod gesucht und gefunden hatte, erfuhr ich, daß ein unheilbares und schmerzhaftes (Krebs) Leiden an der Lippe ihn dazu getrieben habe.

Sehr klar und lebhaft vor der Seele stehen mir die sämtlichen am Leben gebliebenen Geschwister meines Vaters, 2 Brüder und 3 Schwestern. Am wenigsten der älteste,

 

Kai Matthias

 

Er hatte sich gegen die Überlieferung der Familie entschlossen, Kaufmann zu werden und war so nach Altona gekommen, wo er eine noch in ihren späteren Jahren schöne und kräftige, kluge und starkwillige Frau aus niederem Stande heiratete. Die Ehe scheint bald unglücklich geworden zu sein. Der Mann ergab sich dem Trunke, das kaufmännische Geschäft ging zurück und schließlich ganz ein. Mann und Frau trennten sich, die Mutter mit den Kindern, welche bei ihr blieben, geriet in die äußerste Not und Armut. Nur die Unterstützungen an Geld und Lebensmitteln, welche mein Vater als Haupt der Familie teils selbst hergab, zum kleineren Teil von den übrigen Geschwistern erwirkte, hielten sie über Wasser. Die Kinder, 3 Söhne, Eduard, Adolf, Hermann und 1 Tochter, Sophie, alles kluge, anstellige und gesunde Menschen, wuchsen heran und wußten, durch die Not geweckt und angespornt, sehr früh einen Teil ihres Unterhaltes selbst zu verdienen und bald völlig auf eigenen Füßen zu stehen. Der älteste ward Makler und brachte es zu gutem Ansehen und bequemen Verhältnissen; er lebt in hohem Alter noch. Der zweite ward Uhrmacher, machte weite Reisen zu seiner Ausbildung und gründete dann ein Uhren- und Chronometer-Geschäft in seiner Vaterstadt. Bald aber zeigten sich bei ihm die unverkennbaren Spuren der Zuckerharnruhr[5]; er rüstete sich schon zu einem längeren Aufenthalt bei meinen Eltern, wo er von der schönen Landluft nach Art der Schwindsüchtigen sichere Genesung hoffte: da starb er.

Der dritte Sohn war von allen der liebenswürdigste. Schon als Knabe kam er in das große Damer'sche Geschäft, zunächst nur um die Dienste eines Laufburschen zu tun. Seine Zuverlässigkeit und Anstelligkeit aber wandten ihm bald in steigendem Maaße das Vertrauen seiner Herren zu: er kam aufs Kontor, und es dauerte nicht lange, so verdiente er schon ein stattliches Jahres-Einkommen, sodaß er mit dem älteren Bruder zusammen nicht bloß Mutter und Schwester ernähren, sondern auch selbst eine Familie gründen konnte. Aus einem Commis wurde er dann Teilnehmer des großen Geschäfts, bis er zu bedeutendem Vermögen gelangt ein eigenes begründete, das ihn dann vollends zum reichen Mann gemacht hat. Er steht jetzt in der Mitte der 70-ger Jahre und lebt in behaglicher Muße in St. Georg. Seine Frau, eine geborene Geerdts, lebt auch, seine Töchter sind verheiratet, die Söhne längst selbstständig; der Zusammenhalt mit den Verwandten, der eine Zeit lang trotz der Entfernung und einer etwas leichten Lebensauffassung recht enge war, hat sich wohl auch infolge des zuströmenden Geldes ziemlich gelockert und gelöst. Mutter und Tochter, beide sehr jener Lebensrichtung zugetan, sind längst verstorben.

Der andere jüngere Bruder meines Vaters

 

Wulf Karl

 

wurde auch Holländer. Während aber die meisten seiner Berufsgenossen nur mit Mühe aus den schlecht gefütterten Kühen die Jahrespacht zu erzielen imstande waren, wußte er auf dem Gute Sebent bei Oldenburg, einem der mehreren sog. älteren gottorpischen Fideikommißgüter[6], gute Geschäfte zu machen und ein kleines Vermögen zu erwerben, das ihn in den Stand setzte, in dem lübschen Dorfe Klein-Parin eine schöne Hufe[7] zu erwerben. Hier habe ich später als Schüler des Lübecker Catharineums ihn oft besucht und die ganze Familie, Frau und Kinder, 3 Töchter und 1 Sohn, näher kennen gelernt. Onkel Karl hatte ganz die harte und strenge Lebensführung der Zeit und der Jansen. Arbeit, harte Arbeit vom Morgen bis in den Abend, Sparsamkeit und selbst Entbehrung, wenig Worte, kurzes und kräftiges Gebieten, das jede Widerrede abschnitt, starke Anforderung an sich und an andere, das waren die hervortretendsten Züge dieses Hauses. Die Frau, eine geborene Lafrenz, verständig und von kräftigem Willen, teilte seine Auffassung und lebte mit ihm in herzlichem Einverständnis, das sie trotz einer gewissen Herrschaft über den Mann doch auch durch rechtzeitige und vernünftige Anbequemung aufrecht zu erhalten wußte. Sonntags, wo ich sie nur besuchte, gab es jedesmal Fleischsuppe; um heiß Wasser oder Arbeit oder Schüsseln zu sparen, wurde das Fleisch von denselben irdenen Tellern gegessen, aus denen man die Suppe genommen hatte. Als ich einst einen Mitschüler Ibbeken aus dem benachbarten Rensefeld zu Gefallen gewagt hatte, schon Sonnabends zu kommen und auf ein Nachtquartier Anspruch zu erheben, wurde ich zwar nicht unfreundlich empfangen, jedoch beim Weggehen bedeutet, mal wieder zu kommen auf einem Sonntag.

Bei dieser allein auf den Erwerb des täglichen Brotes gerichteten Lebensführung war Onkel Karl durchaus doch nicht ohne alle höheren Interessen. Er besaß einen kleinen Bücherschatz und hatte sich mit einem guten Gedächtnis und klarem Urteil aus dem dicht auf Löschpapier gedruckten Brockhaus eine solche Menge von Kenntnissen angeeignet, daß ich z.B. in der Geschichte gegen ihn durchaus den Kürzeren zog, was doch umso mehr bedeuten wollte, als er nur die Feierabende und die Sonntage zu solcher Beschäftigung hergab.

Von zwei besonders schweren Schlägen ward die Familie heimgesucht. In dem Teiche auf der Hofstelle, der zum Tränken des Viehes zu dienen pflegt, ertrank vor den Augen des Wohnhauses der erst in Parin geborene jüngste Knabe, 2-3 Jahre alt. Der andere Sohn,

Heinrich, ein gesunder, etwas beschränkter, stiller Mensch, der nach seiner Confirmation gleich einem Knechte bei seinem Vater arbeitete, verfiel in Schwermut und schoß sich, etwa Mitte der zwanziger Jahre, eine Kugel durch den Kopf.

Die älteste Tochter, Karoline, ein grundgutes Mädchen, von großer Anhänglichkeit an ihre Verwandten - war von sehr schwachem Verstande und erschien dadurch auch noch in reiferen Jahren zuweilen etwas wunderlich und kinderhaft.

Die jüngste, Helene, der Mutter Ebenbild, holte sich der jüngste Sohn der noch wieder zu erwähnenden Familie Höper-Sütel zu einer reich gesegneten Ehe. Die zweitjüngste, Charlotte, wurde dann mit einem Nachbar, Köne, gleichfalls sehr glücklich verheiratet. Sie verloren an der Halsbräune[8] in wenig Tagen, zwei hoffnungsvolle Kinder; ein Schlag, den die Mutter lange garnicht verwinden konnte. Die Söhne und Töchter der Helene und des August Höper sind längst alle selbstständig und verheiratet und wohnen in Land Oldenburg oder auf Fehmarn um die noch rüstigen Eltern herum; - ein schönes Beispiel gesunder Familien-Verhältnisse und reiner Sitte.

Eine merkwürdige, aber unter Kindern gleicher Eltern keineswegs seltene Verschiedenheit des Wesens stellten die drei Schwestern meines Vaters dar, Lucie, Magdalene und Sophie. Die beiden jüngsten, beide blond und fast rötlich, aber mit braunen Augen, beide von mittlerem und kräftigem Wuchse, überhaupt einander in Schnitt und Form des Gesichtes sehr ähnlich, waren von Natur und Gemüt ganz verschieden, fast Gegensätze: Tante Lene hart und eigenwillig, Tante Sophie weich und nachgiebig, von großer Herzensgüte und Mildigkeit, in ihren älteren Jahren bei dem geringsten freudigen oder traurigen Anlaß bis zur Träne gerührt. Tante Lucie, größer und stärker, mit braunen Augen und dunklem Haar verband mit einer glücklichen Gabe, die Dinge des alltäglichen Lebens verständig zu beurteilen und ausgleichend zu gestalten, ein schönes Maß von Herzensgüte und Hilfbereitschaft gegen Bekannte und Freunde.

Obwohl weder von Gestalt noch Gesicht schön - sie hatten alle die fahle Farbe und die des Ebenmaßes entbehrende Gestalt der Jansen - obwohl auch nicht vermögend oder nur im Besitze einer guten Mitgift, waren sie doch alle in den gegebenen Jahren verheiratet und hatten gute und tüchtige Männer, die jüngste Sophie selbst über ihrem Stande, gefunden.

Lucie hatte einen Heise, Glied einer sehr verbreiteten Holländer- und Pächterfamilie zum Mann und hat, soweit ich weiß, nur auf Kuhhof gewohnt: Onkel Heise war zwar nur von kleinem oder mittlerem Wuchse, aber kräftig und untersetzt und von feinem, fast edlem Gesichtsausdruck, freundlichen und maßvollen Wesens, etwas bequem und zu körperlicher Arbeit, wie sie andere seiner Standesgenossen taten, wenig geneigt. Die Besorgung der kleinen Meierei von Kuhhof überließ er ganz seinem unverheirateten, bei ihm lebenden Bruder. Er selbst betrieb nur den kleinen Handel mit Fellen und Sämereien und wenigen anderen landwirtschaftlichen Bedürfnissen, zu welchem ihm die unmittelbare Nähe der Stadt Oldenburg die Gelegenheit bot. So oft wir ihn besuchten, und es geschah häufig, erinnere ich ihn nicht anders als in der Stube auf seinem aussichtgewährenden Platze in der Fensterecke gesehen zu haben, in würdiger Behaglichkeit seine Meerschaumpfeife haltend und schmauchend. Abends ging er ständig in eine kleine Gesellschaft guter Freunde, Oldenburger Bürger, die sich beim Gastwirt Engel zu Spiel oder Unterhaltung sammelte.

Sie hatten 5 Kinder, 4 recht stattliche Söhne und eine durch Schönheit und Liebenswürdigkeit in der ganzen Stadt wohlbekannte Tochter Marie. Diese hatten sie den großen Schmerz im blühendsten und hoffnungreichsten Lebensalter an einer hitzigen Krankheit plötzlich zu verlieren. Die Teilnahme der Bekannten und Verwandten wie Fernerstehenden war ungewöhnlich groß, und die liebenswürdigen Eigenschaften des so früh dahin gerafften jungen Mädchens fanden nach ihrem Tode nur um so beredtere Anerkennung. Die Söhne wuchsen gedeihlich heran. Sie waren der Gegenstand großer Freude und eines mit seltener Offenherzigkeit bekannten Stolzes bei den Eltern, die selten einen Bekannten oder Unbekannten ohne eine Lobrede ihrer Kinder entließen. Alle vier, August, Johannes, Adolf, Ferdinand wurden Landleute, kamen auf adligen Höfen als Kostgänger, Schreiber oder Verwalter sehr günstig an und erwarben und bewahrten auch sämtlich die Zufriedenheit und das Vertrauen ihrer meist adligen Herren und Herrinnen. Der gescheuteste und auch liebenswürdigste, durch männliche Haltung und Erscheinung, durch offenes und biederes Wesen für sich einnehmende war der älteste, August. Nachdem er lange als Verwalter, zuletzt beim Grafen Brockdorff-Kletkamp gedient hatte, verheiratete er sich mit der bildschönen Tochter des dortigen Försters Nissen, von der einige wissen wollten, es fließe gräfliches Blut in ihren Adern. Sie pachteten einen Hof in Jütland, unweit Veile, und bewirtschafteten ihn einige Jahre mit wenig erfreulichem Erfolge. Bald nach der Geburt des zweiten Kindes, wenn ich nicht irre, starb der Mann im kräftigsten Lebensalter.

Der zweite Sohn, Johannes, gewann als Verwalter auf Schönweide die Gunst der Herrschaft, des Herren und der Frau von Hollen, in so hohem Maße, daß sie ihm die erste freiwerdende Pachtung auf einem ihrer Güter, Görz in Land Oldenburg, zu unerhört günstigen Bedingungen, für die Hälfte etwa des gewöhnlichen Pachtpreises zuwandten. Auch er heiratete ein junges Mädchen von großer Schönheit und, wie man glaubte,  auch Vermögen, Hermine Kemper, deren Mutter, geborene Lassen von Siggen und Süssau, der angesehenen und durch hübsche Töchter und Söhne weit bekannten Familie der Meier, Lenz und Winkelmann angehörte. Kemper war ein eingewanderter Untertan des Königs Jerome von Westphalen, ein wenigstens in seinen höheren Lebensjahren völlig verschrobener Mann, der seine wohl etwas beschränkte Frau entsetzlich gequält haben soll. Als die Frau von Hollen ihren Verwalter entließ, schenkte sie ihm eine feuerfeste Geldlade: da sollte er jedes Jahr 5000 *[9] hineinlegen.

Soviel hat sie wohl kaum je umschlossen. Es dauerte nur wenige Jahre, da hieß es, was aber kein Mensch glauben wollte, Heise von Görz stände vor dem Bankbruch[10]. Nicht lange, so wurde der nur durch eine unglaubliche Gleichgültigkeit und Beschränktheit in Schulden gestürzte Pächter, der sich in fremdem Dienste so ausgezeichnet bewährt zu haben schien, unter Vormundschaft gestellt, sein Gut von zwei ihm verwandten klugen und erfahrenen Landleuten, dem Gutsbesitzer Lassen von Siggen und dem Doppelhufner Heinrich Wiese aus Sütel verwaltet, und in wenig Jahren hatten die beiden die aufgelaufenen rund 70.000 M Schulden wieder getilgt. "Ja, das habe ich ja immer gesagt", meinte Johannes Heise, "es mußte da wohl wieder heraus, ich hatte es ja da hinein gesteckt." Er bekam aber begreiflich die Pachtung nicht wieder, übernahm eine Kalkbrennerei bei Lübeck, was auch nicht gehen wollte, verlor seine Frau und geriet mit den Kindern in sehr bedrängte Umstände. Er fand dann in einem Wirtshause Verwendung zur Unterhaltung der Gäste mit Billard und Kartenspiel, wozu er sich nach seiner unglaublich bequemen und phlegmatischen Natur wohl eignete. Ob und wie er jetzt noch lebt, weiß ich nicht.

Der dritte Sohn, Adolf, war der schmuckste von allen, auch der im Haushalt und Erwerben glücklichste. Mehrere Jahre hatte er den kleinen Hof Luisenberg bei Eckernförde, dann ein Wirtshaus bei Bordesholm. Hier ist er auch schon früh gestorben. Nur einmal habe ich ihn nach der Zeit unserer Knabenjahre wiedergesehen.

Der vierte und jüngste der Brüder, Ferdinand, war mein Altersgenosse und daher von allen Brüdern auch mein besonderer Maat[11], ein großer und stattlicher, gleichfalls überall wohlgelittener Mensch. Ihm ist die Soldatenzeit zum Verderben geworden. Von der Mutter in zärtlicher Fürsorge etwas zu reichlich mit Geld versehen, geriet er in eine von manchen aus begreiflichen Gründen sehr gesuchte Freundschaft mit Feldwebel und Unteroffizieren, die seine Taler in Bier umzusetzen halfen, und nach beendetem Kriege ging er aus dem aufgelösten schleswig-holsteinischen Heere - nicht der einzige - als Trinker hervor. Verheiratet mit einer Tochter des wohlhabenden Besitzers von Kasmark, Behrens, pachteten sie erst den kleinen Hof Riis bei Apenrade, vertauschten ihn mit einer Ziegelei am Flensburger Fiord, kamen immer weiter zurück und haben seit längerer Zeit nur noch eine Krugwirtschaft. Ich habe ihn seit der Kriegszeit nicht wiedergesehen, nur hin und wieder wenig erfreuliches von ihm gehört. Es scheint fast, als wenn das allzu reichlich und allzu früh gespendete Lob der Eltern keine ausschließlich fördernde Wirkung auf die Söhne gehabt hat. Jedenfalls bildet die harte Arbeitsamkeit und Einschränkung des vorangehenden Geschlechtes, dem der Erwerb des "Brotes" die erste und fast einzige Lebensaufgabe galt, und das ganz mißglückende Streben aller Söhne nach der bequemeren und angeseheneren Stellung eines kleinen Gutsbesitzers oder Pächters, nach einem "herrschaftlichen" Leben, einen bemerkenswerten Gegensatz.

 

Magdalene Jansen

 

heiratete einen Probsteier, Wiese, der in dem großherzoglichen Dorfe Sütel an der Ostsee die eine der beiden schönen Doppel-Hufen besaß und mit der den Probsteiern eigenen aufgeklärten Strebsamkeit bewirtschaftete. Er ist dort aber schon zu einer Zeit gestorben, die in meiner Erinnerung nicht mehr klar ist; ein Bild von seiner Person ist mir nicht geblieben. Wohl aber erinnere ich, daß von den Kindern mehrere bald nach einander starben, und daß ich zwei der Leichen auf dem Totenbette gesehen habe. Die eine, etwa 10-12 Jahre alt, erschien mir wie ein nunmehr vollendeter, irdischer Not und Sünde entnommener Engel mit ihrem Kranze ums Haupt als ein liebliches Bild; die andere, ältere, schon erwachsen, vielleicht 16-17 Jahre alt, deren Zwillingsschwester, Dora, in hohem Alter noch heute lebt, von Jugend auf schwach und kränklich und zuletzt abgemagert zu einem vollständigen Skelett, erregte mir ein unerwartetes, unnennbares Grausen, das ich lange nicht wieder loswerden konnte. Nur drei Kinder, Dora, Heinrich und Ferdinand, blieben am Leben.

Die Wittwe nahm zur Besorgung der Wirtschaft einen jungen Mann ins Haus, Fritz Freitag, den Sohn eines Schwagers von meinem Vater, der, wie dieser, mit der Schwester des zweiten Doppelhufners in Sütel, Höper, in erster Ehe verheiratet war. Bald merkten wir Kinder aus den Gesprächen und wiederholten Reisen meines Vaters, der nicht bloß Haupt der Familie, sondern auch Vormund und Curator geworden war, daß sich in Sütel etwas Unleidliches vorbereitete. Wie oft, erinnere ich, daß er nach völlig beendetem Tagewerk und rasch genommenen Abendbrod um 7-8 Abends sein gutes Pferd bestieg, um die drei Stunden nach Sütel zurückzulegen und nach erledigtem Geschäft zum neuen Tagewerk zurückzueilen. Geschehen war, was so oft geschieht: der junge Mann und die gereifte Frau waren sich einiggeworden. Die ganze Familie, am heftigsten mein Vater, waren dagegen, die Kinder, am unversöhnlichsten die bereits erwachsene Tochter Dora, waren empört, Fritz Freitag Vater nennen zu sollen. Sie haben es nie über sich gewonnen. Denn die Verbindung ging trotz allen Widerstandes vor sich und, was niemand gedacht hatte, führte zu einer kinderlosen, aber glücklichen und langen Ehe. Die verständige und freundliche Haltung des tüchtigen und ordentlichen jungen Mannes gegen die Kinder versöhnte allmählich auch diese, und die Frau konnte sich einen aufmerksameren und zärtlicheren Mann kaum wünschen. Auch das Verhältnis der ganzen Verwandschaft zu dem anfangs so unwillkommenen Schwager gestaltete sich zu einem durchaus freundlichen und ungestörten. Als der älteste Sohn Heinrich die väterliche Hufe übernahm, pachtete der Stiefvater eine in Nanndorf, ebenfalls in Land Oldenburg, und als diese Pachtung zu Ende ging, zogen sie nach Eutin. Hier ist Lene Jansen 1868 im 84. Lebensjahre gestorben. Nach einem Vierteljahre etwa folgte der noch sehr kräftige Mann ihr im Tode nach. Auch ihr scheint der allem Anschein nach so vielen Bedenken bloßstehende Schritt einer so ungleichen Verbindung nie gereut zu haben.

Die älteste Tochter Dora, ein sehr kluges, mit einem erstaunlichen Gedächtnis begabtes und in Folge davon durch Lesen sehr unterrichtetes Mädchen, ist, obwohl von mehr als einer Seite begehrt - sie hatte auch ein eigenes Vermögen - und von einem ganz unbescholtenen Kaufmann in Hamburg Jahre lang umworben, auch einmal mit ihm verlobt, konnte sich doch zuletzt nie entschließen und ist unverheiratet geblieben. Sie lebt in hohem Alter in Eutin, eine tüchtige Wirtschafterin und Erwerberin, noch jetzt ohne Mädchen. Sie hatte stets eine Art von Leidenschaft, sich um die Verhältnisse ihrer Mitmenschen zu kümmern und besaß dazu eine nicht immer harmlose Spürkraft, sodaß es kaum eine Übertreibung ist, wenn ich sage, sie kannte die Familiengeschichte aller mir einigermaßen namhafteren Schleswig-Holsteiner und der meisten europäischen Fürstenhäuser dazu bis in die geheimsten Einzelheiten in einem Umfange, wie es nicht leicht zum zweiten Male vorkommt. Ihres Lebens aber ist sie mit ihrem unsteten, ruhelosen und unbefriedigten Sinne kaum je einen Augenblick froh geworden, würde auch schwerlich jemals einen Mann beglückt haben, der sich nicht willenlos untergeordnet hätte.

Der älteste Sohn, Heinrich, gleichfalls ein kluger und gut unterrichteter Mann, machte, bevor er den väterlichen Besitz übernahm, eine für seine Verhältnisse große Reise durch Deutschland und Oberitalien, verheiratete sich mit einer wohlhabenden Bauerntochter aus Nanndorf, Sievers, und bewirtschaftete seine große Erbhufe allerbesten, landoldenburgischen Bodens mit ererbtem Geschick und vorsichtiger Verwendung aller von den Fortschritten der Landwirtschaft gebotenen Mitteln zur Hebung der Erträge des Bodens. Sein Viehstand an Kühen und an Pferden gehörte zu den vorzüglichsten, landwirtschaftliche Maschinen wurden nicht gespart, das erst vom Vater neu erbaute Wohnhaus wurde durch ein stattliches neues ersetzt, ebenso sämtliche Wirtschaftsgebäude und, obwohl ihm die Söhne, zwei Landleute, ein Jurist und ein Baumeister, viel nötiges und unnötiges Geld gekostet haben, obwohl er auch von sehr kostspieligen Krankheiten heimgesucht ist und immer eine mehr als bäuerliche Gastfreundschaft geübt hat, sind doch seine Vermögensverhältnisse von größeren Verlusten infolge einer fehlgeschlagenen Pachtunternehmung nicht erschüttert worden. Seine häuslichen Verhältnisse sind von manchem Schweren, nicht ohne eigenes Verschulden, getrübt gewesen, haben sich aber zuletzt wieder freundlicher gestaltet. Trotz vielfacher sehr ernster Krankheitsanfälle waltet er, von einem der Söhne unterstützt, noch immer, jetzt 72 Jahre alt, mit alter Kraft seines Berufes.

Der jüngere Bruder, Ferdinand, besuchte mehrere Jahre die Realklassen des Lübecker Catharineums, wandte sich dann auch der Landwirtschaft zu und erwarb einen Hof in Angeln, Koltoft, den er dann bei herannahendem Alter günstig wieder verkaufte, um sich nach Glücksburg auf einen städtischen Grundbesitz zurückzuziehen. An der Bewegung des Landes und namentlich auch Angelns gegen die Dänen und für den Herzog Friedrich hervorragend beteiligt, ward er 1867 in den Reichstag des norddeutschen Bundes gewählt, nicht der einzige der ebensosehr aufgeklärten und gebildeten wie wirtschaftlich tüchtigen kleineren Grundbesitzer, die Schleswig-Holstein namentlich in seinem wohlhabenden Osten und Westen aufzuweisen hat. Seinen einzigen Sohn hat er früh verloren, als er eben erwachsen war. Zwei Töchter leben; auch seine äußerst kräftige und entschlossene Frau. Er selbst ist seit längerer Zeit körperlich schwach und gemütlich der Schwermut verfallen.

 

Die Familie Daniel Wilhelm Jansen

 

Mein Vater heiratete 1805 die Tochter des anderen Doppelhufners in Sütel, Höper, Elsabe, eine, wenn ich nach dem mir noch erinnerlichen Bruder und dem ganzen Sinne und Charakter dieser echten und rechten Bauernfamilie voll Schlichtheit und Tüchtigkeit, gesunder Einsicht und reiner Sitte urteilen darf, vortreffliche und körperlich stattliche Frau, von feingeschnittenem, schönem Gesichte. Nach 9-jähriger, wie er selbst in seinen kurzen Aufzeichnungen bekennt, "viel glücklicher" Ehe wurde sie ihm entrissen.

Sie hinterließ ihm drei Töchter, Wilhelmine, Auguste, Lisette, meine Stiefschwestern.

Alle drei, besonders aber die älteste, haben nicht ohne eigene Schuld ein schweres Leben gehabt.

Die älteste, vor der Zeit meines Gedenkens an Fritz Schröder, Sohn des Holländers von Stendorf, verheiratet, wohnte zuerst auf dem Stendorf benachbarten Bergfeld, dann auf dem großen Gute Coselau unweit Lensahn. Schon auf Bergfeld war das Verhältnis zwischen den Eheleuten ein gestörtes. Auf Coselau ergab sich der von Haus aus leichtfertige, vielleicht auch durch seine Frau gereizte Mann immer mehr und offener dem Trunke und anderen damit meist in Verbindung stehenden Dingen. Er machte sich auch mit dem herzoglichen Verwalter unrechtfertiger Durchstechereien schuldig; der Verwalter verlor seinen Dienst, er seine Pachtung, die Familie kam auf nichts und wurde in alle vier Winde zerstreut. Er suchte sein Auskommen in Jütland, wo er nach längerer Zeit verkommen und von der Güte fremder Menschen lebend sein Ende gefunden hat. Auch seine Frau mußte sich in die Bitternis fügen, ihr Brot als Meierin "im Dänischen" suchen zu müssen. Die armen Kinder wurden bei Verwandten beider Seiten untergebracht, zwei Töchter und zwei Söhne, von denen jedoch den jüngeren die Mutter bei sich zu erhalten wußte. Das älteste Mädchen, Doris, starb früh. Die jüngere Adolfine nahm ihre Großmuhme Lene in Sütel und Nanndorf zu sich, bei der sie eine strenge, aber wohlgemeinte und schließlich auch wohl heilsame Schule mit Folgsamkeit und stiller Entsagung auf eine heitere Kindheit durchgemacht hat und ein treues, fleißiges und anspruchloses Mädchen wurde. Im Hause Heinrich Wiese's fand sie in dessen Hauslehrer Heesch ihren braven Mann, der sie leider nach kurzer glücklicher Ehe in Heiligenhafen mit einer kleinen Tochter mittellos zurückließ. Ihre eigene Tüchtigkeit und Fertigkeit in allen weiblichen Handarbeiten, das Wohlwollen der Heiligenhafener gegen sie und ihren verstorbenen Mann, Unterstützungen auch von Verwandten überhoben sie bald aller Nahrungssorgen. Sie fand Aufnahme in dem von einem reichen Kaufmann und Schiffer gestifteten Wittwen-Heim und beerbte 1889 ihren unverheiratet gebliebenen jüngsten Bruder Wilhelm, der ein Vermögen von 50.000 M hinterließ.

Der ältere Bruder nämlich, Julius, als Kind mit dem Vater nach Jütland gekommen, hatte es dort zu einer selbstständigen Stellung nicht gebracht und zuletzt bei dem jüngeren Bruder Zuflucht gefunden. Nach Wilhelm's Tode, der ihm ein von der Schwester zu zahlendes Jahrgeld ausgesetzt hatte, ging er nach Jütland zurück, wo er aber bald hernach gestorben ist.

Wilhelm, der jüngste von den Geschwistern, mit der Mutter auf verschiedenen Höfen im Dänischen aufgewachsen, hatte dort seine Muttersprache völlig verlernt und völlig dänische Gesinnung angenommen.

Als mein Bruder Wilhelm in den 70-ger Jahren schwach und unfähig wurde, seine Wirtschaft selbst zu versehen, nahm er diesen seinen Neffen als Haushalter an, und da er treu und anspruchlos seine Pflicht tat, hielt es nach dem Tode meines Bruders (2. Januar 1879) nicht schwer, ihm bei dem Inspektor Kaufmann die Nachfolge in der Pachtung zu erwirken. Nachdem er hier 10 Jahre gut gewohnt hatte, mußte er, weil er in die neue Einrichtung der Meierei sich nicht fügen wollte, ungern genug nach dem Gute Crumesse in Lauenburg übersiedeln, wo er noch in demselben Jahre einem schon länger entwickeltem Leberleiden erlag.

So war Adolfine von allen Kindern allein noch übrig und sah sich mit einem Schlage in die bequemsten Verhältnisse versetzt. Sie hatte überdieß bald die Freude, ihre Tochter, der sie eine vortreffliche Erziehung zu geben gewußt hatte, mit einem zwar schon älteren, aber angesehenen und braven Manne, auch entfernten Verwandten, Kästner, verheiratet zu sehen, der nur ein Viertelstündchen von Heiligenhafen wohnte. Teils bei ihrer Tochter, teils aus der eigenen gesicherten Wohnung lebt sie jetzt als beglückte Großmutter einen späteren Lebensabend nach schwerer Jugend und harten Geschicken.

Meine zweite Stiefschwester, Auguste, hatte ganz das feingeschnittene Höpersche Gesicht und im Grunde eine glückliche und heitere Natur. Früh aus dem väterlichen Hause entfernt und auf Dienst oder Aufenthalt bei fremden Leuten angewiesen, hatte sie, was Goethe vom Weibe verlangt, das "Dienen"[12], die Dienstbereitschaft und Zuvorkommenheit in hohem Maße gelernt und ist bei mehr als einer Familie nicht sowohl Haushälterin als Vertrauensperson des Hauses gewesen. Der Aufenthalt im Schröderschen Hause gereichte keiner Seite zum Segen. Gegen ihre Stiefgeschwister bewies sie viel Liebe und Freundlichkeit, gegen ihre Stiefmutter, die ihrerseits mütterliche Gefühle gegen die Stiefkinder nicht kannte, alle Achtung und Ehrerbietung. Nur besuchsweise hat sie wohl nach der Wiederverheiratung ihres Vaters das Vaterhaus wieder gesehen.

Geschwisterliche Gefühle gegen die Stiefgeschwister haben wir Kinder zweiter Ehe oder wenigstens ich, der jüngste, nie gekannt, immerhin später, als wir erwachsen waren, ein gutes Verhältnis zu ihnen gefunden. Auch ihre letzte schwere Krankheit hat Auguste nicht im Vaterhause durchgemacht; sie starb am Krebs in ihrem 54. Jahre zu Oldenburg bei der Schwester ihres Schwagers Davids.

Christian Davids, Sohn eines Haushalters auf Meierhof bei Eutin, kam als Böttcher in unser Haus, ein junger, blühender, durch seltene Körperkraft ausgezeichneter Mann von klarem Blicke und glücklicher Laune. Ich erinnere mich sehr wohl, daß er mir Jungen, der ich viel bei dem Gesinde, namentlich auch dem Böttcher mich aufzuhalten pflegte, sehr bald erklärte, eine von meinen Schwestern wolle er haben. Nicht lange, so entdeckten die Eltern zwischen ihm und der jüngsten Stieftochter Lisette, die damals bei uns zu Hause war, ein geheimes Liebesverhältnis, dem mit scharfem Verbot und strenger Aufsicht entgegen getreten wurde. Umsonst. Davids mußte das Haus verlassen, Lisette gleichfalls. Um die Hochzeit bin ich überhaupt nicht gewahr geworden. In Neustadt, wo er sie eingemietet hatte, gebar sie ihr erstes Kind. Aber in ihrem Manne steckte ein guter Grund von Einsicht und Kraft. Bald hatte er eine Haushalterstelle auf Redingsdorf, und das Verhältnis zu den Eltern und Geschwistern stellte sich wieder her. Dann war er im Stande, die Tangstedter Meierei zu pachten, wo sein Schulfreund Völckers Verwalter war, und zuletzt fand er auf dem von Hollen'schen Gute Schönweide eine so vortreffliche Pachtung, daß er in noch mittleren Jahren soviel erworben hatte, um in Eutin in eigenem Hause sorgen- und arbeitsfrei leben zu können. Schon aber hatte sich unbemerkt in ihm, dem äußerlich noch immer blühenden Manne, die schleichende Krankheit der Zuckerruhr ausgebildet, welche auch diese seltene Körperkraft und Gesundheit langsam, langsam zerstören sollte. Viele Jahre lang hatte sie schon ihr Werk getan, als der von ihm zugezogene Prof. Bartels in Kiel auf seine Mitteilung, er litte an der Zuckerkrankheit, erwiderte: da sehen Sie mir nicht nach aus. Es war nur zu gewiß. Der Durst wurde immer größer und peinigender; die Zähne fielen einer nach dem andern aus, die ganze untersetzte und kräftige Gestalt verfiel. Er sah dem Unausbleiblichen mit voller Kenntnis ruhig entgegen. Der Tod erfolgte 18 ...[13] nach schweren Kämpfen.

Die Kinder leben sämtlich in meist befriedigenden Verhältnissen. Der älteste ward Holländer, Wilhelm, der zweite, Daniel, Müller, der dritte Georg, Postbeamter. Die Töchter sind oder waren alle verheiratet, die älteste, Auguste, ein sehr verständiges und gut unterrichtetes Mädchen, mit dem Förster Schwedt, jetzt in Hütten bei Eckernförde; die zweite, Bertha, mit dem Pächter von Kirchnüchel im Gute Kletkamp, dem Schwager meines Bruders, Karl Sieck, einem durchaus braven und guten Mann, der aber leider auch infolge des Krieges ein Sklave des Alkohols geworden war, die kleine, nicht sehr vorteilhafte Pachtung trotz bedeutenden Zusatzes nicht halten konnte und in Malente in ärmlichsten Verhältnissen früh gestorben ist. Seine Frau fand Aufnahme bei der Mutter. Die 4 Kinder nahmen sich gut und schlugen sich tapfer durch: der älteste, Karl, jetzt selbstständiger Gärtner in Hannover, kürzlich mit einem vortrefflichen Mädchen verlobt; der andere, Paul, in Kiel, Bauführer und Techniker; das älteste Mädchen, Gesellschafterin bei einer reichen Frau und neuerdings verlobt mit dem Prof. Tönnies, die jüngere, Elli, Putzmacherin und gleichfalls durch eigene Arbeit sich durchbringend. Die Mutter, nach dem Tode ihrer Mutter, Lisette Davids, Erbin eines kleinen Vermögens, lebt in Kiel.

Die jüngste von Davids und Lisette's Kindern, Doris, die mir aus ihrer Kindheit als ein allerliebstes, unschuldiges kleines Mädchen vorschwebt - ich habe sie nachher nicht mehr gesehen - hat nach einer ersten unglücklich endenden Liebschaft einen Landmann Reimers geheiratet, dem es bei großer Familie nur knapp zu gehen scheint.

Das sind die Töchter meines Vaters aus seiner ersten Ehe und ihre Nachkommen. Von Wilhelmine leben nur noch die Tochter Adolfine Schröder, die Enkelin Anna Heesch, verheiratete Kästner und ein Urenkel, 1893 geboren. Die Familie Davids, durch 6 Kinder und eine ganze Reihe von Enkeln und Enkelinnen dargestellt, scheint längere Dauer zu versprechen.

1816 schloß mein Vater eine zweite Ehe.

Seine Wahl war gefallen auf Margarete Höper, die mittlere Tochter von Heinrich Höper in Heringsdorf und seiner zweiten Frau, Anna Voss, die dann meine Mutter werden sollte. Die vorhergehende Bekanntschaft zwischen den beiden wird eine sehr oberflächliche gewesen sein. Die erste Anfrage stieß auf entschiedene Ungeneigtheit; es sind noch Bräutigams-Briefe übrig, in denen mein Vater die Bedenken der Umworbenen mit langen Stellen aus seinem besonderen Lieblings-Schriftsteller, dem damals noch viel gelesenen und als Ratgeber und Beichtvater zugezogenen trefflichen Gellert zu heben versucht. Die Zureden der Eltern werden das 22-jährige unerfahrene Mädchen, die offenbar ohne persönliche Neigung auch wohl vor der schweren Stellung einer Stiefmutter zu drei bereits über die erste Kindheit hinausgewachsenen Kindern gebangt haben wird, schließlich bestimmt haben, ihr Jawort zu geben. In dem lübschen Stiftsdorfe Heringsdorf[14] ging die Stelle an den ältesten Sohn oder die älteste Tochter über, und die übrigen Kinder gingen nahezu leer aus. So wird der bäuerlichen Auffassung die Hand des Holländers von Seegalendorf als eine gute Versorgung erschienen sein. Der Ehebund wurde geschlossen.

Ich will gleich hier sagen, daß er ein glücklicher nicht gewesen oder, wenn er es gewesen, doch nicht geblieben ist. Solange ich denken kann - ich sage es mit Schmerzen und Scham - hat der Geist der Liebe und des Friedens in unserem Hause nicht gewaltet, und nur zu tiefe und unverwischbare Einwirkungen hat die Luft, die wir als Kinder atmeten, in unseren Herzen und in unserem Wesen zurückgelassen. - (So wird wohl auch in der Hauptsache die Sammlung von Verlobungskarten zu erklären sein, die ich mir bereits in einem Alter anlegte, wo den meisten das alte und ewig neue Wort: "Ehestand, Wehestand" noch nicht aus naher Beobachtung und eigener Erfahrung nahe getreten war. Ich hatte auch schon als Knabe ein Trauerspiel dieses Titels in Arbeit, das über einige Seiten nicht hinaus gediehen ist.) - Der barmherzige Gott decke mit seiner Gnade alle unsere Fehler zu. -

Mein Vater war eine sehr kräftige und tüchtige, aber auch eine sehr leidenschaftliche und zu gewaltigen Ausbrüchen des Jähzorns nur allzu geneigte Natur. Das Schlimmste und Schwere dabei war, daß ein solcher Ausbruch nicht, wie es meine geliebte Frau so oft von ihrem lieben, gleichfalls sehr jähzornigen Vater dankbar gerühmt hat, einem erneuten Sonnenschein Platz machte, sondern Tage, selbst Wochen schwerer Verstimmung und dumpfen Unmuts nach sich zog. - An Eurem Vater, an Eurer Mutter, werdet Ihr, liebe Kinder, sofort die Züge Eurer Großväter wiedererkennen.

Zu dieser Natur-Anlage kam die ererbte Familiensitte, welche in Kundgebungen der Liebe und Herzlichkeit Verweichlichung und Verzärtelung sah und von dem Apfel nichts wußte oder hielt, der nach Luther's schönem und lieblichem Bilde neben der Rute liegen soll. Meine Mutter war nicht geartet, diesen unheilvollen Einwirkungen auf die Kinderherzen ein geeignetes und heilsames Gegengewicht zu bieten. Sie war von nur beschränkter Auffassung und sehr vernachlässigter Schulbildung, folglich von sehr engem, geistigem wie sittlichem Gesichtskreis, den auch kein Verkehr außerhalb des einfachen, stillen Bauerndorfes ihrer Eltern, kein Hinauskommen über das heimische Dorf irgendwie erweitert hatte. Daß sie als zweite Frau auch gegen ihre Stiefkinder mit der Hand des Mannes irgend welche Verpflichtung übernommen hätte, ist ihr wohl nie zum Bewußtsein gekommen. Ihre eigenen Kinder dagegen liebte sie mit aller mütterlichen Zärtlichkeit und Blindheit, und wenn der Zorn und die Strenge des Vaters uns unbewußt zum Jähzorn und zum Launen anleitete, so trug die Verzärtelung und blinde Nachsicht der Mutter dazu bei, solchen schlimmen Neigungen nur noch mehr die Zügel schießen zu lassen.

Den Gewaltausbrüchen des Mannes war sie gleichfalls nicht geartet, durch ein richtiges Maß von Festigkeit und Fügsamkeit entgegen zu wirken. Durch allerlei kleine Mittel, Listen und Täuschungen, zu welchen die Angst sie trieb, reizte sie oft seine Leidenschaft und Rauhheit nur noch mehr. Unzählige Male lieferte ihre Neigung, sich oder das Haus ein wenig zu schmücken, der grundsätzlichen Gewöhnung und Richtung des Mannes auf die allerstrengste Einfachheit und Entsagung im ganzen äußeren Leben die Anlässe zu den heftigsten, meist vor Kindern mit Gesinde sich abspielenden Auftritten. So beschränkte sich der Verkehr zwischen den Eheleuten mehr und mehr auf das Notwendige, auch in den besseren Tagen; eine herzliche Aussöhnung wurde nie bemerkbar; auf den Kindern ruhte ein schwerer Druck, den nur der leichte Sinn der Jugend und die mancherlei Freuden der Kindheit zumal auf dem Lande mit allen seinen wechselnden Erscheinungen im Kreislauf des Jahres vergessen machten.

Aus dieser Ehe entstammten drei Kinder: Wilhelm, Doris und Euer Vater Karl.

Als Kind habe ich meinen Bruder wenig gekannt. Da er 6 Jahre älter war als ich, hielt er sich zu seinen Schul- und Spielgenossen, nicht zu mir und meiner Schwester, die wir uns näher aneinander schlossen. Zwischen ihm und dem Vater muß schon früh ein ganz gestörtes Verhältnis eingetreten sein, das später in ein geradezu feindseliges ausartete. Die Rauhheit und Härte von der einen, der Trotz und Ungehorsam von der anderen Seite mag es in der Hauptsache erklären. Als er konfirmiert war und von Hause kam - er wollte gern auch wie seine Vettern Landmann werden und kam als Kostgänger zu einem Pächter Huß auf Rethwisch in die Lehre - schien es sich bessern zu wollen, wie denn die Trennung ja immer eine mildernde Wirkung auszuüben pflegt. Es war ein Unglück, daß es ihm nicht gelang, nachher als Schreiber oder Verwalter bei einer angesehenen Herrschaft eine dauernde Stellung zu gewinnen. Er kam wieder zu Hause und konnte in der väterlichen Wirtschaft nicht wohl anders denn als Knecht Verwendung finden. Begreiflich, wenn er sich in eine solche Stellung nicht zu fügen verstand und ein wenig mit zu regieren und zu sprechen wünschte. Begreiflich ebenfalls, wenn das bei der Natur des Vaters, dem die des Sohnes nur zu sehr ähnelte, zu den bedauerlichsten Auftritten führte, unter denen Mutter und Schwester - ich war damals schon vom Hause - unsäglich gelitten haben.

Der Tod des Vaters machte diesem betrübenden Zustande ein Ende. Meines Bruders Stellung wurde insofern eine ganz andere, als er nunmehr für meine Mutter, welche die Inhaberin der Pachtung blieb, die Leitung der ganzen Außenwirtschaft übernahm. Sein leidenschaftliches und verbittertes Wesen, seine häufigen Zorn- und Wuth-Ausbrüche minderten sich aber nicht, sondern nahmen vielmehr einen oft geradezu bedenklichen und bedrohlichen Charakter an. Meine arme Schwester, auch sonst von einem tiefen und stumm getragenen Schmerze gequält, ward 1854 durch einen unerwarteten, frühzeitigen Tod ihrem schweren und freudeleeren Dasein entnommen. Bald darauf überließ Mutter auf mein Zuraten die namentlich erst in den letzten Jahren immer besser gehende Pachtung ihrem Sohn, den der Inspektor Stuckenberg, obwohl er meiner Mutter zuredete, sie nicht aus der Hand zu geben, auch als Holländer annahm. Er konnte nun heiraten, wozu es ja seinen schon vorgerückten Lebensjahren nach Zeit wurde. In Lucie Sieck, einer Tochter des Pächters von Kirchmühlen, fand er eine gute, anspruchslose, nur nicht recht kräftige und feste Frau, wie es zu einer günstigen Gestaltung der Ehe wünschenswert gewesen wäre. Auch das Verbleiben meiner Mutter im Hause, die gegen alles fremde Blut ebenso abgewandt, fremd und lieblos bleiben konnte, wie sie das eigene mit zärtlichster Liebe und rührender Fürsorge umfaßte, wird keinen günstigen Einfluß gehabt haben. Wilhelm's Leidenschaftlichkeit minderte sich auf die Dauer nicht. Im Winter von 65 auf 66 nahm sie einen immer bedenklicheren Charakter an, und im Mai 1866 mußte ich ihn, nachdem alle Zureden und Hoffnungen sich als vergeblich erwiesen hatten, aus seinem Hause in die Anstalt Hornheim bei Kiel bringen. Nach etwa 3/4 Jahren war er so weit genesen oder beruhigt, daß er zu den Seinen wieder entlassen werden konnte. Eine große Schwäche und Hinfälligkeit brachte er mit zurück. Im November 1873 verlor er seine schwer geprüfte Frau, selbst schon damals in seinen Bewegungen schwerfällig und gehemmt, in seiner Gesundheit völlig zerrüttet. Bald trat ein unheilbares Leiden immer deutlicher hervor; erst nach 6-jährigem, langsam langsam sich verschlimmerndem Leiden, am 2. Jan 1879 hauchte er seine Seele aus.

Die jüngste Schwester seiner Frau, Marie Sieck, die sich schon der Wirtschaft des Schwagers wie der Pflege und Erziehung der Kinder aufs treueste angenommen hatte, vertrat von nun an Vater- und Mutterstelle zugleich an den noch sämtlich unmündigen Kindern, für die durch einen unerwartet großen Nachlaß des Vaters auf das erwünschteste gesorgt war.

Der älteste von ihnen, Wilhelm, schon seit einigen Jahren zur See, hat alle Schwierigkeiten, Härten und Gefahren dieses Berufes wacker und glücklich bestanden, sein Dienstjahr in der deutschen Marine mit Erfolg abgeleistet, und ist vor kurzer Zeit in seinem 35. Jahre von der Hamburg-Amerikanischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft vom ersten Offizier zum Kapitän befördert worden.

Die älteste Tochter, Grete, ist mit einem braven Manne, dem Verwalter Bielfeld auf Schrevenborn verheiratet, jetzt schon Mutter von 3 Kindern, der älteste Knabe 9 Jahre alt.

Die zweite Tochter, Bertha, ist gleichfalls verheiratet mit einem Holz- und Kohlen-Kaufmann Müller in Heiligenhafen. Der zweite Sohn, Wulf, ist Landmann geworden, hat sich 1892 mit Minna Boysen von Eichthal verheiratet und die schöne, wenn auch etwas teure Pachtung des Gutes Hemmelmark am Eckernförder Meerbusen zu übernehmen gewagt. Beide jüngeren Geschwister sind auch schon beerbt. Der älteste ist noch nicht verheiratet. Alle vier haben sich gut geführt und eine gute Lebensstellung gewonnen.

Meine Schwester Doris, vier Jahre älter als ich, war von Kind auf meine Spielgefährtin und auch ihrerseits an mich als den natürlichen Genossen gewiesen. Zwar weiß ich, daß wir uns oft aufs heftigste zankten und ganz entzweiten; doch führte uns das natürliche Gegenseitigkeits-Bedürfnis auch immer wieder zusammen, und nachdem ich von Hause gekommen war, bildete sich ein immer engeres Vertrauensverhältnis zwischen uns aus, das keine Störung erfahren hat.

Ein schweres Leben war ihr beschieden. Nicht nur litt auch sie unter dem Druck, der auf dem ganzen Hause lag, mehr noch als die Knaben, welche das frohe Spiel mit den Altersgenossen in Feld und Wald so leicht der schwülen Luft des Hauses vergessen ließ; sie hatte, so lange ich denken kann, mit Krankheit, namentlich mit endlosen Fieber-Anfällen zu kämpfen. Als besonders gräßlich schweben mir die Lachkrämpfe vor, denen sie von Zeit zu Zeit ausgesetzt war; ihr Bild, wie sie sich dann im Bette erhob, die Arme und Hände spreizte, das abgemagerte Gesicht von unheimlichem Lachen verzerrt - es war in der Schlafstube des alten Hauses auf Lensahn - steht mir noch heute auf das deutlichste vor Augen. Trotz des viel unterbrochenen Schulbesuchs hatte sie sich bei guter Begabung und gewissenhaftem Fleiße doch bis zu ihrer etwas verfrühten Confirmation eine recht gute Schulbildung erworben, welcher ein nicht sehr langer Aufenthalt in Eutin in einem Pensionate nur wenig hinzufügte.

Mit dem Übergang aus der Kindheit in das jungfräuliche Alter gestaltete sich ihre Gesundheit günstiger; sie hatte eine recht anmutige Gestalt; auch ein regelmäßiges und wohlgebildetes Gesicht; aber rote Haare und Sommersprossen ließen einen ungemischt günstigen Eindruck ihrer Erscheinung nicht aufkommen. Sie blieb zu Hause, und obwohl sie nicht mehr, wie z.B. Lisette noch, nach dem Kuhhaus und der "Regel"[15] zu melken gegangen ist, mußte sie doch im Hause tüchtig heran und trotz ihrer nie völlig entwickelten Körperkräfte ganz die schweren Dienste einer Meierin tun, das Butter-Kneten und -Einschlagen in die Tonne, das Käse-Machen, das frühe Aufstehen mit oder gar vor Sonnenaufgang, die Flachsbearbeitung, die großen Schlachtereien im Herbste und vieles mehr. Nur im Winter behielt sie einige Muße, um ihrem Bildungs- und Lesebedürfnis zu genügen, das sie in hohem Maße hatte. Feste und Ferien waren selten; nur die Besuche im Dorf und der Nachbarschaft bei Bekannten und Jugendfreundinnen, namentlich aber bei den Verwandten in Land Oldenburg gewährten eine freundliche Abwechselung, aber nicht genügend, um die Last des täglichen Lebens, namentlich seitdem Wilhelm ins Haus zurückgekehrt war, wesentlich zu erleichtern. Mit viel Geduld und Entsagung hat sie es getragen. Wahrhaft hohen Sinn und große Seelenstärke und sittliche Standhaftigkeit hat sie bewiesen in den beiden Fällen, wo das eine Mal um ihre Hand, das andere Mal um ihr Herz geworben wurde. Ein wohlgestellter Hufenbesitzer in dem lübschen Dorfe Klein-Schlamin, der sie nur gesehen, kaum je gesprochen hatte, war ganz von dem lebhaftesten Verlangen erfüllt, sie zur Frau zu gewinnen und warb, wie es Bauernsitte war und ist, durch Mittelspersonen lange und wiederholt um ihre Hand. Vater und Mutter redeten beide zu, das Anerbieten einer so gesicherten Versorgung nicht von der Hand zu weisen; ohne Vermögen, wie sie wäre, würde sie nach dem Tode der Eltern zu dem harten Lose verurteilt sein, ihr Brot bei fremden Leuten zu suchen. Ich stand auf meiner Schwester Seite, deren einziger Grund, wie mir schien, nicht zu widerlegen war: bei aller Folgsamkeit gegen ihre Eltern, bei aller Furcht vor dem Vater, der freilich nicht gebot, nur überredete, erklärte sie ohne jegliches Schwanken und Zweifeln, sie könne vor dem Altar keinen Meineid schwören. Keine Nützlichkeitserwägung hat sie auch nur einmal einen Augenblick wankend gemacht.

Schwer erschüttert wurde ihr Seelenfriede durch eine andere nicht so ehrenhafte Werbung.

Der Schreiber des Gutes Lensahn, Stuckenberg, Sohn des allgewaltigen Inspektors Stuckenberg von Nienrade, war lange gewohnt, einen guten Teil seiner vielen Mußestunden in der Holländerei zu verbringen, wo ihm schon wegen seines Einflusses auf die mehr oder minder erwünschte Gestaltung der Pachtung eine freundliche Aufnahme gesichert war. Mein Bruder war sein Schulfreund und Dutzbruder, meine Eltern hatten ihn als wohlgesinnt und leutselig gern, eine kräftige, blühende Mannesgestalt empfahl ihn überhaupt. Es war kein Wunder, daß auch meine Schwester seinen durch Blicke, Händedrücke, Worte kundgegebenen Werbungen nicht unzugänglich blieb und seine Neigung erwiderte. Rechtzeitig genug aber merkte sie, daß er eine eheliche Verbindung nicht ernstlich suchte oder doch seines Vaters wegen für unmöglich hielt. Und nun offenbarte sie mir ihr ganzes, lange allein mit sich herumgetragenes Geheimnis, ich schrieb sofort an ihn: Entweder - oder. Er war zu allem bereit, und nun hatte meine arme Schwester den schweren, schweren Kampf zu kämpfen, sich von dem liebsten und seligsten Erdentraum loszureißen. Sie hat ihn mit wahrem Heldenmute siegreich durchgeführt. Aber ihr Lebensmut und ihre Lebenskraft war gebrochen. Meine Anstellung, Verlobung und Hausbegründung warf, glaube ich, - denn sie war mir seit lange mit einer gewissen Verehrung zugetan - noch einmal einen Freudenschein in ihr Leben. Im April feierte sie still, blutenden Herzens die fröhliche Hochzeit August Heise's auf Kletkamp mit, von der ihre letzte, wehmutsvolle Aufzeichnung noch Kunde gibt. Am 2. Juni 1854 erlag sie einer Schleimhautentzündung. Meine Mutter war untröstlich. Sie hat diesen Verlust nicht mehr verwunden.

Doris aber war zur Ruhe.

 

Aus meiner Kindheit

 

Am 17. September 1823 ward ich in dem alten, jetzt längst verschwundenen Holländer-Hause auf dem großen und schönen Gute Seegalendorf, Kirchspiels Oldenburg, geboren. Mein Vater, so hat uns Mutter oft erzählt, war hoch erfreut wohl darüber, daß es wieder ein Junge war, und liebkoste einmal wieder seine Frau. Ich muß auch sagen, daß er mir, soweit ich denken kann, immer eine besondere Liebe zugewandt hat und sich von allen Kindern am meisten mit dem jüngsten und letzten zu beschäftigen pflegte, ahnungslos, wie es scheint, daß all diese Liebeskundgebungen die Furcht nicht nehmen konnten, mit der seine Zorn-Ausbrüche später das Kinderherz erfüllte. Getauft bin ich von dem damaligen Diakonus in Oldenburg, Pollitz; die Taufrede ist noch unter meinen Papieren vorhanden. Gevatter standen der Gutsherr Fritz Schwerdtfeger, der nächst älteste unter den fünf Brüdern Schwerdtfeger, die damals eine der reichsten und angesehensten Gutsbesitzer-Familien in ganz Schleswig-Holstein darstellten; dann Onkel Karl Sebent und Tante Elsabe, Mutters einzige rechte Schwester.

Aus meinen 3½ Seegalendorfer Jahren ist mir nichts erinnerlich als die alten hohlen Weiden in der Nähe des Hauses, in denen meine Schwester und ich mit Vorliebe ihr Wesen zu haben pflegten. Jedoch muß der Weihnacht[16], dessen Gedächtnis sich mir darum eingeprägt hat, weil "Klüterklas"[17] ins Wasser gefallen und ausgeblieben war, auch noch auf Seegalendorf, wohl nach angetretenem, dritten Lebensjahr fallen.

Maitag 1827 siedelte mein Vater, ich weiß nicht, aus welchem Grunde, nach einem Meierhofe von Seegalendorf, Christianstal, jetzt Friedrichstal über, wo wir das stattliche Pächterhaus zur Wohnung bekamen, deren große Räume mir noch sehr klar im Gedächtnis sind. Auch hier sehe ich mich in beständiger Gesellschaft meiner Schwester. Einzelne Vorgänge aus dem nur einjährigen Aufenthalt sind mir sehr deutlich im Gedächtnis geblieben. So die abendlichen Gänge mit meinem Vater, der in einer Schilfhütte an der Wasserkuhle des nächsten Feldes den dort fallenden wilden Enten auflauerte; so auch der dort gefeierte Weihnacht, dessen Gaben uns lange beschäftigten und erfreuten. Sehr wohl entsinne ich mich einer im Winter 1827/28 durchgemachten Krankheit, der Frieseln[18], besonders wegen der abscheulichen zu verschluckenden Tränke. Daß ich dem Doktor Bleek aus Oldenburg, als er über die Kälte klagte, die er auf den offenen Wegen in dem baumlosen Land Oldenburg empfunden hatte, den Wunsch aussprach: "ick wull, dat't noch mal so kold wier", werden mir Eltern und Geschwister später erzählt haben.

Dagegen sehe ich mich eines Tages ernstlich entschlossen, auszuwandern und das böse Vaterhaus zu verlassen. Was man mir wieder einmal zu Leide getan, weiß ich nicht mehr; wohl aber, daß ich meine Stiefel, - wenn sie nur einigermaßen saßen und paßten, eine ganz besondere Freude meiner ganzen Kindheit, sodaß ich die neuen regelmäßig mit zu Bett nahm, - daß ich also meine Stiefel auf den Stock steckte, über den Nacken nahm und davonging. Um aber den Meinigen von dem ihnen bevorstehenden Verluste noch rechtzeitig Kunde zu geben, machte ich an den Trallen[19] der Kellerfenster im Vorübergehen ein möglichst starkes Gerassel, das aber seines Zweckes verfehlte. Auf der nächsten Koppel machte ich erstmal Halt und - nach nicht zu langer Zeit tauchte ich allmählig im Vaterhause wieder auf.

Schon nach Jahresfrist mußten wir wieder umziehen, aus welchen Gründen, weiß ich nicht, und zwar aus dem für alle heimatlichen Land Oldenburg hinweg nach dem zum gottorpischen Fideikommiß gehörigen Gute Lensahn, dessen Kühe mein Vater gepachtet hatte. Alle zogen ungern, am meisten wir Kinder. Die Fahrt war lang und ermüdend, und als wir die nackten Wände der alten und verfallenen Meierei sahen und in die ungereinigten, vernachlässigten Räume eintraten, wurde die Sehnsucht nach dem schönen, geräumigen Hause, das wir verlassen hatten, nur noch größer. Dazu kamen die Unbequemlichkeiten und Entbehrungen, welche jeder derartige Umzug mit sich bringt, für mich namentlich die schmerzliche Entbehrung der sog. Krumen, d.i. hart getrockneten frischen Weißbrotes, die zu Milch und Kaffee gegessen und darin aufgeweicht, für mich lange eine ebenso beliebte als gesunde Nahrung gebildet haben. Wir hatten damit die Stätte erreicht, wo Vater, Mutter, Bruder, Schwester ihr Lebensende, auch ich meine eigentliche Heimat finden sollte.

Mit dem Jahre 1829 fing ich an, in die sog. kleine Schule im Dorfe Lensahn zu gehen, um zunächst die einfachen Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens zu erlernen. Die Lensahner, wie alle Dorfschulen der gottorpischen Fideikommißgüter, in deren Besitz der jedesmalige Großherzog von Oldenburg war, erfreuten sich einer sehr angelegentlichen Fürsorge der Gutsherrschaft und einer genauen Überwachung des damaligen Pastors Petersen, des bekannten langjährigen Herausgebers der Provinzial-Berichte. Besonders viel Wert wurde auch auf die Ausbildung der Mädchen im Nähen, Stricken und Spinnen in der sog. Arbeitsschule gelegt,  welcher die Frau des Lehrers vorzustehen hatte: Großherzogliche Prämien für die beste Spinnerin oder Näherin spornten zu Leistungen an, welche der Schule einen gewissen Ruf verschafften, da sie dem vom vorigen Jahrhundert her überkommenen Losungswort der Gemeinnützigkeit Rechnung zu tragen schienen. Die Lern-Schule hatte, wie lange nicht alle Dorfschulen, eine untere und obere Stufe. Auf der unteren war noch die von England übernommene Lancastersche oder sog. wechselseitige Schuleinrichtung in Übung, nach welcher namentlich zum Buchstabieren und Lesen-Lehren die gereiftesten Schüler der oberen Stufe in die kleine Schule geschickt wurden. Unter der Leitung eines solchen umstanden kleinere Gruppen von Abc-Schützen die an den Wänden rund umher aufgehängten Lese-Tabellen; in dem Gewirr von Stimmen aller dieser Halbkreise suchte der einzelne möglichst das eigene Wort und das des jugendlichen Lehrers herauszuhören; der Lehrer selbst, ein Seminarist oder Präparand führte während dieser Übungen nur eine allgemeine Oberaufsicht. Geschrieben und gerechnet wurde nur noch auf Schiefertafeln.

Von den Persönlichkeiten unserer wechselnden Lehrer habe ich keine Erinnerung. Nur weiß ich noch sehr wohl, daß ich mich eines Tages nicht genug wundern konnte, warum doch wohl der eine derselben, welcher an eine andere Schule oder nach dem Seminar abging, bei seinem Abschied so gewaltig weinte. Es mögen wohl besondere Verhältnisse gewesen sein, welche ihm so reichliche Tränen entlockten.

Von dem Unterricht, der doch auch den kleinen Katechismus mit umfaßt haben wird, wüßte ich weder zu sagen, daß er mir eine Freude, noch daß er eine Last gewesen sei. Auch zu Liebe oder Haß für einen Lehrer habe ich es in der kleinen Schule nicht gebracht. Wohl aber fand ich großes Wohlgefallen an dem steten Verkehr mit den anderen Knaben und Mädchen und den herrlichen Spielen, die früh morgens vor dem Beginn, dann in den Pausen, besonders aber in der Mittagszeit teils in den Schulräumen, teils auf dem Spielplatze mit restlosem Eifer und von mir früh mit leidenschaftlicher Hitze und lebhaftem Ehrgeiz getrieben wurden. Die ferner wohnenden Schüler, wie alle vom Hofe Lensahn, blieben nämlich des Mittags da und verzehrten in der Schule ihr mitgebrachtes Essen, 3 oder 4 tüchtige Schnitten Schwarzbrot mit Wasser aus der Pumpe dazu. Regen, Frost oder Schnee kümmerten uns wenig; Kleider und Stiefeln oder Schuhe und Strümpfe hatten nach Kräften auf dem Leibe wieder zu trocknen. Im Winter mußte bereits im Dunkeln, um 7 Uhr, ausgerückt werden. Denn die etwa halbstündige Entfernung wurde bei der Art, in welcher eine kleine oder größere Gesellschaft fröhlicher Kinder das Spiel mit jeder Arbeit und Leistung zu verbinden pflegt, in nicht viel weniger als einer vollen Stunde zurückgelegt. Schöner bei weitem als der Hingang, der doch hin und wieder durch ein böses Gewissen oder Vorgefühl getrübt wurde, war die Heimkehr. Wenn die sinkende Sonne die Nähe des Schulschlusses andeutete, im Winter ihre letzten Strahlen durch die Bäume des Spielplatzes in die Fenster drangen und die ganze Schule sich dann zum Gesange anschickte und zum Abendgebet anhob, wie feierlich kamen mir oft diese Augenblicke vor! Ich bin aber ziemlich sicher, daß durch meine Gedanken die Lust des Feierabends, die auf dem Heimwege zu unternehmenden Spiele, Späße und Scherze, das leckere und über alle Begriffe späterer Jahre wohlschmeckende Vesper-Brot, das uns erwartete, die schönen Freistunden in Stall oder Garten und Feld, im Sommer das Bad, im Winter das Eis mit all der wohl bekannten Lust und Freude einer gesunden Jugend, - daß durch meine Andacht, sage ich, alle diese Bilder dicht bevorstehender Freuden in buntem Zuge auch mit hindurchzogen.

Mein Übergang in die "große Schule", obwohl er sonst ein Ereignis war, ist mir nicht mehr erinnerlich. Wohl aber hat sich das Bild des Lehrers, der hier unterrichtete, recht tief eingeprägt. Der Organist Grundmann, kein ungeschickter Lehrer nach den Anforderungen damaliger Zeit, war einer von jenen Trinkern, die doch immer auf den Füßen zu bleiben und einigermaßen die Fähigkeit zur Fortführung ihres Amtes zu retten wissen. Nur an seiner bösen Laune, die er am meisten an den Kindern solcher Eltern ausließ, welche ihm mißfielen oder irgend einen Verdruß bereitet haben mochten, merkten wir, daß er zu viel getrunken hatte. Unglaublich aber, wie er dann die Gefühle der unschuldig leidenden Kinder durch übel versteckte Anspielungen und verächtliche Äußerungen gegen ihre Eltern zu verletzen sich nicht schämte. Gewöhnlich machte erst eine Tränenflut der wehrlosen und allzu geduldigen oder zu dem rechten Worte zu ungeschickten und zaghaften Opfer solchen ungerechten seelischen Züchtigungen ein Ende. Wo er einmal auf Widerspruch und kecke Verteidigung stieß, nahm er sich sichtlich später in Acht, und die wenigen fuhren bei ihm am besten, die ihm am dreistesten entgegentraten. Meine Schwester und mich hat er wiederholt in der angegebenen feigen Weise entgelten lassen, was mein Vater vielleicht gegen ihn versehen haben mochte. Wiederholt stieg in mir Schmerz und Entrüstung bis zu einer Höhe, daß ich nahe vor einem Ausbruch stand; gewagt aber, meinen Gefühlen Luft zu machen, hab' ich törichter Weise nie, wenn ich auch das Unrecht noch so schwer und klar empfand und durchschaute. Dabei konnte er zu anderen Zeiten ungemein weich sein, und oft genug beim Vorlesen schöner Stellen aus geistlichen oder weltlichen Liedern, beim Vortrag biblischer Geschichten habe ich ihn Tränen vergießen sehen. Rühmen muß ich auch seine große Uneigennützigkeit. Die Privat-Stunden in der Musik z.B., die man zu nehmen pflegte, und auch ich nahm, obwohl ich musikalisches Gehör und Begabung durchaus nicht hatte, ließ er sich nur von Zeit zu Zeit mit einem alten Käse, einem Geschenk von der großen Schlachterei und ähnlichen Naturalien bezahlen, deren geringen Geldwert mein Vater kaum merkte. Obendrein behielt er mich, als ich später die beiden wöchentlichen Musikstunden am Mittwoch- und Sonnabend-Nachmittag hatte, ohne jede Vergütung zum Mittagstisch, da er nach dem Vormittags-Unterricht erst essen und nach dem Essen auch schlummern mußte. Ich mußte so diese Stunden, die Jahre lang durch die Schelte, die es bei meinem Ungeschick gab, als eine wahre Qual auf mir gelastet haben, mit einem ganz unverhältnismäßigen Aufwand an Zeit und einer empfindlichen Trübung meiner Jugendfreude erkaufen.

Der Unterricht wurde auch in der großen Schule mit Lied und Gebet eröffnet. Dann folgte die Religionsstunde. Mittwoch und Sonnabend waren Aufsage-Tage aus dem kleinen und großen Katechismus, dem Gesangbuche und der Bibel. Auswendiglernen wurde mir nicht schwer; daher hatten diese sonst gefürchteten Stunden für mich nichts Schreckliches. Die vier übrigen Religionsstunden waren der biblischen Geschichte und wohl auch der Erklärung der Katechismen gewidmet. Daß die Religionsstunden einen erbaulichen Charakter angenommen oder mich je innerlich erfaßt hätten, erinnere ich nicht. Auch von der Methode der übrigen Unterrichtsfächer weiß ich wenig. Geschrieben wurde in das Schönschreibebuch nach Vorschriften, die man sich aussuchte und mit denen man die Seiten in den nötigen Wiederholungen füllte. Gerechnet wurde aus zwei Lehrbüchern, dem Valentin Heins und für die Vorgeschrittneren aus dem Kroymann. Die berechneten und richtig befundenen Exempel wurden in ein gebundenes, dickes Heft eingetragen. Das Kopfrechnen wurde namentlich im Winter in den schon dunklen Abendstunden viel und mit Vorliebe geübt, war auch wegen des damit verbundenen Wettbewerbes den meisten willkommen. Noch lieber waren uns die Fragestunden: jeder hatte seinem Nachbar eine Frage zu beantworten und vorzulegen aus irgendeinem Gebiete des Unterrichtes, am meisten natürlich aus der biblischen Geschichte. Eine richtige Lösung der gegnerischen, ein Verstummen auf die eigene Frage bereiteten große Genugtuung. Lesen mit einigermaßen richtiger Betonung nach Komma, Kolon und Punkten wurde auch in der großen Schule noch viel geübt. Von anderen Gegenständen, die heute in der Dorfschule einen breiten Raum einnehmen, war damals keine Rede; Physik, Naturgeschichte, Welt- oder vaterländische Geschichte, Geographie oder Landeskunde gab es nicht. Als ich von meinem Onkel Ohrt den großen Cannabich[20] geschenkt erhalten hatte und hoch beglückt mit dem Buche zu Grundmann kam, ob er mich nicht darin unterrichten wolle und was der Unterricht kosten werde, entließ er mich mit der Antwort, er wolle sich das Buch ansehen und die Sache überlegen. Dabei blieb es, und ich fing an, auf eigene Hand dann das dicke Buch auswendig zu lernen, blieb aber schon auf der zweiten Seite stecken. Als Nachschlage-Buch hat es mir in meinem ganzen späteren Leben immer die besten Dienste getan. Daß wir Deutsche und Schleswig-Holsteiner wären, wurde uns nicht gesagt; daß wir zu Dänemark gehörten, lehrten uns Lieder, die wir singen mußten und auch ohne Anstand oder Bedenken sangen und uns aneigneten. Der Vers aus einem derselben hatte sich mir unvergeßlich eingeprägt, als ich ihn bei meinen Studien für Lornsen wieder auffand. Doch kann ich nicht sagen, daß die Schule auf Erzeugung dänischer Gesinnung einen Wert gesetzt oder Erfolg damit gehabt hätte. Wir hatten eben von einem nationalen Bewußtsein und von dem Gegensatz zu anderen Nationalitäten keine Vorstellung. Die großen Städte Hamburg und Amsterdam waren uns durch Hörensagen ziemlich bekannt als große und reiche Handelsplätze und Stätten großer Wunderwerke; Amsterdam teils durch den viel gebrauchten Tabak no. 1: Petum optimum subter solem[21], den beste tabac onder de zon, die auf dem beigegebenen Bilde über einer Neger-Landschaft ins Meer sank, teils durch die uralten Beziehungen, in denen unsere Halbinsel zu allen Zeiten mit dem ganzen friesischen Küstensaum gestanden hat. Als ich später selbst die große Wunderstadt mit eigenen Augen sah, glaubte ich in der Heimat, in Hamburg zu sein. Auch in den Kinderreimen spielte Amsterdam eine Rolle[22], während London, Paris oder gar Berlin und Wien nie in unseren Gesichtskreis traten.

Die deutsche Dichtung blieb für uns ein völlig verschlossener Schatz; nur war es Sitte, einige weltliche Lieder von Gellert, Pfeffel, Gleim u.a. in ein eigenes Liederbuch zu schreiben; von Schiller's oder Uhland's Balladen, von Arndt's oder Körner's Kriegsliedern - von den schillerschen oder anderen Dramen garnicht zu reden - ist uns in der Schule auch nicht eine Silbe bekannt geworden. Dagegen wurde es für notwendig gehalten, in einem gebundenen, alphabetisch geordneten dünnen Hefte alle gangbaren und nicht gangbaren Fremdwörter mit ihren Erklärungen aufzunehmen und nach Kräften sich anzueignen. Auswahl und Umfang war ganz in das eigene Belieben gestellt. In dem sich füllenden Wörterbuch glaubte man aber einen nicht verächtlichen Schatz zu besitzen.

Eine solche Schule konnte keine Anregung geben, keine Entwicklung der schlummernden Geisteskräfte, Gefühls- und Willensrichtungen erzeugen. Dennoch würde auch ich, wie meine Geschwister, wohl ruhig in ihr meine schulpflichtigen Jahre zugebracht haben, wenn nicht durch eine glückliche Fügung ganz unerwartet meinem Bildungsgange und meinem ganzen Leben eine Wendung gegeben wäre, die ich aus mehr als einem Grunde nie aufhören werde, dankbar zu segnen.

Um Ostern 1835 kehrte nach bestandenem Examen der Candidat der Theologie Joachim Andreas Reimers aus Oldenburg in das Haus seiner Eltern zurück. Das waren sein Stiefvater, der Gastwirt und Höker[23] Christian Ludwig Reimers in Lensahn, und dessen Frau, Joachim's rechte Mutter, verwitwete Reimers, eine kluge und willensstarke, das Haus regierende Frau, die ihrerseits bei ihrem zweiten, sehr wohl gestellten Manne vier Stiefkinder vorfand, 3 Töchter und einen Sohn Ludwig. Da die Zahl der Pfarramts-Candidaten damals groß und eine Wartezeit von 8-10 Jahren etwas gewöhnliches war, so pflegten dieselben sich als Hauslehrer zu beschäftigen oder durchzubringen. Es wurde nun bald bekannt, daß der junge Candidat, der in dem damals noch ziemlich stillen Lensahn eine Aufsehen machende Erscheinung war und zu dem ich mit der allertiefsten Ehrfurcht als einem Wunder von Gelehrsamkeit hinaufschaute, beschlossen habe, im elterlichen Hause mit der Absicht zu bleiben, seinen Halbbruder Ludwig, meinen Alters- und Schulgenossen zu unterrichten, auch einige andere Knaben, wenn sich deren fänden, an dem Unterricht teilnehmen zu lassen. Ich hörte bald mit Neid und Aufregung, daß der Unterricht schon begonnen, daß auch der älteste Sohn Grundmann's, der Lehrer zu werden gedachte und, einige Jahre älter als wir, der väterlichen Schule völlig entwachsen war, eingetreten sei, daß außer Geschichte, Geographie, Physik und anderen für uns bisher ganz unbekannten und verheißungsvollen Dingen, auch Latein, die Sprache der Gelehrten, gelehrt wurde. Mein Herz geriet in die größte Bewegung. Ich hatte den brennendsten Wunsch, an dem Unterricht teilzunehmen; denn so oft mir ein unbekannter Name aus der Geschichte oder ein mir unbekanntes Wort von weittragendem Inhalt vorkam, fühlte ich ein unnennbares Verlangen, in diese mir ganz verschlossene Welt des Wissens, die ich nur noch ahnte, einzudringen und wußte doch die Personen oder Mittel nicht zu finden oder auch nur zu benennen, welche mich hätten einführen können. Jetzt war offenbar, obwohl ich von der Bedeutung der lateinischen Sprache nichts weiter als eine dunkle Ahnung hatte, die Gelegenheit, den ersten Schritt zu tun. Aber, wie sollte ich es machen? Meinen Vater geradezu bitten, mich in diese neue Privatschule zu schicken, wagte ich nicht, dazu hielt ich ihn für viel zu arm und unsere ganze Stellung für viel zu unsicher und niedrig.

Ein Wort über sie und ihre Einwirkung auf mein Gemütsleben wird vielleicht gerade an dieser Stelle an seinem Platze sein. Denn teils sind Euch die Verhältnisse eines ostholsteinischen Gutes überhaupt unbekannt, teils sind die heutigen Verhältnisse doch auch noch von denen der 30-ger Jahre dieses Jahrhunderts nicht unerheblich verschieden.

Auf diesen großen Gütern nämlich wirkte doch der alte Geist und Sinn der Leibeigenschaft, obwohl sie seit 1805 rechtlich zu bestehen aufgehört hatte, noch immer fort; es lebte sogar im Dorfe Lensahn noch wenigstens einer, der alte Liman, der selbst Leibeigener gewesen war. Die Leibeigenschaft machte die Bauern in den zugehörigen Dörfern, die Tagelöhner ebendaselbst, teils Land- teils Haus-Insten[24], je nachdem sie mit Land zum Halten einer Kuh oder nur mit einer Wohnung ausgestattet waren, die sog. Bau-Knechte[25], auf dem Hofe, welche die zur Bebauung der Hof-Ländereien nötigen Gespanne zu führen und zu besorgen hatten, zu dem lebendigen Inventar des Gutes, ebenso untrennbar damit verbunden wie die Pferde und Kühe, die Wagen und Pflüge. Der Gutsherr, ausgerüstet mit gewissen Hoheitsrechten, Justiz- und Polizei-Gewalt, hatte zu seinen "Untertanen" auf diesem altslawischen Boden[26] geradezu die Stellung eines kleinen Fürsten. Er wurde durch seinen Verwalter, seinen Schreiber, seinen Feld- und Scheun-Vogt[27] den Leuten gegenüber vertreten. Die Gerechtigkeitspflege übte in seinem Namen ein Gerichtshalter, die Polizei ein Landreuter[28]. War der Gutsherr, wie auf Lensahn, dauernd abwesend, so war der Verwalter mit der ganzen Machtfülle des Gutsherrn ausgerüstet und stellte in dem betreffenden Kreise die gebietende und alles entscheidende Persönlichkeit dar. Wenn nun auch die Leibeigenschaft, wie gesagt, mit dem 1. Januar 1805 rechtlich zu bestehen aufgehört hatte, die Untertanen nicht mehr rechtlich an die Scholle, auf der sie geboren, gebunden waren, tatsächlich fesselte sie schon die Sorge um das tägliche Brot an das Gut, von dem sie entweder die Hufe gepachtet, die Kate mit Garten und Land angewiesen erhalten und Jahr aus, Jahr ein außer gewissen Zuwendungen, wie des freien Arztes, Apothekers, Schullehrers, Arbeit und Tagelohn hatten. So dauerte denn auch die Abhängigkeit von dem Gutsherrn oder seinem Stellvertreter fort; den Untertanen saß sie einmal im Blute, für den Gutsherrn lag sie in seinem Interesse.

Eine vereinzelte Stellung hatte nun auf solchem Gute, wenn die Milchwirtschaft nicht von dem Herrn, durch einen Haushalter unmittelbar selbst betrieben wurde, der Holländer. Der hatte die Kühe von dem Herrn oder seinem Bevollmächtigten, dem Verwalter, unter Umständen, wenn das Gut als Ganzes verpachtet war, von dem Pächter, allemal nur auf ein Jahr gepachtet für eine Summe, die nach der Zahl der gehaltenen Kühe berechnet wurde. Die Kuh kostete in jener Zeit der niedrigen Preise aller ländlicher Erzeugnisse, namentlich aber der Fettwaren, 13, 14 bis 16 alte Courant-Thaler oder 39-48 alte Courant-Mark, nach jetziger Münze also etwa 50-60 Mark. Die Fütterung, Pflege und Hut hatte die Herrschaft zu leisten, außerdem die Meierei, die Wirtschaftsgebäude, die Feuerung und das nötige Futter für seine Pferde dem Holländer zu liefern. Da nun die Herrschaft meist geneigt war, vom Futter zumal im Winter zu knappen und vor allen Dingen kein Korn, nur Heu und Stroh herzugeben, so war es eine gewöhnliche Erscheinung im Winter, daß die Kühe geradezu hungerten und ein bedeutender Teil derselben durch Mangel an nahrhaftem Futter soweit herunterkam, daß sie nicht mehr stehen konnten und zur Einnahme von Futter und Wasser gehoben, einige auch in Gurten und Stricken hangen mußten. Diese Mißhandlung der Tiere, auch der eigenen, galt damals für eine richtige Wirtschaftsweise. Natürlich gaben so entkräftete Kühe keine Milch und Butter, lieferten also die Ware nicht, welche dem Pächter nötig war, um die 15 *[29] herauszubringen. Die Folge war, daß er nicht selten, statt einen kleinen Gewinn zu erzielen, von dem Eigenen zusetzen mußte und keinen Augenblick sicher sein konnte, ob er die Pacht des folgenden Jahres auch wieder zu übernehmen wagen dürfe. Andererseits war es aber auch jedes Frühjahr zweifelhaft, ob der Herr geneigt sein würde, ihm die Kühe zu demselben oder zu ermäßigtem Preise oder überhaupt wieder zu überlassen. Denn er brauchte, ohne irgend einen Grund angeben zu dürfen, nur zu sagen: ich gebe Ihnen die Kühe nicht wieder, und der Holländer mußte ziehen.

Auf Lensahn kam nun hinzu, daß der Verwalter, Stuckenberg, zwar ein sehr tüchtiger und in der ganzen Gegend gewissermaßen berühmter Landwirt, auch nicht geradezu ein böswilliger Herr war, aber, geboren, wie man wissen wollte, aus fürstlichem Blute und auferzogen in den Überlieferungen der Feudalzeit, so geeignet wie geneigt war, das ganze herrschaftliche Ansehen den "Untertanen" gegenüber geltend zu machen. Er verwaltete drei herzogliche Güter: den Meierhof Nienrade, wo er auch wohnte, den Haupthof Lensahn, wo zwar ein Herrenhaus, aber keine Pächter- oder Verwalter-Wohnung war und das Allode[30] Manhagen mit allen dazu gehörigen Dörfern und Bauerschaften. Er war eine stattliche Persönlichkeit und ausgezeichnete. Seine Anwesenheit auf dem von einem Schreiber verwalteten Lensahn war ein Ereignis. Wenn er auf seinem kräftigen und blanken Braunen auf dem Nienrader Wege dahergesprengt kam, dann zitterte alles, es möchte irgendetwas nicht recht befunden werden. Denn er hatte ein scharfes Auge und ein gewaltiges Wort. Namentlich auch wir Kinder fürchteten ihn und vermieden seine Begegnung. Meinen Vater habe ich zwar nie gegen ihn kriechen sehen, auch kaum jemals schlecht behandelt gesehen; er wurde auch mit Sie, nicht wie Bauern und Tagelöhner mit Er oder Du angeredet. Nichts destoweniger war er sich stets der völligen Abhängigkeit von seinem Belieben und seiner Launen klar bewußt, und die mancherlei Mißlichkeiten seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung konnte er nicht wohl anders als schwer empfinden. Am drückendsten fühlte er die Unsicherheit und Bedarftheit seiner äußeren Lage, und zu meinen schwersten Kindheitserinnerungen gehört es, daß er namentlich gegen Besuchende, Verwandte oder Freunde, seinen Besorgnissen den offensten und stärksten Ausdruck zu geben pflegte, ohne je eine Ahnung davon zu haben, wie schwer er mit jedem solchen Worte: wenn wir erst in der Kate sitzen..., wer weiß, wie bald wir in der Kate sitzen..., nächstes Jahr sitzen wir wohl in der Kate u.a., das Herz seiner Kinder und zumal seines jüngsten bedrückte, der das Bild der Kate nicht wieder loswerden konnte und jeden Augenblick den Bankbruch seiner Familie voraussah. Auch unter der mißlichen gesellschaftlichen Stellung meines Vaters habe ich früh und viel gelitten; wir gehörten nicht schlechtweg zu den Gutsbauern, wollten es auch nicht eben, standen und stellten uns vielmehr mit dem wohlhabenden Gastwirt, mit dem Müller, mit dem Organisten oder Förster u.a. gleich. Mein Vater verdankte es sogar seinen persönlichen Eigenschaften, seinem Rufe als tüchtiger Wirt, hervorragender Züchter, Kenner und Bändiger von Pferden, meisterhafter Fuhrmann, seiner Geradheit und zweifellosen Rechtlichkeit, auch einer gewissen Gewöhnung, mit Herrn zu verkehren, endlich dem L'hombre[31] und Whist-Spiel, daß er für seine Person in dem Hause des Oberförsters, des Pastors, besonders auch unseres nahen Nachbars, des Gutsbesitzers Schwerdtfeger von Wahrendorf, bei dessen ganzer Familie er von Seegalendorf her gut angeschrieben war, fast wie ein Gleicher unter Gleichen verkehrte. Bei dem Pächter von Güldenstein, Heise, einem Vetter unseres Onkels Heise, wurde auch die ganze Familie, Frau und Kinder, zu den großen Festen und Gesellschaften mit eingeladen. Alles dies half aber über die Tatsache, daß wir eben nur Holländer waren, nicht hinweg. Die ganze Meiereiwirtschaft mit den vielen rohen und wilden Mädchen und Knechten, den schweren und zum Teil schmutzigen Arbeiten schien kein sehr sauberes Geschäft, und gerade diese Seite ließ sich die ganze Schulgenossenschaft, wenn sie verletzen und necken wollte, besonders angelegen sein, durch Worte wie "Käsbieter" und "Käsknieper"[32] gegen mich hervorzukehren. Mehr noch durch das letztere als durch das erste konnte ich zur höchsten Wut entflammt werden, und mehr als einer hat sie mit kräftigen Schlägen und Stößen meiner kräftigen Arme heimgezahlt gekriegt.

Diese ganzen Verhältnisse unserer Familie und unseres Hauses, die Härte und Zornmütigkeit des Vaters, die Unsicherheit unseres Daseins, die Gedrücktheit unserer gesellschaftlichen Stellung wirkten nun mit einer von der Mutter ererbten Scheu und Sorgesucht zusammen, um in mir, seit ich denken kann, eine Verschüchterung, ein Angstgefühl und eine Blödigkeit zu erzeugen, unter der ich mein ganzes Leben hindurch, am meisten in meiner Kindheit und Jugend, bis in mein Mannesalter hinein schwer gelitten habe. Das Erscheinen vor fremden Leuten, das Sprechen mit ihnen war mir eine Qual; laut wurde ich nur gezwungen; von Erzählen, Unterhaltung, offenem Herausgehen, unbefangener Selbst-Darstellung war keine Rede; und so sehr ich unbefangene Knaben meines Alters wie z.B. die außerordentlich artigen und wohlerzogenen Söhne auf Güldenstein bewunderte und beneidete, so oft ich wegen meines unbegreiflichen Verstummens und Versteckens zur Rede gestellt und wohlmeinend ermahnt oder verlacht und verhöhnt wurde, es half alles nichts. Auch in der Schule, auf dem Gymnasium noch bis in Prima hinein, selbst als Student konnte ich nicht entweder-oder frei vor der ganzen Klasse sprechen, ohne zu erröten, selbst dann oder vielmehr dann erst recht, wenn die Antwort richtig und gut war. Ich erinnere noch sehr deutlich, daß ich einst eine von unserem Direktor Jacob uns als ihm unlösbar gebliebene Frage bloß deshalb nicht beantwortete, weil mich die Scheu und Blödigkeit zurückhielt. Es handelte sich um eine Stelle aus Cicero: quo quotidie maximae convocationes oder contiones fiunt[33]; es blieb ihm unerklärlich, warum es nicht qua hieße. Ich fühlte schon damals mit meinem guten Sprachgefühl, wie ich jetzt beweisen kann, richtig heraus, daß der Verbalbegriff in contio oder convocatio das quo nötig mache, wagte es aber nicht zu sagen, da ich puterrot geworden wäre. So ist es mir öfter gegangen und ganz hat sich diese Blödigkeit bis auf den heutigen Tag nicht verloren, ein Beweis, wie tief sie sich festgesetzt hatte.

Wenn so Scheu und Ängstlichkeit, Entsagung und Schweigen mir im Blute lagen, durch Erziehung und häusliche Verhältnisse nur noch gefördert wurden, so ist es begreiflich, daß ich trotz meines glühenden Wunsches, des sich bietenden besseren und höheren Unterrichts teilhaft zu werden, ihn verlauten zu lassen nicht wagte. Es scheint aber, als wenn mein Vater, der selbst ein Bedürfnis hatte zu lesen und sich zu unterrichten, der regelmäßig seine Zeitung, der sogar das schon etwas höher greifende Kieler Correspondenzblatt las, der wohl auch bei einzelnen Gelegenheiten eine leichte Auffassung und ein glückliches Gedächtnis an mir bemerkt haben mochte, von selbst auf den Gedanken gekommen oder von anderen mit Leichtigkeit gebracht ist, die Gelegenheit nicht unbenutzt zu lassen. Wie dem sei, ich wurde zu meiner unaussprechlichen Freude des hochgelehrten Candidaten Schüler und trat mit Ehrfurcht und hoher Erwartung in die geheimnisvolle neue Welt, die sich nun mir öffnete und voll der größten Schätze sein zu müssen schien. Mit brennendem Eifer merkte ich auf und ergriff und verarbeitete ich das Vorgetragene. Für fremde Sprachen, namentlich auch das Latein, bekundete ich bald eine entschiedene Begabung, sodaß ich darin selbst den viel älteren und sonst viel gereifteren Reinhard Grundmann aus dem Felde schlug, mein anderer Mitschüler Ludwig Reimers aber nur mit Mühe einigermaßen Schritt halten konnte. Deklination und Conjugation an den Paradigmen der damals gangbarsten Grammatik von Bröder habe ich auswendig gelernt und eingeübt. Eine hohe Genugtuung war es, als ich zum ersten Mal aus den zusammenhängenden Lesestücken im Anhang der Grammatik ihr Geheimnis zu entreißen vermochte. Das Französische, in dem der Candidat selbst nicht ganz fest war, machte mir weniger Freude, erschien mir auch wegen seiner viel mehr verschlissenen Formen nicht so einfach und durchsichtig wie das Lateinische. Im Deutschen wurde die grammatische Sicherheit durch die bekannten Vorlageblätter mit absichtlich fehlerhaftem Inhalt eingeübt, deren Abschriften gegenseitig von den Schülern nachgesehen wurden. Die Zahl der angestrichenen Fehler richtete sich einigermaßen nach dem mehr oder weniger ungetrübten Verhältnis, das gerade zwischen den Schulgenossen herrschte. Die Aufsätze wurden mir nicht schwer; da ich zu Hause gleich meiner Schwester sehr viel gelesen habe und fortwährend las, nicht immer das Beste und Geeignete, sondern meist die umlaufenden Journale, auch Romane und Novellen ohne Aufsicht und Verbot, so hatte ich ohne weiteres Studium von selbst eine gewisse Leichtigkeit des Ausdrucks gewonnen, die mir bei dieser Aufgabe sehr zu Statten kam. Die Geschichte von Gumal und Lina[34], die uns neben den Reisen der Familie Gutmann[35] vorgelesen wurde, habe ich freiwillig zu Hause nacherzählt und niedergeschrieben. Von der Entdeckung von Amerika[36] schrieb ich ganz auf eigene Hand eine Darstellung in ein eingebundenes, noch vorhandenes Heft. Wenig Freude machte mir der Vortrag auswendig gelernter Gedichte. Zumal der Forderung des Lehrers, den Vortrag auch mit Handbewegungen zu begleiten, konnte ich mich trotz aller Ehrfurcht und Folgsamkeit, trotz aller sonstigen Scheu und Blödigkeit, ihm Ursache zur Unzufriedenheit zu geben, nicht überwinden. Es kam schließlich zu einem peinlichen Auftritt, bei dem ich aber doch immer in einem richtigen Gefühle ohne Selbstvorwürfe blieb. Als ich wieder einmal dastand in der kleinen Stube und, wie gewöhnlich, die Arme am Körper herunterhängen ließ, ward er unwillig und forderte mit gebieterischer Entschiedenheit, ich solle gestikulieren. Auch jetzt war es mir in jedem Sinne des Wortes undenkbar und unmöglich; ich stand wie eine Statue. Da fuhr er in höchstem Unwillen vom Sofa auf, schleuderte das Buch, in dem er das Gedicht nachlas, mir vor die Füße auf den Fußboden, daß es klatschte und stürzte zur Türe hinaus. Wann und wie er wiederkam, ob der Unterricht an dem Tage vorbei war, ist mir nicht mehr erinnerlich; nur weiß ich, daß von Gestikulieren später nicht wieder die Rede war. Er mochte selbst die Unnatürlichkeit der Forderung eingesehen haben. Das Gute hatten jedoch diese Übungen, daß ich einen reichen Schatz der schönsten, meist schiller'schen Balladen mir für die Dauer aneignete. Auch die "Glocke" wußte ich von Anfang bis zu Ende mit voller Sicherheit auswendig und sagte sie mit Leichtigkeit, mit sicherer Betonung und warmen innerem Anteil und Verständnis her. Noch als ich später Soldat war, vermochte ich so ziemlich das ganze lange Gedicht wieder zusammenzubringen, und manche langweilige Stunde auf Posten, namentlich bei Nacht, habe ich mir durch Hersagen und Wiedererinnern gerade dieses mir besonders lieben Gedichtes in angenehmer und anregender Weise gekürzt.

Um diese Zeit, vielleicht schon früher, wird es auch gewesen sein, wo ich aus dem, ich weiß nicht wie, in meine Hände gelangten Leipziger Liederbuche für den deutschen Studenten[37] die besten Lieder der patriotischen Lyrik der Freiheitskriege kennen lernte. Arndt's, Körner's, Max von Schenkendorff's vaterländische Gesänge las, lernte, sang und deklamierte ich mit hochgehobenem Herzen; vor Begierde brannte ich von Blücher, Scharnhorst, Körner u.a., von den Befreiungskriegen und der ganzen neueren deutschen Geschichte näheres zu erfahren. Ferdinand von Schill, den "tapferen Helden"[38] wußte ich gegen einen unserer Tagelöhner, Frank, gewöhnlich nur der Hufer genannt, der unter Ewald den Zug gegen Stralsund mitgemacht und natürlich ganz die französische Auffassung zurückgebracht hatte, tapfer, wenn auch ohne Erfolg zu verteidigen. Er beharrte darauf, ihn einen Räuberhauptmann und Rebellen zu schelten und, da er, wie nicht selten, ziemlich angetrunken war, - auf Veranlassung des Erntebieres[39], bei dem der Vorgang statthatte, - so entkam ich wegen meines kecken Widerspruches nur mit genauer Not seinen Scheltworten und Handgreiflichkeiten. Von der Zeit an hatte das deutsche Lied, das wieder einmal an einem bescheidenen und verborgenen Beispiel seine werbende Kraft entfaltete, mich zu dem klarsten und lebhaftesten Bewußtsein meines deutschen Volkstums zurückgeführt; eine neue Welt hatte sich mir erschlossen, in die ich mit Eifer weiter einzudringen suchte; mit Begeisterung las ich, wenn ich des Morgens auf dem Unterrichtszimmer noch allein war, verstohlen die kurze Darstellung der Schlachten von 1813-15 von Kohlrausch[40], die ich in der Bibliothek meines Candidaten herausfand. Es waren bleibende und nachhaltige Eindrücke, die ich so in aller Stille und geführt vom Zufall in mich aufnahm.

Denn unser Candidat Reimers war offenbar, obwohl seine Studien doch in die national und politisch bewegten ersten dreißiger Jahre des Jahrhunderts fielen, doch nach dieser Seite seines inneren Lebens, vielleicht infolge seines sehr ernst gefaßten und betriebenen Studiums der Theologie und geistlichen Berufes, völlig unentwickelt und ungeweckt geblieben. Nie erinnere ich von ihm ein Wort deutscher Vaterlandsliebe oder staatsbürgerlichen Gesinnung gehört zu haben. Auch der geographische und der geschichtliche Unterricht bevorzugte Deutschland in keiner Weise; selbst von der ihm als Theologen doch so naheliegenden deutschen Reformation, von dem großen Welterneuerer Luther erinnere ich nie auch nur je ein wärmeres und beredteres Wort oder eine ausführlichere und zusammenhängende Darstellung gehört zu haben. Er selbst wird wohl auf diesem ganzen, von der Schule und auf der Universität Kiel gänzlich vernachlässigten Felde auch nicht zu Hause gewesen sein. In der Physik, die unter den Lehrgegenständen nicht fehlte, die übrigens auch einen Gegenstand der theologischen Haupt-Prüfung bildete, mag er seinen Schülern auch nur um eine Stunde voraus gewesen sein.

Den größten Wert legte er aber auf den Unterricht in der Religion. Er war ein streng gläubiger Christ von Harmsischer Richtung und pries sein Geschick, das ihn zu einem Verkünder der christlichen Heilslehre berufen habe, gelegentlich mit Begeisterung und Beredsamkeit, an der es ihm nicht fehlte. Jede erste Morgenstunde war der Religion gewidmet. Die Wärme, womit er uns vor allem die Person des Mittlers und Versöhners vorzuführen wußte, konnte ihre Wirkung auf unsere kindlichen Gemüter unmöglich verfehlen, und als ich später seine Schule verließ, um in Lübeck eingesegnet zu werden, brachte ich bereits ein gutes Verständnis der Heiligen Geschichte und der christlichen Heilslehre sowie eine feste und einfältige Überzeugung von der zweifellosen Wahrheit des lutherischen Bekenntnisses mit.

Den tiefsten und bleibendsten Eindruck machte auf mich seine Behandlung des sechsten Gebotes, das, soweit ich beobachten konnte, meist mit einer übel angebrachten Scheu vor dem Hinwegziehen des Schleiers besprochen zu werden scheint, den teils eine natürliche, gesunde und berechtigte, teils aber auch eine falsche und übel angebrachte Scham über alle diese Fragen gebreitet hält. Meist sind die Kinder, und auf dem Lande mehr noch als in der Stadt, über diese Dinge durch den garnicht abzusperrenden Verkehr mit den Dienstboten besser unterrichtet, als man denkt, meist wenigstens die Phantasie von den geschlechtlichen Verhältnissen früh erfüllt und vergiftet, unzüchtige Gedanken und Reden etwas gewöhnliches und weit verbreitetes unter den Schulkindern. Diese Tatsachen waren unserem Lehrer wohl nicht verborgen geblieben; er erkannte die ganze Gefahr solcher Gewöhnungen und hatte offenbar den wohlüberlegten Entschluß gefaßt, uns einmal mit heiligem Ernste und nackter Offenheit über die furchtbaren Folgen der Unkeuschheit für das ganze Leben des Menschen die Augen zu öffnen. Er sprach mit tiefster eigener Bewegung, mit größter Wärme und Beredsamkeit, mit rücksichtslosem Eingehen auf das Einzelne, mit gerader Nennung der rechten Namen. Tief ergriffen, in feierlichem Schweigen hörten wir ihm zu. So hatten wir über diese Dinge noch nicht reden gehört. Ich kann von mir selbst sagen, war aufs tiefste erschüttert und nicht bloß für die flüchtige Stunde. Bis über das Grab hinaus bin ich ihm dankbar geblieben.

Meine geliebte Frau hab' ich oft erzählen hören, wie die letzten Stunden der Konfirmanden bei ihrem hoch verehrten Vater den gleichen Darlegungen und Ermahnungen gewidmet gewesen sind, wie auch er mit dem heiligsten Ernst und rücksichtslosester Offenheit den angehenden Jünglingen und Jungfrauen die ganze Furchtbarkeit der Verfehlungen, zumal der kindlichen Verfehlungen gegen die Keuschheit ans Herz zu legen für eine seiner heiligsten Verpflichtungen als Seelsorger gehalten und geübt hat. Es könnte nur zum Segen ganzer Geschlechter gereichen, wenn dieser wichtige, ja entscheidende Punkt in allen Schulen so früh wie möglich von den Lehrern je nach ihren geistigen und sittlichen Kräften in gleicher Weise behandelt würde. Denn ahnungslos verfallen schon Kinder oft den Sünden, deren furchtbare Folgen sie meist erst kennen lernen, wenn es zu spät ist.

So hatte der Unterricht einige Jahre gedauert, und die Zeit meiner Einsegnung nahte heran. Die Frage, die schon lange erwogen war, welchen Beruf ich ergreifen sollte, verlangte allmählich eine Entscheidung. So große Freude ich am Landleben hatte, so gern ich mich in Wald und Feld tummelte, soviel Liebe ich auch namentlich zu jungen Tieren hatte, den zutunlichen und so vertraut und verständnisvoll plappernden Gänsen, die wir Gößeln nannten und deren Erscheinen zu den ersten Frühlingsbotschaften und Ostergefühlen gehörte, zu jungen Hunden und den drolligen, unfreiwillig komischen, weißen und zarten Ferkeln, weitaus vor allem aber zu den neugeborenen Füllen, bei denen ich Stunden lang im bloßen Anschauen zubringen konnte und deren fröhliches Springen nachher auf frischer Weide mein ganzes Entzücken war, so gern ich auch ritt und fuhr, so sehr alles dies auf den Landmannstand führen zu können schien: eine Lust oder Neigung, Landmann zu werden, habe ich zu keiner Zeit verspürt. Die Holländerei war mir vollends schrecklich. Andere Berufe lagen mir fern. Maler zu werden, schien mir lange Zeit schön, da ich mit einigem Talente und mit ganz besonderer Lust und Freude sowohl bei Reimers als auch noch in Sonderstunden bei einem der wechselnden Unterlehrer Delfi[41] aus Segeberg das Zeichnen betrieb. Da ich aber hörte, daß das eine brotlose Kunst sei, stand ich davon ab. Zum Studieren hatte ich die größte Lust, und nach dem Urteil meines Lehrers und anderer urteilsfähiger Bekannten des Hauses auch durchaus die Begabung. Mit welchem Neid und Interesse sah ich zu den Kieler Studenten empor, als zu Pfingsten ihrer eine ganze Schar nach dem lieblichen Güldensteiner Mühlenholz ganz in unserer Nähe einen Ausflug gemacht hatten und auch nach Lensahn in das Reimers'sche Gasthaus kamen. Was schienen sie mir alle für hohe Denkerstirnen, kluge Augen und schöne Gesichter zu haben! Welch ein seliges Los, Student zu sein! Und unsern zeitweiligen Revier-Jäger, den Sohn des später erst mir bekannt gewordenen Malers Tischbein, der aber mehr Naturforscher als Jäger war und mehr mit seinem Hammer als mit der Flinte erschien, der in Heidelberg studiert und von dort eine ganze Reihe der schönsten Pfeifenköpfe mitgebracht hatte, wie schloß ich ihn in mein Herz mit seinem bildschönen Gesicht, der gewölbten, anmutig geschwungenen, in der Mitte gespaltenen Stirn, seinen blauen milden Augen, seinem schwarzen Haar und Bart, dem feinen Mund und wohlgeformten Kinn, zumal da er bei seinen öfteren Besuchen in unserem Hause mich blöden und ungeschlachten Jungen anzureden und hervorzuziehen die Freundlichkeit hatte. Viele, viele Jahre später, die er in dem oldenburgischen Fürstentum Birkenfeld zugebracht hatte, habe ich ihn als Forstmeister in Eutin aufgesucht und wiedergesehen, um ihm noch meinen Dank auszusprechen für Wohltaten, von denen er nicht wußte; mit seinem feinen und kräftigen Kopf, dem langen hellgrauen Doppelbarte, den schönen Augen war er noch immer einer der idealsten Greise, die man sehen konnte.

So stand freilich mein ganzer Sinn nach der Universität. Da es aber immer hieß, das Studieren koste Summen, die nach Tausenden zählten, da immer so gesprochen wurde, als müßten sie gewissermaßen im voraus auf einem Brett hingezählt werden, niemand aber, soweit ich erinnere, auch auf die Erleichterungen hinwies, welche eigene Einschränkung und die doch recht zahlreichen Stipendien ermöglichten, so wies mein Vater diesen Gedanken als einen unmöglich auszuführenden zurück. Ich vermute, daß ihn auch die Furcht geleitet hat, sein Verwalter werde ihm, wenn er mit so kostenreichen Plänen hervortrete, sofort die Pachtung höher schrauben. Eigenes Bitten oder Drängen kannten wir nicht. Als ich einmal in dem leidenschaftlichen Wunsche nach einer Taschenuhr einen Brief zu schreiben gewagt hatte: "Lieber Vater! Sei so gut und schenke mir eine wohlfeile Uhr zu 1 *"[42], war mit der ungnädigen Bemerkung, das wäre ja eine sehr unverständige Bitte gewesen, die Sache ein für alle Mal abgemacht. Entsagung galt als Notwendigkeit, und die Notwendigkeit ist sanft.

So hatte ich mich auch schon getrost und völlig darein ergeben, Schullehrer zu werden und demnächst auf das Seminar zu gehen. Etwas von der Wissenschaft kostete ich ja auch so.

Dennoch kam es anders und, wie ich noch jetzt mit dankbarem Herzen sagen muß, besser und glücklicher, als ich zu hoffen oder zu bitten gewagt hatte: Quando quisque sibi plura negaverit, a dis plura feret[43]. Die Zureden seiner Bekannten und Freunde, namentlich, vermute ich, des damaligen Schreibers auf Lensahn, Struve, eines Verwandten von Verwalter Stuckenberg, der damals bei meinem Vater sehr viel Vertrauen genoß und von meiner Begabung auch vor meinen Ohren mehr Aufhebens machte, als begründet und gut war, wahrscheinlich auch über die schlimmen Folgen beruhigt hat, die möglicher Weise von Nienrade drohen könnten, diese Zureden und wohl auch genauere Erkundigungen über den jährlichen Bedarf eines Gymnasiasten und Studenten, führten endlich, ohne daß ich um die einzelnen Verhandlungen weiter gewahr geworden bin, meinen Vater zu dem Entschluß, mich studieren zu lassen. Sofort wurde nun der Unterricht bei Reimers danach geändert und zugeschnitten, daß ich womöglich in die Tertia, wohin ich nach meinem Alter mindestens gehörte, Ostern 1839 aufgenommen werden könnte. Besonders wurde nun Griechisch angefangen, eine Sprache, die ich schon schwieriger fand als das Lateinische, die mich aber besonders wegen ihres außerordentlichen Wohllautes ungemein anzog. Ich erinnere, daß ich die Musik in dem Worte *********[44], sobald ich es zum ersten Male las, so lieblich fand, daß ich nicht müde wurde, sie mir durch lautes Vorsprechen immer zu wiederholen. Als Schule wurde die Lübecker ausgesucht, keine holsteinische, auch nicht die nahe Eutiner, teils wohl, weil Reimers seine Bildung dort erhalten hatte, teils weil sie - und nicht mit Unrecht -, eines ganz besonderen Rufes sich erfreute. Obwohl schon 15 und zu Ostern 1839 15½ Jahre alt, sollte ich doch erst 1840 auch in Lübeck konfirmiert werden. So war alles festgestellt. Der Winter wurde eifrigst benutzt. Ostern stand das große Ereignis bevor.

So sollte ich denn Abschied nehmen vom Elternhause, von meiner Heimat, in der ich das Jahrzehnt des erwachenden Bewußtseins verlebt und bei allem mannigfachem Druck und Herzenskummer doch so manche, manche Freuden in kindlicher Sorglosigkeit genossen hatte. Es ist die schöne Kunst der Kindheit, auch das augenblicklich bitterste Leid im fröhlichen Verkehr mit Genossen bei Spiel und Scherz auf Stunden, auf Tage gänzlich zu vergessen. Die Zeit, wo der Schmerz einen Umfang annimmt, ein Gewicht und eine Schwere erhält, daß er keinen Augenblick weicht, daß er Monate, Jahre lang ungeschwächt fortnagt, daß er überall ganz auf dieser Erde nicht erstirbt, kommt erst später. Das Gefühl der Gesundheit, der ich mich eigentlich ununterbrochen erfreute, die Empfindung täglich zunehmender Körperkraft kamen hinzu, um mich in jenen Jahren der Kindheit oft mit ausgelassenster Freude zu erfüllen. Leider riß mich meine leidenschaftliche Natur nur allzu oft zu Übertreibungen, Mutwillen und Ausschreitungen hin, die traurige Störungen, eigene und fremde Verletzungen und neues Herzeleid im Gefolge hatten. Keinen Vers hab' ich durch eigene traurige Erfahrungen mir früher und tiefer eingeprägt als die Lehre bei der Geschichte vom fröhlichen Lämmchen: "Die Freude, die man übertreibt, verwandelt sich in Schmerzen"[45]. Schlimm, daß die überzeugte Anerkennung dieser Wahrheit mir doch wenig genützt hat.

Eine Hauptquelle, die täglich neu sprudelte, war der vielfache Verkehr mit den Schul- und Altersgenossen, sei es mit der ganzen Schar der Schuljugend zu Gemeinschaftsspielen, sei es mit wenigen oder auch nur einem trauteren Freunde und Bekannten. Auf dem Spielplatze der Schule wechselten im Kreislauf des Jahres die Spiele mit unbewußter Regelmäßigkeit. Um die Osterzeit, wenn die Luft klarer und reiner zu werden begann, das Erdreich trocken und fest wurde, zwischen Kalt und Warm ein erwünschtes Mittel eintrat, fing das Ballspiel an, das eine große Anzahl von Knaben auf einmal beschäftigte. Zwei der besten Spieler traten zusammen; der eine warf dem andern einen Knittel zu, den der andere an einer beliebigen Stelle mit der Hand zu umfassen hatte. Dann legte der erste seine Hand an die des anderen um den Stock, und wer dann im weiteren Wechsel Hand um Hand das Ende des Stockes so faßte, daß er ihn noch mindestens über den Kopf zu schleudern vermochte, war "binnen" d.h. an der Spitze derjenigen Partei, welche zuerst den Ball zu schlagen hatte. Dann wählten sich beide Zug um Zug aus dem "Umstand", der corona, diejenigen aus, welche sie für die besten Spieler hielten. Die "binnen" waren, sammelten sich an dem Ende des Platzes um ihren Führer; die "draußen" waren, stellten einen, um dem Schlagenden den Ball "aufzugeben", die übrigen verteilten sich bis nach dem anderen Ende des Platzes, um entweder den in möglichst hohem Bogen und möglichst weit fortgeschnellten Ball, ehe er zur Erde fiel, zu fangen oder den von der Gegenpartei, der geschlagen hatte und nun den Lauf zu dem am entgegengesetzten Ende gesteckten Ziele hin und zurück zu machen hatte, ohne von dem Ball des Gegners in dem Zwischenraum zwischen außen und innen getroffen zu werden, mit dem aufgenommenen Ball zu treffen. Wenigstens soweit mußte er, wenn getroffen, dem Binnen-Male, das scharf bezeichnet war, nahe gekommen sein, daß er die Entfernung überspringen konnte. War der geschlagene Ball gefangen, so war das Spiel für die drinnen verloren, sie kamen nun ihrerseits nach außen. War der Laufende innerhalb der beiden Male vom Wurf der Gegner getroffen, so war es gleichfalls aus; es wäre denn, daß der Getroffene so geschickt und glücklich war, sofort einen der Gegner mit dem rasch ergriffenen Balle wieder zu treffen. Kraft und Übung zum möglichst weiten Fortschlagen des Balles, schnelle Beine und gute Lungen zum Laufen, Gewandtheit im Ausweichen vor dem Wurfe, Augenmaß und Geschick zum Fangen des Balles oder zum Treffen des Laufenden waren die erforderlichen Eigenschaften eines guten Spielers. Schlagen und Laufen konnte ich mit am besten; im Fangen und Werfen hatten einige eine besondere Begabung. Da Anstrengung und Erholung sich teilten und abwechselten, hielt die Lust am Spiele meist lange vor, es mußte denn sein, daß ein Zank, nach dem gebräuchlichen Kunstausdruck eine "Kretelei"[46], es endete. Ob einer den Ball wirklich "gekriegt" hatte, d.h. ob er wirklich am Körper getroffen oder vielleicht nur am Zeuge gestreift war, ob ein getroffener wirklich das noch entfernte Mal im Sprunge voll erreicht hatte oder nicht, waren häufig vorkommende Streitfragen, die nicht selten dem Spiel ein schroffes Ende bereiteten.

War die Zeit des Ballspieles zu Ende, so kam ein anderes Spiel als vorherrschendes an die Reihe. So namentlich das sog. "Duntzer"[47]. Ein einzelner mußte vom befriedeten Male aus mit gefalteten Händen einen aus der ganzen übrigen Masse erhaschen oder wenigstens berühren. Dann war dieser der Gegenpartei verfallen. Beide zusammen, Hand in Hand, liefen dann wieder aus, und suchten mit der freien Hand einen dritten und vierten zu treffen, die dann beim nächsten Auslauf schon auf drei oder vier anschwollen. Wurde die Kette, was leicht vorkam, je länger sie wurde, von hinten zerschlagen, so mußten alle Glieder rasch zurück hinter die trennende Linie, über welche hinweg dann noch ein Faustkampf geführt zu werden pflegte. Erst wenn auch der letzte "annektiert" war, endete das Spiel oder wenigstens sein erster Akt.

Viel gespielt, obwohl nicht so sehr auf dem Schulplatz und von der ganzen Knabenschar der Schule, war auch das sog. "Akreh"[48], ein Wort, dessen Herkunft mir dunkel ist; anderswo nannte man es auch "Anstehen". Einer "stand an" mit abgewandtem Gesichte oder geschlossenen Augen; sein Platz war das Mal; bis er 20 oder 30 gezählt hatte, mußten alle übrigen sich versteckt haben. Dann war es des Anstehenden Aufgabe, sie zu finden; war er ihrer oder eines derselben ansichtig, so hatte er zum Male zurückzurennen und rief "Akreh, Akreh für N.N.". Kam der Entdeckte ihm am Male zuvor, so hatte er sein Spiel verloren.

"Fünfstein"[49] spielten vorzugsweise die Mädchen, doch auch Knaben, wenn seine Zeit gekommen war. Fünf möglichst zierlich geschnitzte und handliche Holzwürfel gehörten dazu, die auch jeder dann in der Tasche bei sich zu führen pflegte. Die Aufgabe war, während man einen derselben in die Höhe warf, die anderen in verschiedene Lagen und Gruppen auf dem Tische so rasch hinzupflanzen, daß man den herunterfallenden noch wieder fangen konnte; ebenso mußten sie dann auch einzeln oder in Haufen wieder vom Tische aufgenommen werden.

Auch Hinkebock[50] hatte seine Zeit. Auf der möglichst ebenen Erde wurde ein langes Rechteck mit abgerundetem Ende gezeichnet und in eine Anzahl verschiedener Kammern und Abteilungen geteilt. Dann wurde eine tönerne Scheibe in die erste Kammer geworfen. Auf einem Beine hüpfend hatte man, ohne jemals den Strich zu berühren, die Scheibe mit dem Fuße aus der Abteilung und über den Grenzstrich zu stoßen, wobei diejenigen, die Pantoffel trugen, im Vorteil waren. Wurde der Strich berührt, blieb auch nur die Scheibe auf ihm liegen, so war das Spiel verloren, und der andere kam dran.

Ein ganz besonders beliebtes und eifrig gespieltes Spiel war Jagd. Der Großherzog von Oldenburg hielt in seiner Residenz Eutin einen "Jägerhof", bestehend aus einem Oberjäger, mehreren Jägern, einem Burschen und Knechten sowie der ziemlich starken Meute der "Jagdhunde", einer mittelgroßen roten, auch wohl bunten Art von Spürhunden, die von denjenigen Jagdhunden, welche der einzelne Jäger oder Förster auf Hasen, Hühner, Schnepfen u.s.w. zu verwenden pflegte, sehr verschieden war. Im Herbst, Ende Oktober oder Anfang November, kam die Jagd nach Lensahn, um der Reihe nach die schönen und großen Waldungen der Fideikommißgüter abzujagen. Lange Zeit vorher spielte dann die Lensahner Schuljugend "Jagd". Ein Oberjäger wurde bestimmt, meist war es Reinhard Grundmann, der älteste Sohn des Organisten, später langjähriger Lehrer und Organist, der mit ebensoviel Eifer als Geschick die Lensahner Schule zu einer Meisterschule erhob, auch die Bildung einer dritten Ober-Klasse durchsetzte, in welche nur diejenigen aufrückten, welche ununterbrochen auch den Sommer hindurch den Unterricht zu besuchen imstande waren. Das Dienen der Tagelöhner-, z.T. auch der Bauern-Kinder während des ganzen Sommers hemmte die Arbeit des Lehrers in der Mehrzahl in einer Weise, welche demselben eine große Entsagung auferlegte.

Dem Oberjäger wurden seine Jäger beigegeben, die Hunde und das Wild bezeichnet, und nun ging die Jagd los, nach Kräften genau so, wie man es voriges Jahr in Wirklichkeit gesehen hatte.

Bald hallten alle Wege des Dorfes wieder von dem Knallen der neuen Hundepeitschen, lange, dicke, aus Garn gedrehte, nach dem Ende gleichmäßig sich verjüngende, mit Teer umschmierte und mit einer kuhhaarenen Spitze zum besseren Klatschen versehene Peitschen mit kurzem, dickem Stiel, die nicht, wie die Kutscher-Peitsche, hoch in der Luft von rechts nach links, sondern seitwärts am Körper längs, von vorn nach hinten geschwungen wurden. In der Verfertigung wie Handhabung brachten es einige zu großer Geschicklichkeit und beneideten Erfolgen. Der Hauptgegenstand aller Unterhaltungen war nur noch die Jagd und die Peitschen. Endlich kam die ersehnte Zeit heran, das Gerücht meldete den Tag der Ankunft des Jägerhofes im Wirtshaus von Lensahn. Nicht wenige gingen ihm stundenlang entgegen und zogen stolz mit ihm ein. Die Jagden in den einzelnen Gehegen wurden dann auf die einzelnen Tage der Woche verteilt, die Treiber auf die Sammelplätze bestellt, und die große Woche begann.

Für die Bauern gehörte es zu den alten Feudallasten oder "Hofdiensten", wie man sie nennt, für seine Hufe 2 oder 3 Treiber zu stellen, meist noch schulpflichtige Knaben, z.T. auch junge Knechte. Wir anderen schlossen uns als Freiwillige und Liebhaber an. Ausgerüstet mit der Peitsche oder einem kräftigen Stock, versehen mit Mundvorrat auf einen Tag und allerlei schönem Nachtisch, namentlich Obst und Nüssen, sammelten sich früh Morgens die Treiber am Eingange des Geheges, um von dem Orts-Förster um den ganzen Umfang desselben, an denjenigen Stellen namentlich verteilt zu werden, wo ein Durchbruch des Wildes zu erwarten und abzuwehren war. Zugleich wurden auf den Wildpfaden und Engwegen die Schützen verteilt; der Jägerhof kam heran: voran der Oberjäger auf schmuckem Schimmel, das kreisförmige Waldhorn um Schulter und Brust, die Meute rund um die Füße seines Pferdes in buntem Gewimmel, paarweise zusammengekoppelt - bei schöner Herbstsonne unter blauem Himmel vor den gebräunten Buchenwäldern ein herzerfreuender Anblick; lustig klangen dann die Waldhörner der Jäger durch die stille Herbstlandschaft. Vor dem Tore des Geheges wurde Halt gemacht. War das Zeichen gegeben, daß die Umstellung vollendet wäre, wurden die Hunde losgekoppelt; erregt durch die Erwartung des Jagens, wurden sie noch von einer dichten Umstellung von Jägern und Jungen mit Peitschen und Rufen zurückgehalten und "bös" gemacht. Dann ertönte das Zeichen: mit lautem Gebell und Geheul stürzten sie sich in gestrecktem Laufe in den Wald; der Oberjäger ritt ihnen langsam, das übliche Stück schmetternd, in das Holz nach, die Jäger schwangen sich auf ihre Pferde, um an den bedeutsamsten Stellen einen Überwachungsposten einzunehmen und einen Ausbruch des Wildes zu verhüten. Eine Zeitlang verstummte die Meute wohl, dann schlug sie umso lauter wieder an, ein Zeichen, daß sie eine frische Fährte gefunden hatte. Nicht lange, so knallten die Schüsse; war das gehegte Wild getroffen, so schallte das Halali des Oberjägers. Brach es durch die Umstellung, ins Unbegrenzte, galt es dann vor allem, die Hunde an der Verfolgung zu verhindern und wieder in das Gehege zurückzutreiben. So ging es fort, bis der Bestand des Holzes erschöpft schien. Der Oberjäger blies ab; nach einiger Zeit kam er, von der schweißtriefenden und hechelnden Meute umwimmelt, aus dem Walde zurück; die Schützen trafen sich an der Ausgangsstelle; die erlegten Tiere wurden herbeigebracht, die Erlebnisse ausgetauscht; die Jäger kamen herangesprengt, zählten und koppelten die müden und befriedigten Hunde und ließen, wenn einige noch fehlten, das helle Jägerhorn so lange und so laut in den Wald hinein erschallen, bis auch der letzte Streifer sich wieder eingefunden hatte. Dann ging es zum nächsten Gehege. Mehr als zwei wurden an einem Tage gewöhnlich nicht abgemacht. Die Treiber wurden entlassen und zum folgenden Tage neu bestellt. So ging es die Woche durch. Wie herrlich war das alles für eine von Festlichkeiten nicht verwöhnte Dorfjugend, insonderheit für uns Söhne der etwa so zu nennenden Honoratioren, die wir als Bummler dem Zuge folgten, allenthalben die interessantesten Vorgänge mit beleben durften und den kräftigen Hunger mit dem leckersten Brod, dem besten Obst aus dem vollen Brodbeutel oder Ränzeln zu stillen vermochten. Ermüdet und gesättigt kamen wir heim, aber nur, um am folgenden Tage mit erneuter Lust wieder auszuziehen.

Meist hatte der letzte Tag noch ein Nachspiel.

War es alte Überlieferung, war es eine halb ungewollte Folge des Zusammentreffens verschiedener Dorfschaften und einander fremder Gesellen, die der Haber der Jugend stach, kurz, es kam gewöhnlich, ehe die Jagd endete, zu einer großen Schlägerei zwischen den Lensahnern und Beschendorfern oder auch anderen Dörfern. Bei einer derselben entging ich einer wirklichen Gefahr nur mit genauer Not und dank meiner kräftigen Arme und guten Beine. Die Lensahner und Beschendorfer hatten gerauft und die letzteren waren aus dem Felde geschlagen. Sie zogen ab und zwar auf demselben Wege, den ich nach unserem Hause zu nehmen hatte. Ob sie mich als einen ihrer schlimmeren Gegner anzusehen gelernt hatten, es mag wohl sein, da bei solchen Gelegenheiten Eifer und Hitze mich hinzureißen pflegten, einerlei, sie wollten Rache an mir nehmen. Als ich in der Meinung, sie seien längst abgezogen, mich auch auf den Rückweg machte und schon in die Nähe des Hofes Lensahn gekommen war, erscholl es mit einem Male hinter dem Knick: Nu is't Tid! Eine ganze Schar brach gegen mich und die 2 oder 3 Genossen, die mich begleiteten, hervor. Im blinden Triebe der Selbsterhaltung riß ich aus, stellte mich aber bald an einer günstigen Stelle mit dem Rücken gegen Knick und Wall und fuchtelte mit einem guten Knittel dermaßen durch den offenen Halbkreis um mich, daß keiner den Versuch wagte, Hand an mich zu legen. Da das auf die Dauer nicht auszuhalten war, ersah ich eine günstige Stelle und einen günstigen Augenblick und brach unerwartet und überraschend durch die Umlagerer hindurch. Meine guten Kräfte, von der Angst beflügelt, machten es ihnen unmöglich, mich einzuholen; keiner von ihnen vermochte eine Hand nach mir auszustrecken. Zum Glück war das erste Haus des Hofes und die Lensahner Schmiede nicht mehr fern; hier bog ich hinein, fand Aufnahme und Schutz und schenkte den gänzlich abgeblitzten den wohlverdienten Hohn und Spott nicht.

Waren die schönen Tage der Jagd entflogen, so lebte man in ihrer spielenden Nachbildung noch lange fort. Wir verstiegen uns auch wohl in kleinen Gebüschen zu einer ernsteren Nachahmung mit wirklichen Hunden und Pistolen oder Schlüsselbüchsen.

Gesuchte Stätten jugendlicher Ergötzungen bildeten die mehreren Teiche bei Hof und Dorf Lensahn: der "Haus-", d.h. Burggraben, der meist den ganzen Hof umgeben hatte, jetzt nur an der einen Seite tief genug gehalten war, um eine reichliche Wassermasse zu fassen; der von ihm durch einen hohen Damm getrennte Dorfteich, der seinen Namen, trotzdem er nun Jahrhunderte lang am Hofe lag, treu, wie solche Überlieferungen pflegen, aus jener Zeit herüber genommen und bewahrt hatte, wo Wagrien mit seiner wendischen Bevölkerung von den Holsten und Stormaren überzogen und endlich niedergeworfen wurde, d.h. 1139 und folgende Jahre[51]. Da war "Windischen Lensahn" niedergelegt und zum Lohn für einen der ritterschaftlichen Sieger als Gut oder Hof eingerichtet. Auch die "Gräber-Koppel" unmittelbar daran wird das Andenken der slawischen Begräbnisstätte festgehalten haben. Am größten und tiefsten war der Mühlenteich, eine gleichfalls durch einen hohen "Deich" (= Teich) oder Damm hergestellte Aufstauung einer im Gute Güldenstein an der östlichen Abdachung des Bungsberg-Rückens entspringenden und in den Westecker See mündenden Aue beim Dorfe. Ein großes Fest war es schon, wenn im Herbst einer oder der andere dieser Teiche abgelassen und gefischt wurde. Aus dem immer seichter werdenden Wasser, in dem das Gewimmel der zusammengedrängten verschiedenartigen Fische immer lebendiger und bunter wurde, holten die Tagelöhner die Kätscher voll einen nach dem anderen hervor und stürzten den Inhalt auf dem Sortier-Tisch aus; dann begannen der Verwalter, die Schreiber und Kostgänger, mein Vater u.a., auch wir Knaben wohl, die einzelnen Arten in bestimmte Zuber zu werfen, in den einzelnen Arten wieder die ganz kleinen, mittleren und großen zu sondern. Ein meist kaltes und frostiges Geschäft, aber dennoch interessant. Am interessantesten waren die sorgfältig gezogenen Karpfen im Hausgraben, die immer wieder eingesetzt wurden, nicht ohne vorher gewogen zu sein. Einige wogen, wenn ich recht erinnere, in die 20 Pfund; ausgestopft ist einer von diesen, an Größe etwa einem Tümmler oder Delphin gleicher Karpfen, noch heute in der Fischbrut-Anstalt von Gremsmühlen zu sehen.

Im Sommer boten diese Teiche recht erträgliche Badeplätze, an denen, da wir nicht schwimmen konnten und nicht erfinderisch genug waren, diese einfache Fertigkeit aus uns selbst zu lernen, nur die richtigen Grenzen der Vertiefung eingehalten werden mußten, wenn kein Unglück passieren sollte. Wie gänzlich wir, von aller Aufsicht und Einschränkung frei, unseren Neigungen und Trieben überlassen waren, beweist allein die Tatsache, daß wir an heißen Tagen mehr als einmal zu Wasser gingen. Ich erinnere mich sehr wohl, daß ich einst dreimal an einem Tage, und zwar auch noch mit vollem Magen, gleich nach dem Mittag, gebadet habe. Eine ungewöhnlich heftige Erkältung mit hartnäckigem und beschwerlichem Husten war die Folge, die einzige Erkältung, die aus meiner Kindheit mir im Gedächtnis geblieben ist.

Kein Sommervergnügen kam aber den herrlichen Freuden des Winters gleich; der Winter war ohne Frage für uns, wenigstens für mich die allerschönste Jahreszeit. Wie gut weiß ich noch, daß ich als kleiner Bursche, wenn ich morgens aufkam, und der erste Blick aus dem Fenster auf die wirbelnden Flocken des ersten Schnees fiel, in laute Freudenrufe ausgebrochen bin. Dann wurden die zusammengewehten Riffe[52] durchwatet, der Schlitten hervorgeholt und mit den Genossen der Windmühlenberg oder die Höhe auf dem Kästkamp, einer Koppel am Gehege Stenbek, aufgesucht, wo es dann in sausender Fahrt bergab und in mühsamem, aber unverdrossenem Ziehen immer aufs neue bergauf ging. Von nassen Füßen spürte man nichts, von Kälte noch viel weniger; wer ein ordentlicher Kerl sein oder werden wollte, das hatte ich von meinem Vater gelernt, der dürfe sich aus dem Wetter überhaupt nichts machen. Sein Beispiel und seine Verhöhnung jeder Weichlichkeit hielt jede Verzärtelung fern.

Noch größer war die Lust des Fahrens oder Schurrens oder Schlittschuhlaufens auf den meist spiegelglatt gefrorenen Teichen, die wir betraten, sobald die geringste Aussicht war, daß sie hielten. Von Überwachung oder selbst Warnung beim ersten Frost oder nach längerem Tauwetter durch meine Eltern erinnere ich auch hier nichts; nur weiß ich, daß unser Lehrer Grundmann einer Anzahl von uns, die auf dem Mühlenteich gewesen waren, was ich garnicht zu leugnen für nötig hielt, einen kräftigen Denkzettel mit dem Stocke verabfolgte. Das "Schurren", auch wohl "Glummern" genannt, war das durch längeren Anlauf ermöglichte Fortschnellen auf einer glatten Bahn, das desto lustiger war, je mehr Teilnehmer in kurzen Abständen hinter einander daher fuhren und je öfter der Fall eines einzelnen den Sturz der Nachfahrenden nach sich zog. Mit wahrer Leidenschaft aber huldigten die wenigen der Dorfjugend, welche in den Besitz der sehr einfachen und ärmlich nur mit Schnüren und Bändern befestigten, ewig unsicher sitzenden Schlittschuhe gelangt waren, von der deutschen Dichtung selbst verherrlichten Vergnügen.[53] Stunden, Nachmittage, Abende, wenn der helle Mondschein es gestattete, wurden, zumal wenn eine große Schar von Mitfahrenden die Lust erhöhte und immer wieder erneuerte, auf den Schlittschuhen zugebracht. Allerlei Spiele ließen sich auf Schlittschuhen ausführen; nur an kunstvolle und anmutige Bewegungen dachte man nicht; wer auch rückwärts laufen konnte, galt schon für was besonderes; schnell laufen, meist mit vorwärts geneigtem Oberkörper, war alles, was man suchte; in die Wette laufen wurde daher fleißig geübt, was dann bei dem brennenden Eifer zu siegen und dem unglaublich schlechten Sitzen der Schuhe vieles Fallen und Hinstürzen herbeiführte. Die blauen Flecke namentlich auf den Hüftknochen bin ich oft den ganzen Winter nicht los geworden. Dies herrliche Spiel ist wohl das einzige, das auch in den späteren Jahren seinen hohen Reiz nicht verliert und die große Annehmlichkeit hat, von jedem Einzelnen ohne Beihilfe auch nur eines zweiten betrieben werden zu können. Als ich 1847/48 in Berlin studierte, fand ich den Mut, einen preußischen Taler an ein Paar ordentlicher, starker und mit Riemen versehener Schlittschuhe zu setzen, die ersten dieser Art, die ich besaß, - und auch die letzten. Welcher Schatz! Und wie habe ich ihn in jenem für mich gemütlich sehr schweren Winter auf den Moabiter Wiesen ausgebeutet! Zum ersten Male sah ich damals auch einen Würdenträger, den Rektor der Universität Johannes Müller, zum ersten Male auch Frauen laufen. Fortgesetzt habe ich die Übung als reifer Mann noch lange. Erst die Bemerkung, daß die beim Laufen entstehende Erhitzung bei scharfem Winde mich mit Erkältung bedrohte und noch mehr der Umstand, daß meine geliebten, noch immer sehr wohl erhaltenen Schlittschuhe auf unerklärliche Weise verschwunden waren, veranlaßten mich, die schöne Übung aufzugeben. Ich hatte es zuletzt zu großer Sicherheit und im Kunstlauf zu einer nicht ganz gewöhnlichen Fertigkeit gebracht.

Zu den jährlich regelmäßig mehr als einmal wiederkehrenden Unterbrechungen des Alltagslebens gehörten die Marktfreuden. Seit unvordenklicher Zeit, wahrscheinlich von der ersten Verbreitung des Christentums, vielleicht von der wendischen Zeit her, wo Starigrad, Stargard, Oldenburg die weitbekannte Hauptstadt Wagriens war, bildete die jetzt so herabgekommene Landstadt am Hauptübergange von der Insel, die bis heute Land Oldenburg heißt, nach dem Festlande den Mittelpunkt eines überaus regen und weit ausgedehnten Marktverkehrs. Drei Mal im Jahre, zur Fastenzeit, an St. Margarethen[54] und im Oktober vereinigte der volle 8 Tage dauernde Oldenburger Markt Verkäufer und Käufer aus weitester Entfernung. Nicht bloß über ganz Land Oldenburg und Fehmarn, sondern bis an den Bereich der Städte Lütkenburg, Eutin und Neustadt dehnte sich die Anziehungskraft des Oldenburger Marktes aus. Wie nach dem Braruper in Schleswig, so rechnete man Zeitbestimmungen, Fristen, landwirtschaftliche Arbeiten nach dem Oldenburger Markte, ohne freilich soweit zu kommen, daß man schlechtweg "vör" oder "na" Brarup zu sagen pflegte. Herrschaften und Dienstboten, Vornehme und Geringe glaubten ohne den Besuch des Oldenburger Herbst-Marktes nicht leben zu können. Die Bedürfnisse des Jahres an Kleidung und Fußzeug, an Spaten, Forken, hölzernen Gefäßen, Spielsachen und Schmucksachen, Uhren und Ringen und was dessen mehr war, wurden hier befriedigt. Die Schule fiel selbstverständlich aus; denn der regelmäßige Besuch aller drei Märkte und fast immer gleich am ersten und Haupttage verstand sich von selbst. Wäre ich einmal nicht zu Markte gekommen, ich hätte es für ein schweres Unrecht angesehen. Mit einem für unser Alter, für unsere Bedürfnisse und Verhältnisse recht reichlich bemessenem Marktgeld von 8-12 Schillingen ausgerüstet, stürzten wir Bekannte und Verwandte, namentlich die Heises, Jungclaußens und Wieses, uns in das Marktgetümmel und Gedränge. In nicht allzu langer Zeit war unser Geld im Carrußel-Fahren, das meinige mehr noch in den mir ganz besonders schmeckenden Zuckermandeln und Makronen, weniger in weißen Kuchen, auch wohl in einem leckeren Speck-Aal vertan. Zu Mittag erwartete uns bei Onkel und Tante Heise ein stets gedeckter Tisch, schöne kräftige Suppe mit Fleischklößen und Reis, danach das Suppenfleisch mit Kartoffeln und Petersilien-Brühe. Nachmittags wurde der Wirtschaft wegen schon zu guter Zeit der Rückweg angetreten. Die Stimmung pflegte nach dem Hochton des Tages und seinen bis dahin unbemerkten Anstrengungen ziemlich gesunken zu sein und hielt sich nur dann, wenn einmal der regelmäßig wiederkehrende Stiefel-Kauf, was sehr selten war, ein befriedigendes Ergebnis gehabt und passende, gut sitzende Stiefel geliefert hatte oder man vielleicht auch ein schönes Taschen- oder Federmesser, ein Schreibbuch mit schönem Umschlag, einen Sonnenring[55] oder ein ähnliches, lang ersehntes Spielzeug mit zurückbrachte. Dann freute man sich schon auf den anderen Morgen, sie in Gebrauch zu nehmen und mit hoher Genugtuung den minder glücklichen Schulgenossen zu zeigen.

Eine reiche Quelle von Vergnügen bot in jedem Frühjahr die Tierwelt, namentlich die Vögel. Ohne jede Ahnung des Leides, das man der unschuldigen Creatur zufügte - und hierbei, wie bei so manchem anderen, muß ich unserer unvergeßlichen Mutter mit tiefer Beschämung gedenken, die auch als kleines Kind schon nie einem Tiere auch nur ein Leid zuzufügen vermochte - mit gänzlicher Gefühllosigkeit, ja Rohheit, also wußten wir uns in den Besitz eines oder mehrerer Tiere, Vögel oder Vierfüßler zu setzen, am gewöhnlichsten einer Krähe oder einer Elster, denen der sogenannte "Kikelrehm"[56] geschnitten und das Nachsprechen einzelner Worte beigebracht zu werden pflegte; auch wohl eines Strandvogels, von Sütel her, eines Hähers, eines Kiebitz, auch selbst einer Eule und eines Habichtes. Daß ich letzterem junge, nackte Sperlinge ganz oder zerhauen vorzuwerfen vermochte, kann ich nur mit tiefer Scham und Reue gedenken. Junge Hasen und Igel hielten wir, trotz des Jagdrechts der Gutherrschaft, Wochen lang in der traurigen Haft einer zugedeckten Tonne; trotz aller Vorsicht unsrerseits waren sie regelmäßig eines schönen Morgens verschwunden. Ganz besonders schwer liegt mir auch der Tage lang wiederholte Schmerzenslaut eines Finkenpaares auf der Seele, dem ich, bevor sie eben flügge geworden, die Brut genommen und in ein Bauer gesetzt hatte in der Hoffnung, sie würde von den Alten groß gefüttert werden. Die Erwartung erfüllte sich nicht, die Jungen starben; der Tage lang ununterbrochen ausgestoßene helle und bezeichnende Klagelaut der Alten zerriß mir das Herz.

Vogelnester zu finden und zu wissen, hatte einen ungemeinen Reiz. Einige unter uns hatten dafür eine ganz eigentümliche, mir unter andern völlig abgehende Spürkraft. Nicht ohne weiteres teilten sie das reizende Geheimnis eines still versteckten Nestes einem anderen mit, der es auch mit Rücksicht auf seine Eier-Sammlung zu erfahren wünschte, außer der oben erwähnten, die einzige Art Sammlung, die mich so weit gefesselt hat, daß ich sie bis zu einer gewissen Vollständigkeit fortgeführt habe. War es dann erst mehreren bekannt geworden, so war die Störung oder Zerstörung die ziemlich unausbleibliche Folge.

Viel Freude und viel Leid haben mir auch meine zahmen Tiere bereitet. Außer den Füllen, die ich, so sehr sie meine Lieblinge waren, doch nicht als mein eigen ansehen durfte, namentlich die Tauben und die Hunde. Das Halten von Tauben stieß anfangs auf Schwierigkeiten; daß der Holländer sich Tauben zu halten beigehen ließ, ward von dem Verwalter etwas befremdend und bedenklich für die Strohdächer gefunden. Indeß - es wurde erlaubt. In einem sehr notdürftigen Schlage, der hängend im Hühnerstall angebracht werden mußte, - in dem 1835 gebauten und 1836 bezogenen neuen Wohnhause ihn anzubringen, war mein Gedanke und meine kühne Anregung an die Maurer, wurde aber sofort von oben durchkreuzt - wurden die ersten wenigen Tiere eingesperrt, die aber nicht mal ein einziges Paar ergaben. Auch als mehrere und nun Paare angeschafft wurden, wollte die Zucht sich nicht entwickeln. Durch den dunklen und engen Eingang in das dunkle Behältnis wollten die scheuen Tiere des Abends, als sie endlich ausgelassen wurden, nicht wieder hinein, blieben dann auf dem Dache sitzen und flogen wieder weg oder wurden von Raubtieren geholt. Wochen lang, so treu ich sie hegte und fütterte, hatte ich nur Herzeleid. Bis spät in die Nacht hinein beobachtete ich, lockte und wartete: alles umsonst. Wie oft bin ich weinend und endlich verzweifelnd in das Haus gegangen. Desto größer war die Freude, als endlich ein und bald auch mehrere Paare Nester bauten, Eier legten, brüteten und Junge kriegten. Neuen Schmerz gab es aber, wenn von den beiden Jungen, denn mehr Eier legten sie zu einer Brut nie, das eine oder wenn gar beide wieder starben, was nichts Seltenes war, da sie außerordentlich zart zur Welt kommen. Erst sehr allmählig, bei gesicherterem Fortgange der ganzen Zucht, wurde ich dickhäutiger dagegen; Lust und Interesse an dieser niedlichen Vogelwelt hat sich aber nie verloren. Trat ich aus der Hintertür des Hauses, kamen sie mir entgegen geflogen, um mich zum Futterplatze zu begleiten. Stunden lang konnte ich ihrem Verkehr und Behaben unter einander zusehen, den Kundgebungen der ehelichen Liebe und Zärtlichkeit, namentlich dem Krauen des Kopfes von Seiten der Gattin, der Feindschaft und der Eifersucht. Denn diese können auch ganz sanfte Tiere hartherzig, ja blutdürstig machen. Nur ein einziges Mal nämlich habe ich es in den Jahren 1836 bis 39 beobachtet, daß ein Paar sich trennte. Der Täuber, ich habe nicht herausgekriegt, aus welchem Grunde, schloß eine neue Ehe und zeugte mit der neuen Frau Kinder. Da war es nun schon damals mir doch höchst merkwürdig, daß die verlassene Taube die Zeit der Abwesenheit der Eltern benutzte, um ihre Eifersucht an den unschuldigen Kindern auszulassen. Sie flog zu dem Neste und hackte ihnen die Köpfe blutig; so oft ich zur Stelle war, konnte ich sie schützen, und wenn ich recht erinnere, sind sie doch auch groß geworden. Vorgänge in der Menschenwelt finden ihre Parallelen in der Tierwelt. Später, als Soldat, habe ich beobachtet, daß auch Gewohnheiten der Tierwelt bei den Menschen, namentlich, wenn sie in Heerden zusammenleben, von selbst sich darstellen.

Von Hunden muß ich hier namentlich meines "Löper's" gedenken. Ich hatte diesen ganz ungewöhnlichen Namen selbstständig für ihn erfunden, um seine raschen Beine zu bezeichnen. Obwohl ich nun dieses deutschen und wirklich benennenden Namens mich in keiner Weise zu schämen hatte, wagte ich mich doch nicht recht dazu zu bekennen. Einmal, auf eine Frage, wie der Hund hieße, erinnere ich mich, in dieser dummen Scheu die widerspruchsvolle Antwort gegeben zu haben: "He hett keen Nam, he heet Löper".

Mit diesem kleinen gelben, kupferigen Hunde verband mich nun mehr als je mit einem anderen eine wahre Freundschaft. Wenn die Zeit nahte, wenn ich aus der Schule kommen mußte, lag er regelmäßig wartend vor dem Tor des Vorplatzes oder auf dessen Mauer. Kaum ward dann meine Figur an der Wegebiegung sichtbar, so setzte er sich in Galopp und im Nu war er bei mir, in den stärksten Ausbrüchen seine Freude kundgebend. Um so größer war mein Schmerz, als dieses treue Tier auf eine fast tragische Weise endete. Mein Vater ordnete an, er solle, auf einer weit entfernten Koppel, die dort auf einer Wasserkuhle nachts bleibenden Gänse gegen den Fuchs bewachen. Er wurde also dort angebunden. Dem einsamen Haustier ist es ohne Menschengesellschaft unheimlich geworden. Er heulte die ganze Nacht, und an den stillen Sommerabenden drangen diese Schmerzensschreie bis in mein Bett, zu tiefstem Mitgefühl meinerseits. Eines Abends heulte er nur kurz, dann ward es still. Ich freute mich, er habe die Angst wohl überwunden. Am andern Morgen hing Löper tot von der äußeren Umzäunung herab. Er war von innen über den Zaun gesprungen, der Strick war zu kurz gewesen, durch sein Zappeln hatte er sich selbst erdrosselt. Mein Schmerz war unaussprechlich. Lange konnte ich ihn nicht verwinden.

Viele Freude verdankten wir Kinder auch dem Umstande, daß unser Vater im Besitz von Wagen und Pferden war, der notwendigen Bedingung unter anderen auch eines lebhaft unterhaltenen Verkehrs mit den Verwandten und Bekannten in Land Oldenburg, Stadt Oldenburg, Parin und anderswo. Außer den älteren Tieren für Milchwagen und Buttermühle und dem jungen, noch nicht eingeschulten Nachwuchs wurde mindestens ein Gespann zum Ausfahren stets bereit und in guter Verfassung gehalten, das uns dann an Sonn- und Festtagen unter der sicheren und geschickten Hand meines Vaters rasch durch die teilweise nicht unbeträchtlichen Entfernungen trug, die uns von den zu Besuchenden trennten.

Das waren vor allem am regelmäßigsten die Geschwister meines Vaters, die schon genannt sind, und Schwestern und Mutter meiner Mutter. Unsere liebsten Besuche waren die in Heringsdorf und in Sütel. In Sütel waren gute Verhältnisse, große Gebäude, ein reichhaltiger Garten, der frei zur Verfügung stand, schöne Bilderbücher und Sachen und zwei Vettern von passendem Alter, dazu der ältere, Heinrich, ein besonders einschlägiger Kopf. Auf Kuhhof bei Heise's hielten wir außer an den Markttagen nur an, tauschten das Notwendigste aus und fuhren weiter. Ebenso bei Winkelmanns. In Sütel und Heringsdorf aber wurde ein ganzer Tag zugebracht, zuweilen selbst für beide nicht weit von einander gelegenen Dörfer 1½ bis 2 Tage verwendet. Das Verhältnis zwischen den Geschwistern und Verschwägerten war im Ganzen ein gutes, ja herzliches und nahes; ein zweimaliger Besuch dorthin und dorther jährlich war die Regel. Nur zweimal weiß ich, daß eine entschiedene Störung eingetreten war: einmal mit der wohl etwas anspruchsvollen Frau von Onkel Matthias, das andere Mal gleichfalls mit der sehr bestimmten Frau von Onkel Karl. Die schon erwähnte gewagte Heirat von Tante Lena unterbrach doch, soweit ich erinnere, den geschwisterlichen Verkehr nicht. Der Besuch war jedes Mal auf beiden Seiten eine rechte ungeheuchelte Freude, die Geschwister und Schwäger begrüßten sich, soweit ich mich erinnere, immer mit einem Kuß, namentlich Jungclaußen in Heringsdorf, wie es unter den Geschwistern und Schwägern meiner Frau lange Zeit auch Sitte war. Das Beste, was das Haus bot, ward aufgetragen; bei uns zu Ostern und Pfingsten, den ziemlich regelmäßigen Besuchszeiten, ein gemästeter Kalbsbraten von einer Zartheit und Schmackhaftigkeit des Fleisches und aller Zutaten, wie ihn nur eine Holländerei zu bieten vermag. Die Besprechung der Wirtschaftsverhältnisse, die Besichtigung des Viehstandes und der Felder, auch wohl der Koffer und Schränke mit ihrem Gehalt, ein Gang ins Holz, eine Besichtigung auch wohl des Lensahner Herrenhauses, ein Gang an die Ostsee in Sütel, bildeten die Hauptunterhaltung. Uns Knaben ging die Zeit nur zu rasch dahin. Dann kam die lange Rückfahrt bei abgespannten Kräften, bei sinkender Nacht, oft bei scharfem Winde und hartem Wetter auf offenem Wagen; ohne Schutzleder, Fußsack oder anderen Schutz als höchstens einen losen "Mantel", einen weiten Überwurf, der oben am Halse durch eine Spange mit Kette zusammengehalten wurde. Mit ganz erstarrten Gliedern kam man oft von solcher Fahrt zurück, wußte aber nicht anders, als daß es sich so gehörte.

Die Heringsdorfer Verhältnisse bedürfen noch einer besonderen Erwähnung, weil sie einen Einblick tun lassen in die ganze Enge, Einfachheit und Beschränktheit des damaligen Bauernlebens selbst bei den sogenannten Eigenbauern, d.h. den Grundbesitzern in den lübschen Stiftsdörfern, zu denen auch Heringsdorf gehörte. Die "Stelle" des Heinrich Höper, der vor meiner Denkzeit gestorben ist, hatte damals seine älteste Tochter, zugleich sein einziges Kind erster Ehe, verheiratet mit Onkel Jungclaußen, der als Schreiber von einem benachbarten Gute aus und als junger, stattlicher, gewandter Mann von einiger Bildung, leicht Herz und Hand der Erbin gewonnen hatte. Sie hatten 3 Kinder, Heinrich, der zu meinem Bruder, Wilhelmine, die zu meiner Schwester, Johannes, der zu mir im Alter paßte. Die Wittwe von Heinrich Höper, Anna geb. Voss, meine Großmutter, lebte seit lange auf dem sog. Altenteil in einem kleinen, bescheidenen Nebenhause mit zwei Stuben, die zugleich vermöge des "Alkovens", d.h. der in die Wand eingelassenen und mit einer Glastür geschlossenen Schlafstelle, als Schlafstuben dienten. Die Ausstattung des Altenteils war eine ärmliche, wurde meist in natura und so kärglich wie möglich geliefert. Von einer Überwachung richtiger Ableistung der übernommenen Verpflichtungen gegen die Schwiegermutter und frühere Eigentümerin war nicht die Rede; es haperte auch mit der Zinszahlung an die beiden Schwägerinnen, meine Mutter und meine Tante Elsabe, nachmals verheiratete Ohrt in Groß-Schlamin und später Heringsdorf. Wenn wir dann dort besuchten, und meine Mutter, ihre älteste rechte Tochter mit uns durch den schmalen Gang - noch erinnere ich seinen eigentümlichen Geruch und den Klang unserer Tritte auf der Lehmdiele - in das kleine, bescheidene Zimmer mit sandbestreutem, weißbretternem Fußboden traten, das von hoch angebrachten Fenstern mit matt gewordenen Scheiben mäßig erhellt war, fanden wir sie regelmäßig in ihrer Postille des Sonntags-Evangeliums lesend. Wenn sie uns erkannt hatte, leuchtete ihr altes, gutes Antlitz freudig verklärt auf und an den Worten: Gott, büs Du dat, mien Grethen! konnten auch wir Kinder den Ton der Mutterliebe und Freude nicht verkennen. Auf die Frage meiner Mutter, wie es denn gehe, fiel regelmäßig dieselbe Antwort, die sich mir für immer eingeprägt hat: Ach, mien Grethen, wo schull't gahn? Bekümmert, besorgt, verzagt! Der nie gehobene Grund lag in dem wenig erfreulichen Verhältnis zu den Besitzern der Stelle, die sie, wie es scheint, kümmern und darben ließen, worüber sie aber zu klagen nur gegen ihre rechte Tochter wagte. Nie erinnere ich, daß Großmutter mit herüber gekommen wäre oder mit gegessen, auch nur Kaffee getrunken hätte. Auch mein Vater kam bei seiner Schwiegermutter nicht; aus welchem Anlaß, weiß ich nicht; nur erinnere ich, daß er die gute alte, immerhin beschränkte und vorurteilsvolle Frau einmal im Zorn ein bitterböses Weib nannte. So hat sie bis zum Jahre 1853 in ihrer stillen Kate ein völlig vereinsamtes, freudenleeres Dasein geführt, von uns Kindern geliebt, weil unsere Mutter sie liebte, und innig bemitleidet, da es ja auch uns nicht entgehen konnte, daß sie sich zu keiner Lebensfreude mehr aufraffen konnte. Selten gingen wir von ihr, ohne mit einem blanken 2 M- oder 3 M-Stück, 32 und 48 Schilling lübsch[57], beschenkt zu sein, hamburgische, in Schleswig-Holstein nicht mehr umlaufende Münzen Hamburger Prägung, vielleicht noch herstammend aus der Zeit, wo nach ihrer Erzählung ihr "alter Herr" - so nannte sie ihren Mann, - aus Furcht vor der Aushebung nach Hamburg entwichen war und dort als Kutscher gedient hatte. Dabei mutete uns ihre gänzlich unverdorbene, plattdeutsche Rede fremdartig an, obwohl auch wir ja plattdeutsch im Hause sprachen, abgesehen von dem Vater, der mit mir und auch meiner Schwester hochdeutsch sprach. Sie verwandte mit unbewußter Beredsamkeit oratorische Figuren mit Vorliebe; außer der Häufung von drei Sinnverwandten, die schon oben erwähnt, ist mir auch die Dreizahl: "dood un weg un ut de Weld ut" im Gedächtnis geblieben. Ja, sie konnte, wie auch unter Umständen meine Mutter, sich zuweilen zu wahrhaft dichterischem Schwunge erheben. Ihr Elternhaus in demselben Dorfe, zur Zeit im Besitze ihres Bruders, eines ganz schweigsamen Alten, den ich nie anders als mit der Pelzmütze auf dem Kopfe und der langen Kalkpfeife im Munde hinter seinem Tische in der kleinen Wohnstube gesehen zu haben erinnere, trug die Züge der alten Zeit noch ausgeprägter an sich: ein echtes sächsisches Bauernhaus ohne Schornstein mit 2 Wohnräumen an der großen, rauchgeschwärzten, speckbehangenen Diele - dem *******[58], atrium, the hall - und der sog. "Kemna"[59], einem mehr Pack- und Vorrats- als Wohnraum, dessen sonst mir nirgends vorgekommene Benennung vielleicht mit kemenate zusammenhängen mag. Wie eng und bange der Sinn der Menschen gewesen sein mag, die in diesem dunklen, von Bäumen verdüsterten Hause, in diesen ärmlichen und niedrigen Wohnräumen groß geworden und lebten, ließ sich an dem Hause selbst schon ermessen. Die Frau des alten Onkel Voß hat bis in ihr Alter die Furcht vor dem Gewitter nicht los werden können und versteckte sich wie ein Kind in Decken und Kissen. Den ihnen im Jünglingsalter entrissenen einzigen Sohn hat sie aber so wenig je verschmerzt wie meine Mutter ihre Tochter Doris. "Bekümmert, besorgt, verzagt" ist das träge sächsische Blut auch in jüngeren Geschlechtsfolgen geblieben.

In einer Reihe von Häusern kam mein Vater allein und zwar meist erst nach Feierabend, im Winter bei dunkler Nacht, so beim Pastor Petersen, beim Oberförster Vogel, als oft notwendiger Dritter oder Vierter beim Spiel, zu Fuß oder zu Pferde bei jedem Wetter und Wege rasch bereit; am häufigsten auf Wahrendorf bei dem jüngsten unter den schon erwähnten Schwerdtfegern, bei denen er überhaupt einen großen Stein im Brette hatte. Hier ward er auch zu den großen Festen geladen, die sich in diesem, wie es schien, unerschöpflich reichen Hause rasch einander folgten. Alle Schwerdtfeger machten ein großes Haus und, - wenn ich von dem ununterbrochenen Getriebe der gemachten oder empfangenen Besuche hörte, das stattliche Gefährt, gezogen von einem kräftigen Viergespann, daherrollen sah, so glaubte ich alle Mal den reichen Mann der Bibel zu sehen, der alle Tage herrlich und in Freuden lebte[60]. In so vornehmer Gesellschaft wußte mein Vater, da sie der Mehrzahl nach an Bildung nicht wesentlich höher stand und ihm großes persönliches Vertrauen zuwandte, sich mit Sicherheit zu bewegen, obwohl ihm an den auf seine Kosten gemachten Späßen das Bewußtsein der gesellschaftlichen Überlegenheit der Wirte und seiner sonstigen Gäste merkbar werden mußte. Ich hatte, als ich einmal mitgenommen und Zeuge davon war, meine eigenen Gedanken dabei.

Diesem Verhältnis zu den Schwerdtfegern verdanke ich eine meiner ersten größeren "Reisen", zu denen mein Vater, weit mehr als Standesgenossen und Verwandte sonst, immer Zeit, Geld und Lust zu haben pflegte. Das war ein Besuch bei dem ältesten Schwerdtfeger auf Wensin, einem schönen, unweit Segeberg, an dem langgestreckten Warder- oder Rohlstorffer- oder Wensiner-See gelegenen Gute. Gewaltig imponierte mir das große alte Herrenhaus mit Doppeldach und Giebel unmittelbar am See. Sehr freundlich und durchaus als Ebenbürtige wurden wir aufgenommen. Die mir ziemlich gleichaltrigen jüngeren Söhne, namentlich Heinrich, mit dem ich auch später noch auf der Schule wieder zusammengetroffen bin, suchten mir alles mögliche Vergnügen zu machen. Sie setzten ohne weiteres voraus, ich sei auch ein Gutsbesitzer-Sohn; nur das wollten sie gern wissen, ob mein Vater auch wie der ihrige zwei Güter hätte. Ich war viel zu blöde, mit der Wahrheit herauszukommen, und entschlüpfte durch ein zweideutiges Nein. Im Stillen war ich voll Staunen über den großartigen Zuschnitt, in dem das Leben hier geführt wurde. Jedes der zahlreichen Kinder hatte sein eigenes Zimmer. Alle zusammen verfügten über einen vollständigen dreistühligen, nur in kleinerem Maßstab gehaltenen "Cur"-Wagen[61], der von 4 Eseln gezogen und von einem der Brüder geleitet wurde. Noch mehr wunderte ich mich, nicht ohne Beschämung und gute Vorsätze über die in unserem Hause nicht heimische Verträglichkeit der Geschwister unter einander. Es kam vor, daß sie sich erzürnten, ja, mit Peitschen hieben; aber im nächsten Augenblicke reichten sie sich versöhnt die Hände.

Zu den größeren Reisen gehörte auch die nach dem 5 Meilen entfernten Lübeck mit seinen hohen, in unserer Nachbarschaft sichtbaren, aber, soweit ich weiß, doch nie mit Bewußtsein gesehenen Türmen. Um von ihnen oder den Altertümern der Stadt, ausgenommen das Holstentor, einen Eindruck zu haben, war ich noch zu klein. Im Gedächtnis blieb mir nur die großartige Wirtschaft im Gasthof "zu den fünf Türmen", wo wir wohnten, weit über unsere Verhältnisse, - und das Wachsfiguren-Cabinet, in dem die Schweiß triefende und sich abwischende Tänzerin, der Sultan mit den schönen Prinzessinnen, die sich links und rechts umsahen, mir unbegreifliche Wunder deuchten.

Eine wahrhafte Unternehmung aber schien mir die Reise nach Hamburg, zu der lange vorher zugerüstet wurde. Ich las die Gesänge des schleswig-holsteinischen-lauenburgischen Gesangbuches, die hier für solche Fälle geboten werden; denn es war mir nicht gewiß, ob man von einer solchen Reise mit heiler Haut zurückkommen würde. Natürlich wurde die Reise in den Winter verlegt; im Sommer hat der Holländer keine Zeit. An einem Februar-Tage, wohl Mitte der 30-ger Jahre, auf offenem, mit zwei tüchtigen Braunen bespannten Stuhlwagen[62] ohne den, für uns noch nicht erreichbaren, Luxus der Federn fuhren wir ab, früh Morgens 5 Uhr. Als der Tag anbrach, waren wir schon bei Eutin. Das Wetter war kalt und neblig, und der Nebel ging zuletzt in einen feinen, durchdringenden Regen über, und tüchtig durchnäßt kamen wir schon früh am Nachmittage in einem meinem Vater von früher her bekannten, einfachen Wirtshause am Ende der nach Hamburg führenden Straße an. Wir wurden mit wahrer Gastfreundlichkeit empfangen, vortrefflich bewirtet und gepflegt, unsere Kleider und Schuhe getrocknet, kurz als Bekannte und Freunde in einer Weise behandelt, die ihres Eindruckes auf uns, besonders auch meine Base Dora Wiese, meine Schwester Doris und mich nicht verfehlte und heutzutage in den Wirtshäusern nicht mehr üblich ist. Am anderen Tage ging's weiter durch die verrufene Segeberger Heide, eine öde, unbewohnte Gegend mit so schlechten und von dem Regen verschlimmerten Wegen, daß oft sämtliche der mehreren, neben und durch einander laufenden Geleise kleinen Seen glichen, durch welche die Pferde den nicht sehr schweren Wagen nur mühsam weiter schleppten. Schon waren sie nahe daran, zu ermatten, als zu unser aller großen Erleichterung der Eppendorfer Steindamm bei sinkendem Tage erreicht wurde. Mit weit geöffneten Augen kamen wir durch das Dammtor, an dem großen Theater[63] vorbei, auf dem Gänsemarkt an und nahmen Herberge in "Stadt Kiel". Zwei Tage hatten wir gebraucht hin, zwei brauchten wir her, der Aufenthalt dort wurde auf die Hälfte der viertägigen Reise, 2 Wintertage festgesetzt; mehr konnte es nicht leiden. Von dieser Zeit gingen nun noch die Besuche ab; bei Adolf, dem schon ansässigen der drei Söhne unserer Tante, die bei ihm lebte, kamen wir unerwartet, einander, abgesehen von meinem Vater, unbekannt, zu größter Überraschung an. Die Entzweiung war ausgeglichen, ich weiß nicht, wann und wie, Tante Jansen noch eine kräftig, fast jugendlich aussehende Frau mit ergrauendem Haar und sehr redegewandt, fiel meinem Vater mit großer, uns ungewohnter Rührung und Zärtlichkeit um den Hals und konnte sich, wie es schien, von ihrer Bewegung lange nicht erholen. Ihr Mann, der für sich lebte, kam auch, seinen Bruder zu sehen; er erschien gedrückt und schwer und fühlte sich wohl überflüssig. Die Verhältnisse hatten für uns nichts Anmutendes, und der ganze Ton der Familie berührte uns fremd.

Für die Sehenswürdigkeiten Hamburgs behielten wir begreiflich nur kurze Zeit übrig, und ist, abgesehen von dem Gesamteindruck der großen Stadt mit den ganz neuen Erscheinungen des Straßenlebens, dem Menschengewühl, den wandernden und rufenden Verkäufern, den Fenster-Läden u.s.w. kaum etwas anderes im Gedächtnis geblieben als der Mastenwald vom Stintfang aus gesehen und der Alster-Pavillon[64] mitten im Wasser. Mein Vater, ein großer Theaterfreund, führte uns auch ins Stadttheater, wo wir, wenn ich nicht die Zeiten verwechsele, "das Leben ein Traum"[65] und die später ganz verschollene Oper Guido und Ginevra[66] gesehen haben. Von beiden weiß ich nichts anderes, als daß mich eine Mondnacht auf der winterlichen Straße von Florenz durch die unbegreifliche Kunst ihrer Herstellung gewaltig in Verwunderung setzte. Ich kam nach Lensahn und zu meinen Freunden mit dem Bewußtsein zurück, ein weitgereister Mann zu sein.

Der Ausdruck "Freund" legt mir noch eine Bemerkung nahe, die hier so gut wie anderswo ihren Platz finden kann, über die Freundschaft im Knabenalter. Nach meiner, freilich nicht maßgebenden, Erfahrung, lebt der Begriff der Freundschaft in der Idealität, wie er in Romanen und Sekundaner-Aufsätzen erscheint, in der Wirklichkeit nicht. August Grundmann, ein anspruchsloser, unbewußter Knabe von einer gewissen Komik und Ergötzlichkeit - er wurde Kaufmann, setzte sich in Lensahn und kam gut fort, hat aber nachher freiwillig geendet - und Ludwig Reimers, mein langjähriger Schulgenoß, wenig begabt und mit einem starken Bewußtsein des väterlichen Wohlstandes uns gegenüber ausgestattet, den er weder zu vermehren noch auch nur zu erhalten verstanden hat - können in dem bescheideneren Sinne des Wortes wohl als meine Kindheitsfreunde gelten. Wir waren ziemlich immer beisammen, so oft wir konnten, spielten vortrefflich mit einander, schimpften und vertrugen uns, bis unsere Wege uns ohne sonderliche Gemütsbewegung auseinander führten. Eine gewisse Anhänglichkeit haben wir auch später für einander bewahrt. Ein lieberer  Spielgefährte als alle beide war mir unser mehrjähriger Gänsehirte Claus Lembke, Sohn eines Tagelöhners im Dorfe Lensahn. Seine stille, sichere und naturwüchsige Art sagte mir ungemein zu, und nichts Schöneres kannte ich, als mit Butterbrot, Äpfeln, Nüssen u.a. gut ausgerüstet mit ihm zu Felde zu treiben und ganze Nachmittage dort mit ihm zu verleben. Das Erzürnen blieb auch zwischen uns nicht aus. Dann offenbarte dieser 11-12jährige Knabe die ganze Anschauung des großen Kreises der Arbeiter, dem er angehörte, die Anschauungen, kurz gesagt, welche heutzutage in die Lehre und zu dem Evangelium der Sozialdemokratie zusammengefaßt und ausgebildet sind: von dem unverdienten Geschick der "Enterbten", dem Unrecht der "Großen", und dem über kurz oder lang bevorstehenden Ausgleich, den die Gerechtigkeit fordere. Die Großen - zu denen ich mich und uns garnicht einmal gerechnet haben wollte - hielt er für lauter Bösewichte, den kleinen Mann für ein Muster aller Tugenden. Der Sozialismus ist nicht erst von gestern; neu ist seine Organisation zu einer politischen Partei mit praktischen Zielen.

Ehe ich die Kindheit verlasse, will ich doch noch zur Charakteristik der Erziehungsweise, unter der ich groß geworden bin, einige Belege hier hinzufügen.

Ich war von meiner Mutter, ohne die ich als Kind garnicht zu leben vermochte und in Weltverlassenheit zu vergehen meinte - einmal vollführte ich im Suchen nach ihr auf dem ganzen Hofe ein solches Geschrei, daß auch sie, als sie zurückkam, einmal zum Stock griff, wohl das einzige Mal in ihrem Leben - offenbar sehr verzogen, so daß ich schon früh die Erfüllung aller Wünsche von ihr auf eine oder die andere Weise zu erreichen verstand. Nun gab es aber doch auch einmal solche, die sie nicht recht zu verwirklichen wußte. Dann griff sie, zu einer runden Abweisung und wirksamen Begründung derselben nicht imstande, zum sog. "Vorschnacken", d.h. auf deutsch zur Lüge und Täuschung, wie sie denn auch gegen andere, z.B. ihren Mann oder später ihren ältesten Sohn die Unwahrheit mit einer Unbefangenheit als Kampfmittel verwandte, daß sie von der Verwerflichkeit derselben kein Bewußtsein gehabt haben kann. Ich faßte nun sehr oft zu schönen Dingen, Messer, Handstock, Peitsche, Wagen u.a. eine dermaßen leidenschaftliche Begier, daß meine Mutter mich nicht zu beruhigen vermochte. So war ich lange Zeit auf eine Uhr versteuert, und da ich, wie erwähnt, vom Vater kurz abgewiesen war, steckte ich mich hinter die Mutter. Sie wagte es nicht, wirklich eine zu kaufen, ebenso wenig, nein zu sagen, sondern teilte mir mit, sie habe den Frachtfuhrmann, der aus ganz Land Oldenburg wöchentlich einmal die Butter-Tonnen nach Hamburg  fuhr, beauftragt, mir von dort eine mitzubringen. Sie blieb aber aus. Bald sollte er sie vergessen haben, bald noch nicht fertig gewesen sein; eines Freitags sollte sie endlich ganz bestimmt ankommen. Mutter machte sich durch einen Besuch aus dem Staube; ich sollte aufpassen, wenn er käme, und ihn fragen, ob er für Mutter nichts mitgebracht hätte, nicht, ob er die Uhr mitgebracht hätte. Es geschah; der Fuhrmann sah mich etwas zweifelnd an und antwortete mit einem trockenen Nein. Mutter schob natürlich die Schuld auf ihn, aber sie hatte einmal wieder 8 Tage Ruhe. So ging das Spielen mit meinem Vertrauen fort, bis ich ermüdete und andere Gedanken mich abzogen.

Noch besser als meine Mutter verstand das Vorschnacken ihre Schwester Elsabe, die mehrere Jahre, meine ich, wohl nicht zum Vorteil des ehelichen Verhältnisses, in unserem Hause lebte; denn sie war eine kluge und vielgewandte, auch witzige und redefertige Frau. Die wußte mich Jahre lang immer wieder unverdrossen aufs neue glauben zu machen, daß die Erfüllung meines höchsten Lieblingswunsches, nach einem "Norker"[67], wie wir die kleine nordische Pferde-Gattung nannten, durch sie in allernächster Zeit sicher bevorstehe. Das Undenkbare habe ich im Glauben, sie im Lügen geleistet; es ist mir nicht erinnerlich, daß ich je zur vollen Einsicht gekommen wäre: der Gedanke an den Norker war zu schön!

Entgegengesetzt, aber ebenso wenig richtig war die Weise meines Vaters: abhärten, beugen, brechen, niederdrücken waren seine Mittel; er konnte in solchen Grundsätzen hart und grausam und aus lauter Gerechtigkeitsliebe ungerecht werden. Einst zu Heises auf Güldenstein, wohin ich sonst trotz meiner unaussprechlichen Blödigkeit gern ging, wollte er mich mithaben. Ich machte Schwierigkeiten, weil ich keinen ordentlichen Rock hatte. Nun hatte ich freilich so eine Art Überzieher mit einem Kragen; den sollte ich anziehen. Mit strömenden Tränen machte ich Gegenvorstellungen; umsonst: ich mußte im Überzieher mit. Bis dicht an den Hof kam ich aus dem Weinen und Schluchzen nicht heraus. Mein Vater blieb unerweicht. Die Knaben dort wollten mich sofort vom Überzieher befreien; ich wollte nicht; sie erneuerten immer wieder ihre Versuche; mit der Wahrheit wagte ich nicht, zu Tage zu kommen. Ich mag eine schöne Figur gespielt haben. Die Berechtigung der väterlichen Gewalttat vermochte ich schon damals nicht einzusehen.

Geradezu gram und zwar auf lange Zeit wurde ich meinem Vater bei einer anderen Gelegenheit. Einen großen Teil meiner freien Zeit pflegten wir bei den Dienstboten, insonderheit bei dem Böttcher in der Böttcherkammer zu verbringen. Sicher nicht zu unserem Besten. - So hatte ich auch wieder einmal mein Wesen bei Hans Schöning aus Kabelhorst, der früher bei uns gedient hatte und jetzt in Tagelohn arbeitete. Aus Wort- und Tat-Späßen wurde, wie es zu gehen pflegt, allmählig Ernst; er packte mich und steckte mich lange, den Kopf voran, in eine eben fertig gewordene Buttertonne. Ich schrie und wurde bös; als er mich endlich losließ, lief ich schnupfend und wutentbrannt davon, ergriff den ersten Stein und traf ihn am Arm. Wie schwer oder leicht, weiß ich nicht. Jedenfalls packte er seinen Kram zusammen und ging davon. Als mein Vater zurückkam von einer Ausfahrt und Schöning nicht mehr vorfand, mußte ihm das Vorgefallene mitgeteilt werden. Ohne mich und den anderen, mindestens ganz gleich schuldigen zu hören, ging er in den Garten, schnitt zwei nicht ganz dünne Stöcke und prügelte sie in der Vorderstube auf meinem Rücken entzwei. Da ich mich nicht allein schuldig fühlte, die Bedeutung der Verletzung wahrscheinlich absichtlich übertrieben war, erfüllte mich diese Züchtigung - ich war im 15. Lebensjahre - mit einem tiefen Groll gegen meinen Vater, den ich durch Schweigen und Fernhalten kundzugeben nicht vermied, während sein Verhalten nach verrauchter Hitze deutlich genug Reue und Bedauern bezeugte. Es dauerte lange, ehe ich die erfahrene Unbill wieder vergessen hatte.

Es war aber die Art meines Vaters, in ähnlichen Fragen Partei zu nehmen für die Fremden gegen die Seinen. Unbegreiflich wird jedem auch folgende Tatsache erscheinen. Da die oben erwähnten Groß-Onkel und Tante Voß nach dem Tode ihres Sohnes unbeerbt blieben, so mußte die Stelle, 80 Tonnen[68] besten Landoldenburger Bodens, an die beiden Töchter seiner einzigen Schwester, meine Mutter und Tante Elsabe fallen. Nun war ja mein Bruder Landmann und zum Antritt der Stelle wie berufen. Meine Tante Elsabe aber kümmerte damals mit ihrem Mann, Onkel Ohrt, dem früheren Schreiber auf Lensahn, - den ich später, wie er leibte und lebte, in Fritz Reuter's Onkel Jochen wiederfand - auf einer Pachtbauernstelle in Gr.-Schlamin. Überdies hatte sie infolge einer schweren Entbindung von einem toten Knaben ein schweres Leiden, dick geschwollene und wunde Beine - wie sich zeigte - für ihr ganzes Leben zurückbehalten und konnte wohl das Mitleid herausfordern. Aber wir wußten ja auch nie, wie bald wir "in der Kate säßen", was sollte mein Bruder als Landmann ohne Vermögen anfangen, wer sollte später für meine Schwester oder für meine Mutter sorgen? Der Billigkeits-Anspruch war für beide Schwestern, zumal da Tante Elschen unbeerbt blieb, vollkommen ebenso gleich wie der Rechts-Anspruch. Was tat aber mein Vater? Er ruhte nicht eher, als bis Onkel Voss und seine Frau, Elschen-Tante, die Stelle vermacht hatten ohne eine Abfindung auch nur an meine Mutter - die an meine Großmutter soll in Zucker und Kaffee abbezahlt worden sein - und ohne die so nahe liegende Einschränkung, daß nach ihrem Tode der Besitz an die Familie zurückfiele, von der sie herstammte. So vermachte Tante Elschen später die Stelle an ihren Mann, einen Wert von leicht 30-35000 M. Als der starb, mußten dann freilich seine Erben, die Geschwister Ohrt, an die Kinder seiner Schwägerin, mich und Wilhelm, eine Abfindung von 2500 *[69] zahlen.

So war meine Kindheit; eine Zeit vieler Freuden, aber auch schweren Druckes und tiefen Leides, die Jahre des Menschen, in denen zu seinem künftigen Wohl oder Wehe die verborgene, aber unausbleiblich aufgehende Saat, sei es von ihm selbst, sei es von anderen gestreut wird. Tragisch ist des Menschen Los, das wußte am besten das lebensfroheste Volk, das je sich des Lichtes freute, die Griechen. Schuld und Unschuld mischen sich und durchdringen sich ununterscheidbar und unentwirrbar. Wie mancher hat den Grund zu dem Unheil seines ganzen Lebens gelegt zu einer Zeit, als ihm noch keine Ahnung von der Macht des Bösen aufgegangen war. Wo sollten wir bleiben ohne das ewige Erbarmen?

 

Schule und Universität

 

Ostern 1839 brachten mich mein Vater und mein Lehrer nach Lübeck.

Mit welchem Hochgefühl ich auf die gelehrte Schule ging, mit welcher Ehrfurcht ich dem Direktor Jacob nahte, von wie guten Entschlüssen und Vorsätzen ich erfüllt war, kann ich garnicht sagen. Ich wollte ernstlich ein guter und hoffte auch ein gelehrter und tüchtiger Mann zu werden. Es drückte mich nur wenig, daß der Direktor nach dem Bericht meines Lehrers von meinem Wissen, Können und meiner Begabung Bedenken trug, namentlich des Griechischen wegen, mich in die Tertia zu setzen, wohin ich nach meinem Alter und meiner Körpergröße gehört hätte. Wie sich bald zeigte, hätte er es ohne Bedenken tun können. So mußte ich mit fast lauter kleinen das Griechische von vorn noch mal wieder anfangen. Alles wurde mir auf diese Weise leicht und, da ich mit eisernem Fleiße alle Aufgaben unter Aufbietung aller Zeit und Kräfte machte, war ich nach meinen Leistungen bald einer der ersten der Klasse, mußte aber dennoch, da es halbjährliche Versetzungen nicht gab, geduldig bis nächsten Ostern aushalten. Freundliche und gute Lehrer hatte ich, besonders an dem Klassenlehrer, Kollaborator[70] Evers, der Latein und Deutsch lehrte. Er war eine lebhafte, etwas erregte Natur, noch nicht lange verheiratet und angestellt und damals strahlte sein Gesicht, so schien es, nur von Glück, Lebensfreude und gegen seine Schüler von herzlichstem Wohlwollen. Mir war er bald sehr gewogen, und auch ich liebte ihn sehr, mehr als ich je ihm kundgetan habe. Mit dem größten Schmerze erfuhr ich manche Jahre später, Anfang oder Mitte der 50-ger Jahre, daß er in einem Anfall tiefer Schwermut und nervöser Erregung freiwillig geendet hatte. Parteiisch fand ich den Dr. Ernst Deecke, einen geistvollen und gelehrten Mann mit einem besonders schönen Kopfe, dem ich trotz äußersten Fleißes keine Anerkennung abzugewinnen vermochte. Er hat sich in der gelehrten Welt wohl bekannt gemacht, mehr noch sein Sohn, der Etrusker. Seine freie Richtung im Christentum, die er nicht verhehlte und die ich sofort erkannte, stieß mich ab, da er von der mir durch Reimers gegebenen Richtung in sehr herabsetzenden Ausdrücken sprach. Ein Stück Altertums war der würdige "College" - so lautete sein Titel, - Poser, der die Mineralogie in kurzen Sätzen diktierte und in der nächsten Stunde einen jeden das Diktat von Anfang bis zu Ende verhörte. Er war ein kleiner, untersetzter, freundlich und gütig aus blauen Augen und gerötetem Gesichte blickender Mann, großer Freimaurer, der aber doch auch die nötige Zucht mit dem Rethstocke aufrecht zu halten nicht scheute. Völlig zuchtlos ging es her bei Herrn Roquette, der von einem Franzosen nichts als den Namen hatte und längst in dem Kampfe gegen die Unarten und Unordnung seiner Klasse auf den Stand der Entsagung zurückgegangen war. Unglaubliches wurde ihm zu meiner unaussprechlichen Verwunderung geboten. Später habe ich selbst die Ungezogenheiten mitgemacht.

Zu meinen Mitschülern, obwohl sie um mehrere Jahre jünger waren, gewann ich von Anfang an ein gutes Verhältnis; Versuche, mich als so großen Menschen, vielleicht auch wegen meiner sehr ländlichen Kleidung zu hänseln, erstickte ich im Keime; selbst den Tertianern, ein Jahr später, ist es nie gelungen, mir die üblichen Fuchsprügel anzubringen; ich war ihnen zu stark und zu gewandt. Mein nächster Nachbar war ein vornehmer junger Herr, von Schack, Sohn des damaligen Bundestagsgesandten; ob der berühmte Schriftsteller und Kunstfreund von heute, weiß ich nicht. Näher traten wir uns begreiflich nicht; er schloß sich sehr an die Spanier aus Südamerika an, die damals in Lübeck zahlreich und meist bei den Lehrern der sog. B-Klassen des Realgymnasiums wohnten. Ihre Sprache lernte und bewunderte er.

Schon nach sehr kurzer Zeit wurde ich von heftigem Heimweh ergriffen. Ich zählte, oft unter Tränen, die Tage, die mich noch von den kurzen Pfingstferien trennten. Das Glück des Wiedersehens erschien mir so groß, daß ich kaum zu hoffen wagte, es zu erleben. Hesel[71], Sohn des Bürgermeisters von Heiligenhafen, wollte mit mir zusammen reisen. Dann kündigten sich auch noch die Vettern aus Altona zum Besuche bei ihren Oheimen und Muhmen an. Endlich kam der ersehnte Tag, der 19te Mai 1839. Wir fuhren zuerst nach Parin, dann des Nachmittags weiter. Der Frühling hatte eben die Erde, und die Wälder insonderheit, mit dem ersten zarten Grün geschmückt, die Sonne lachte unbewölkt, die ganze durchfahrene Gegend gehört zu den lieblichsten Holsteins; die Freude der Ferien, des Wiedersehens gewann in meinem Herzen eine Macht, daß ich wie von einem Rausche ergriffen ward und auf dem Wagen in einer mir selbst unbekannten und wunderbaren Ekstase fast wie mit Zungen redete. Eines ähnlichen Zustandes weiß ich mich im Leben nicht zum zweiten Mal zu erinnern. Nur zu rasch flogen die 4 Tage dahin. Am Donnerstag schon begann der Unterricht wieder. Das Heimweh packte mich nach dem Freudenrausche mit verdoppelter Gewalt und ließ mich lange nicht los. Jahre lang und am meisten nach der Rückkehr aus den Ferien hatte ich mit dieser zwar nicht tödlichen, aber doch recht schweren Krankheit zu kämpfen.

Eine recht ernste Krankheit befiel mich im Februar 1840, ein Nervenfieber, das mir zum Glücke für einige Tage das Bewußtsein verdunkelte. Daß meinen Eltern Nachricht gegeben würde, wollte ich nicht, um sie nicht zu beunruhigen. Als sie endlich wegen allzu lang ausbleibenden Briefes nachfragten, war ich zum Glück schon so weit, um ihnen das Überstandene melden zu können. Das Verheimlichen fand begreiflich nicht ihre Billigung. Es war abgesehen von den Frieseln auf Christianstal die einzige ernste Krankheit, die mich in meinem Leben betroffen hat. Die körperliche und seelische Wonne des Genesungs-Gefühles kann ich nicht schildern.

Obendrein ging es den Osterferien entgegen, vor deren Eintritt ich am Palmsonntage[72] bei dem Pastor von St. Marien, D. Funck, eingesegnet werden sollte. Der Sonnabend vor Palmarum war herangekommen; jeden Augenblick konnte ich meine Eltern erwarten. Da ward ich zu Pastor Funck gerufen. Er machte mir eine Mitteilung, die mich wahrhaft niederschmetterte, zugleich auf das tiefste empörte: der Lensahner Pastor Petersen habe soeben gegen meine Konfirmation Einsage getan!

Pastor Petersen in Lensahn, der bekannte Herausgeber der Provinzial-Nachrichten, ein sehr gescheuter und aufgeklärter Mann, aber mehr Advokat als Theologe, war mit seiner Gemeinde ziemlich zerfallen und hatte unter den Honoratioren keinen einzigen, mit dem er nicht in entschiedener Feindschaft gelebt hätte. Zum vielgespielten Lhombre hatte er auch meinen Vater oft in seinem Hause gesehen. Dann hatte er, erst im Scherz, darauf ernstlich laut eines irgendwo aufgefundenen Paragraphen ein Opfer an Butter gefordert, selbst im Genuß einer großen Landstelle, aber nicht erhalten. Das war der erste Anlaß zur Feindschaft. Sie wurde ernstlicher, als mein Vater durch den Mißbrauch der Kanzel zu gelegentlichen Strafreden, die ein Lachen der andächtigen Versammlung zur Folge hatten, nicht bloß mehr aus seinem Hause, sondern auch aus seiner Kirche fernblieb und sich von dem Visitatorium[73] die Erlaubnis auswirkte, einen anderen Beichtvater zu wählen. Ärgerliche Auftritte, einmal Tätlichkeiten mit einem Kesselflicker, ein anderes Mal mit dem Arzte Dr. Völckers kamen hinzu. Nun hatte er erfahren, daß "der Bursche" - so nannte er mich in seiner Einsage an D. Funck - in Lübeck, also im Auslande konfirmiert werden sollte, wohl auch erfahren oder doch sicher vermutet, daß meine Eltern am Sonnabend dahin abreisen würden und das Eintreffen der Einsage, die er auf einen alten Paragraphen gründete, der für einen solchen Fall die Erlaubnis des betreffenden Predigers vorschrieb, so berechnet und geleitet, daß die heilige Handlung mir und meinen Eltern gänzlich gestört werden mußte. Die Erlaubnis zu beschaffen war selbst für einen Eilboten nicht möglich; ohne dieselbe wagte Pastor Funck, der selbst mit dem Rate nicht zum besten stand und ihm Unannehmlichkeiten von Seiten der dänischen Regierung zu bereiten fürchtete, die Einsegnung nicht zu vollziehen. Wir mußten unverrichteter Sache nach Hause fahren. Als der Prediger der Feindesliebe seinen boshaften Zweck erreicht hatte, erfolgte die Gewährung auf meine mit unwahrer Unterwürfigkeit abgefaßte Bitte sofort. Würdiger wäre es gewesen, wenn ich meiner Entrüstung über diese berechnete Bosheit vollen Ausdruck gegeben hätte. Später hat es mein Vater nachgeholt. - So bin ich am 27. April in der Sakristei der Marienkirche vor wenigen Zeugen allein konfirmiert. Meine Stimmung und Seelenverfassung drückte sich in den Worten aus, die ich auf dem Kirchhofe vor mich hin ausgesprochen zu haben mich erinnere: "Dein auf ewig!" Ich hatte es in der Tat damals zu einer großen inneren Ruhe und Freudigkeit gebracht. Zu bewahren habe ich sie nicht vermocht.

Ich war nach Tertia versetzt, die erste der Oberklassen, die auch in einem besonderen Teile des alten Catharineum-Klosters untergebracht waren. Mehrere neue Lehrer hatte ich kennen zu lernen. Klassenlehrer war Mosche, Sohn des bekannten früheren Direktors, ein ganz tüchtiger, jedoch etwas hölzerner und ernst blickender Mann, für Lateinisch und Deutsch. Mit einiger Angst sahen wir dem Klassenlehrer von Sekunda entgegen, dem Professor Dr. Wilhelm Ackermann, genannt "Kephalides", einen geistvollen und gelehrten, aber zum Unterrichten und Korrigieren etwas bequemen Mann von großer und breiter Gestalt und einem auffallend starken Kopfe. Seine Zornreden und Zurechtsetzungen waren gefürchtet, seine Anerkennung aber wurde nicht selten in ebenso kräftiger Rede laut. Er gab nur Geographie, die er durch Schilderungen selbstgesehener Gegenden und Naturverhältnisse zu einer fesselnden Unterrichtsstunde zu gestalten wußte. Einst fragte er nach den Ursachen der Winde; mehrere wurden angegeben; er wollte noch eine weitere wissen; es entstand eine Stille; da wagte ich zu sagen, was ich in der Tat mit eigenem Nachdenken gefunden hatte: Die Umdrehung der Erde. Mit hoch erhobener Stimme rief Kephalides halb mir, halb den anderen zu: Brav geantwortet! Der denkt! In seinem Gesichte malte sich eine große Freude.

Den Aufgaben und Anforderungen der Klasse auch für andere Fächer vermöge meiner vollen Reife und entwickelteren Auffassung völlig gewachsen erhielt ich alle drei Male ein Zeugnis des ersten Grades und wurde, obwohl der Kursus zweijährig war, wohl mit in Anbetracht meines Alters und meiner in Quarta z.T. verlorenen Zeit Ostern 1841 nach Sekunda versetzt. Meine Freude und mein Hochgefühl war um so größer, als ich mir trotz der Prophezeiungen meiner Mitschüler Hoffnung darauf nicht gemacht hatte.

In Sekunda bekamen wir fast lauter neue Lehrer, unter ihnen die beiden ersten der Anstalt, den Professor Johannes Claßen und den Direktor Friedrich Jacob, beide in der Gelehrten- und in der Schulwelt vorteilhaft bekannt. Claßen, Hamburger von Geburt, dort später auch mehrere Jahre Direktor des Johanneum und erst vor 2 Jahren im höchsten Alter gestorben, war als Erzieher des jungen Marcus Niebuhr und durch Niebuhr's Empfehlung, selbst schon als junger Mann ausgezeichnet, zuerst als Privat-Dozent nach Kiel gegangen und dann nach Lübeck berufen; eine schlanke, schmächtige Gestalt, blond, aber mit schon fast völlig kahlem Scheitel und Vorhaupt, von großer Lebendigkeit, umfassender Gelehrsamkeit und einer seltenen Beherrschung des Griechischen, das ihm in den beiden oberen Klassen zugewiesen war. Ehrfurcht gebietend schon durch seine ganze Erscheinung, trat mir jetzt der Direktor Jacob zum ersten Male näher; eine kräftige und voll ausgewachsene Männergestalt in lang herabreichendem Rocke, von gerader, strammer Haltung, mit einem fein geschnittenen Gesicht von scharf zusammengenommenem Ausdruck, hoher Stirn und kurzem, klein-lockigem, leise ergrauendem Haar, das Halstuch nach Goethe'scher Art oben durch eine Tuchnadel zusammengehalten, überhaupt in seiner ganzen Erscheinung an diesen großen Dichter erinnernd, den er von allen am meisten in sein Herz geschlossen und zum Gegenstand einer Art Verehrung gemacht hatte. In Halle geboren, erzogen und gebildet, der mittlere von drei Brüdern, die alle einen guten Namen gewonnen haben, war er zuerst in Königsberg neben Lachmann, seinem Freunde, an der Schule wirksam gewesen und 1831 mitten in dem ersten Cholera-Schrecken und Cholera-Krieg[74] nach Lübeck gekommen. Er beherrschte die lateinische Sprache wie Claßen die griechische, war aber auch in allen anderen Fächern, Literatur und Geschichte alter wie neuer Zeit gründlich beschlagen, unter andern auch mit Shakespeare völlig vertraut. Seine eigentliche Stärke lag aber noch höher; nämlich in dem Besitze aller Eigenschaften, die einen ausgezeichneten Direktor machen; zu diesem seinen Berufe war er recht eigentlich geboren durch den seltenen Verein von Ernst und Wohlwollen, mit dem er seine Schüler zu fassen, zu leiten und zu begeistern verstand, durch den starken und unbeugsamen Willen, mit dem er unlautere Elemente niederhielt oder beseitigte, durch die ganze Macht seiner Persönlichkeit, mit welcher er in den feinsten Formen, ohne Aufwand äußerer Mittel, das ganze, zahlreiche Lehrerkollegium und die stark besuchte Anstalt unter humanster Schonung der Individualitäten nach einem Ziele in Bewegung zu setzen und zu erhalten wußte. Zur Selbsttätigkeit anzuleiten, die besten Kräfte und Triebe eines jeden in Wirksamkeit zu setzen, jeden auch seiner Erfolge froh werden zu lassen, darin suchte er seine Aufgabe. Mein ganzes Herz hatte er bald gewonnen und von Jahr zu Jahr, namentlich als er nun in Prima unser Hauptlehrer wurde und gelegentlich im Tone leichten Gespräches uns an die höchsten Fragen hinanzubringen versuchte, unserm wissenschaftlichen Streben die herrlichsten und weitesten Ausblicke zu eröffnen verstand, uns auch persönlich und gesondert ihm näher treten ließ, wurde mein Vertrauen, meine Verehrung des seltenen Mannes größer. Ich sah in ihm meinen geistigen Vater; er ist nahezu mein Beichtvater geworden.

Die Aufgaben der neuen Klasse wurden mir nicht schwer; nur die Vorbereitung auf den Homer kostete mir im Anfang sehr viel Zeit und Mühe; die vielen kleinen Partikel wie **, ***, ***[75] u.a., über welche das Wörterbuch so entsetzlich viel, aber so wenig greifbares zu sagen hatte, brachten mich zuweilen der Verzweiflung nahe und hätten wohl durch Hilfe und Weisung des Lehrers dem Anfänger verdeutlicht werden können. An den Genuß des Inhaltes war so lange Zeit nicht zu denken, und zu rechtem Leben ist mir auf der Schule weder Achill noch Odysseus gekommen. Wir lasen Fuß für Fuß weiter, statt geflissentlich in die Natur und Geschichte dieser beiden Nationalhelden als Darstellungen der beiden griechischen National- und Kardinal-Tugenden, der **** und ****, der ***** und der ******[76], der Tat und des Gedankens eingeführt und nur mit denjenigen Büchern oder Teilen durch eigenes Lesen bekannt gemacht zu werden, welche die für die Entwicklung des Ganzen wesentlichen Vorgänge enthalten. Den Wunderbau freilich dieser beiden Kunstwerke zu verstehen und besonders die tiefe psychologische Wahrheit, mit der hier die Rätsel des Menschenlebens gestellt und gelöst werden, zu würdigen, dazu bedarf es des gereiften Verstandes und ernster Lebenserfahrung. Die homerische Auffassung von "Geistesgesundheit", von Betörung, Schuld und Sünde reicht an das Christentum heran. - Auch von Virgil sollte man die interessantesten Bücher auswählen, im Grunde bei allen anderen Schriftstellern, namentlich auch Horaz, nicht den Zufall der Reihenfolge walten lassen. Freude machten mir die lateinischen Versübungen, die schon in Tertia begonnen hatten, hier von dem Direktor selbst geleitet wurden. Den Frühling von Kleist[77] in das Versmaß der Eklogen[78] zu bringen, wurde uns zugemutet und auch geleistet. Vorzugsweise verwendete der Direktor einen (Untertertianer) Neu-Lateiner, Johannes Secundus meine ich, dessen Gedichte freilich von klassischen kaum zu unterscheiden sind, wie denn die vollendete Aneignung der antiken Ausdrucksweise, Wort- und Satz-Fügung im Mittelalter und darüber hinaus bis zur Stunde mir ein Gegenstand der Verwunderung und die Art der Erwerbung dieser Fähigkeit mir fast ein Rätsel geblieben ist.

Im Französischen, wo freilich mein Unterricht von Anfang an sehr zu wünschen übrig gelassen hatte, war ich noch in Sekunda nicht sicherer Herr der Deklination und Konjugation. Meine Exercitien waren daher und blieben voller Fehler; es war mir schlechterdings nicht möglich, zwischen den verschiedenen de, zwischen du und de l', zwischen à und au durchzufinden; erst in Prima, wo mich eigenes Lesen des Florianschen Don Quichotte und des Chateaubriand'schen Piétraire[79] mit Lust an der Sprache erfüllt hatte, habe ich mir selbst die französische Grammatik klar gemacht und angeeignet und dieses Studium auch auf der Universität zu großer Freude und zu späterem Vorteil ununterbrochen und eifrig betrieben.

Besseres Glück hatte ich mit dem Englischen. Dies wurde von Sekunda an in einer freiwilligen und außerhalb der Schulzeit liegenden Stunde von Mr. Newman-Sherwood[80] nach seinem Lehr- und Lesebuch gelehrt. Mr. Newman war wohl mindestens ein Sechziger, aber von kräftiger, fast blühender Gesundheit und elastischer, jugendlicher Beweglichkeit, mit schwarzem, wohlgepflegtem Haar, dunkeln Augen und roter Gesichtsfarbe, eine kleine und feine Gestalt, der Lebenskraft und Lebensfreude aus allen Zügen sah, vermutlich nicht sächsischen, sondern keltischen Blutes. Darauf deutete auch sein Witz und Humor, dem er im Verkehr mit seinen Schülern mit gänzlicher Unbefangenheit die Zügel schießen ließ, ohne jemals sein Ansehen oder die Zucht seiner Klasse zu gefährden. Von Grammatik war nach der Natur der Sache weniger die Rede als von guter Aussprache, auf die er das größte Gewicht legte, und der Erwerbung einer möglichst reichen Vokabel-Kenntnis, teils durch Vorbereitung vermittels einer Interlinear-Übersetzung, teils durch systematisches Auswendiglernen. Wie der Lehrer durch sein Wesen, so zog mich die Sprache durch ihre lohnende Leichtigkeit an; in nicht allzu langer Zeit hatte ich mich vermöge eines entschiedenen Talentes der Nachahmung einer guten Aussprache, der Grammatik und des alltäglichen Wortschatzes bemächtigt, sodaß ich in Prima bei unserem Direktor ohne Schwierigkeit zum Shakespeare übergehen konnte. Auch diese Sprache und durch ihre Literatur weit mehr noch als die Französische hat nie wieder mich zu beschäftigen und zu erfreuen aufgehört. Ich fand auch auf der Universität einen geborenen Engländer, dem ich mit einem anderen Freunde der Sprache ununterbrochen Gelegenheit gab, sein Publikum zu lesen, und durch Benutzung jeder Gelegenheit zu Sprachübungen, durch stetige Privat-Lektüre brachte ich es dahin, daß ich beim Abgang von der Universität ohne Prüfung und Zeugnis darin - denn das gab es damals noch nicht - als ganz besonders ausgerüsteter Neusprachler galt. Eine mitreisende Engländerin, der ich auf ihre Frage: "how long do we stay here?" bloß "ten minutes" geantwortet hatte, wollte nicht glauben, daß ich kein Engländer wäre, und ein Reisender an der Wirtstafel zu den "3 Mohren" in Augsburg versicherte mir: "you speak it perfectly". Heute würde ich in einem neusprachlichen Examen nicht bestehen, da jetzt durch den Wert, der auf die sprachgeschichtlichen Kenntnisse gelegt wird, der grammatischen und lexikalischen Beherrschung des modernen Englisch und Französisch, für den Unterricht doch das Entscheidende, ein ganz unverzeihlicher Eintrag geschieht. Erst nachdem ich in Meldorf schon Jahre lang unterrichtet hatte, habe ich in Kiel durch Schwob-Dollé, dessen Nachfolger ich an der Kieler Schule werden mußte, erkennen gelernt, wieviel mir zur völligen Vertrautheit mit der französischen Grammatik noch fehlte, und im Englischen habe ich durch fortgesetzte Unterhaltung mit meinem nunmehrigen Amtsbruder Lubbren gleichfalls erst in Kiel die ziemlich unbehinderte Fertigkeit des Sprechens und Verstehens gewonnen.

Worin ich es aber, trotz Fleiß und Aufmerksamkeit, nie zu etwas Befriedigendem, zu selbstständigen Leistungen zu bringen vermocht habe, das war die Mathematik und Arithmetik. Ich war wohl imstande, einer Beweisführung zu folgen, einen Lehrsatz zu lernen und zu verstehen, nach einer erklärten Regel in Zahlen oder Buchstaben ein Exempel zu rechnen, aber nie habe ich eine mathematische Aufgabe selbstständig anzufassen und zu lösen vermocht, und die ganze Buchstabenrechnung, Sinus- und Cosinus-Verhältnisse, die Logarithmen und, was dessen mehr ist, ist mir im Grunde immer ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Wenn ich dennoch im Abgangszeugnis die nächst beste Zensur, recht gut, erhielt, so schreibe ich das nur dem Wohlwollen meines Lehrers, dem noch lebenden Prof. Christian Scherling, zu, der meinen guten Willen für die Tat nahm und durch meine stets sorgfältig gemachten Ausarbeitungen bestochen gewesen sein mag. Wie mir ging es aber der überwiegenden Mehrzahl, und derer, die auch uns, den Mitschülern, als wirklich "mathematische Köpfe" erschienen, die mit Leichtigkeit dem Vortrage folgten, alle Fragen spielend beantworteten, auch wohl selbstständige Fragen taten, Beweise fanden und Aufgaben lösten, auf deren Unterhaltung der Lehrer in der Hauptsache allein angewiesen war, gab es in einer Klasse von etwas mehr als 20 nur etwa 3-4. Von einem kleinen Meklenburger, Haue, - wahrscheinlich demselben, der später eine harte Haft verbüßen und die ganze Unvernunft jenes fostilen[81] Staatswesens am eigenen Leibe empfinden mußte - erinnere ich mich lebhaft und mit Bewunderung, wie er in der mathematischen Stunde für die folgende französische sein Exerziz machte und dabei mit dem Mathematiker unausgesetzt das Zwiegespräch fortsetzte, wofür er in der Klasse so ziemlich dessen einzige Zuflucht war. Es ist kein Zweifel, so oft es auch bestritten wird, es gibt eine besondere mathematische Begabung, wie es eine besondere Begabung für Sprachen gibt, ohne welche wohl Verständnis der fremden Sprache, aber nicht schöpferische Handhabung derselben und Aneignung ihrer Eigentümlichkeiten, Eindringen in ihr innerstes Wesen möglich ist.

Der geschichtliche Unterricht hatte mich weder in Quarta noch Tertia gefesselt, er tat es auch in Sekunda nicht. Prof. Ackermann setzte auch hier die Methode des Deklinierens fort und ließ dann in unregelmäßigen Zwischenräumen wiederholen. Der Umfang des dann für eine Stunde zu Bewältigenden schreckte von vornherein ab, die Hoffnung, durchzuschlüpfen, wirkte auch, an Verständnis war so wenig zu denken wie an gedächtnismäßige Aneignung. Von Feststellung eines bestimmten Klassen-Pensums, von Hervorhebung der wichtigeren Begebenheiten vor den unwichtigeren, von eingehender Charakteristik der leitenden Männer wie eines Themistokles, Perikles, Grachus, Sulla u.a. habe ich wenigstens keine Erinnerung. In Prima, wo Claßen die mittelalterliche und neue Geschichte lehrte, trat insofern eine Änderung ein, als er offenbar selbst von seinem Gegenstande besser unterrichtet war, frei vortrug und ein Interesse für den Gegenstand zu erwecken wußte. Da wir aber im Nachschreiben nur Unzusammenhängendes festzuhalten vermochten, die Wiederholungen gleichfalls nur in langen Zwischenräumen stattfanden und nicht sehr strenge gehandhabt und für das Endurteil verwertet wurden, so blieb der Vorrat meiner geschichtlichen Kenntnisse gering. Erst als ich auch hier mich auf eigene Hand daransetzte, täglich zwei Stunden, von 10-12 ausschließlich an Wiederholungen vermittels Anfertigung eines schriftlichen Auszugs zu wenden, fühlte ich die Summe meiner Kenntnisse wachsen und habe die Schule auf diesem Felde nicht übel ausgerüstet verlassen. Von größeren Geschichtswerken erinnere ich nur Schlosser's Geschichte des 18. Jahrhunderts[82] gelesen und die literar-historischen Übersichten ausgezogen zu haben. In der deutschen Geschichte waren mir die Kaiser ihren Regierungsjahren nach früh geläufig; von der Reformation, von Luther und seinem weltgestaltendem Kampfe habe ich nur eine bloße Vorstellung, von Männern wie Stein, Scharnhorst, Gneisenau wenig mehr als den Namen, von der Fremdherrschaft und den Befreiungskämpfen kein auch nur entfernt entsprechendes und genügendes Bild mit hinweggenommen. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß der deutsche Gedanke bei keinem meiner älteren Lehrer lebendig gewesen ist. Er war einmal verrufen und Jacob wie Claßen waren in Bezug auf politische Anregungen der ihnen anvertrauten Jugend äußerst vorsichtig. Die Verfolgungen der demagogischen Umtriebe wirkten nach.

Noch weiter zurück gegen den gegenwärtigen Unterricht - die "Reformen" Kaiser Wilhelm's II.[83] ausgeschlossen - stand der damalige Unterricht in der Religion. In Sekunda lasen wir bei Claßen das Neue Testament in der Ursprache; in Prima gab der Direktor diktierend mit ganz seltenen Repetitionen eine kurze Darstellung sämtlicher Hauptreligionen der Welt, eine Art Religionsphilosophie, in der das Christentum und der Protestantismus, selbst vom rationalistischen Standpunkt aus angesehen, ohne gebührende Würdigung blieben. Von der Kirchengeschichte auch nur der Reformationszeit, von den Unterscheidungslehren unserer und der anderen christlichen Konfessionen erfuhren wir nichts. Wer heute vom Hollenberg[84] auch nur die Hauptsachen sich angeeignet hat, besitzt doch wenigstens von der Kirche, deren Sohn er ist, dasjenige Bewußtsein, das sie von den wissenschaftlich gebildeten ihrer Mitglieder fordern kann. Bei alledem erinnere ich mich nicht, daß die freie Auffassung meines Direktors vom Christentum meiner Verehrung gegen ihn Eintrag getan oder mich in meinem Gewissen beunruhigt hätte. Ich war damals den religiösen Fragen gegenüber bereits gleichgültiger und fremder geworden und hielt mich als einzige Antwort an die hohe und Achtung gebietende Persönlichkeit eines Mannes, in dem ich ein sittliches Vorbild erkennen mußte.

Die Art seiner Einwirkung auf seine Schüler und die seltene Idealität unseres Verhältnisses zu ihm möge hier noch durch einen besonderen Fall verdeutlicht werden.

Von Sekunda an schon wurde damals auf der Lübecker Schule studentisches Leben zunächst auf einem eigenen Fechtboden in einer großen Halle der alten Burg mit Vorwissen und Billigung des Direktors gepflegt. Mit großem Eifer und Erfolge nahm ich an diesen Übungen teil und tat mir auf die stattliche Entwicklung der Muskeln meines rechten Armes nicht wenig zu Gute. Es fehlte auch nicht ganz an Duellen mit stumpfen Rapieren; unter andern war es auch mir beschieden, einen bildschönen, jungen Adligen, Werner von Ruhmohr, tüchtig verhauen abzuführen. Das eine zog dann das andere nach sich. In Prima tat sich eine förmliche studentische Kneipverbindung auf mit farbigen Mützen, Landesvater[85] und, was sonst dahin gehört. Sie eröffnete auch einigen wenigen Sekundanern, die sie für besonders würdig hielt, den Eintritt. Auch ich hatte die Ehre, dazu aufgefordert zu werden und mit großem Eifer nahm ich sie an und an dem studentischen Treiben teil. Mit einer Art Andacht bekenne ich den Landesvater als einen hohen und feierlichen Akt mit begangen zu haben. Ich darf aber gleich hier sagen, daß die Zeit, wo ich an dem geflissentlichen Saufen Gefallen oder in der Aufnahme von möglichst großen Biermengen einen Beweis der Mannhaftigkeit sah, nur sehr kurz dauerte, der engere und freundschaftliche Verkehr dagegen mit einer Art Auswahl der Primaner und Sekundaner mich in hohem Grade befriedigte und erfreute. Zum Glücke konnte die schöne Verbindung nicht lange verborgen bleiben. Unser Direktor ließ sich den Vorsitzenden kommen, den mittleren der drei Brüder Schwartz aus Gickau, nicht um eine vorläufige Untersuchung oder harte Bestrafung des bereits Begangenen einzuleiten, sondern um ihn von der Verkehrtheit und Unstatthaftigkeit einer solchen Verfrühung und Vorausnahme des studentischen Lebens zu überzeugen. Danach berief der so überzeugte und teilte uns Verlauf und Inhalt der Unterredung mit und erklärte, nur noch zu freiwilliger Selbstauflösung raten zu können. Meines Erinnerns ist ein ernstlicher Widerspruch nicht laut geworden. Die Verbindung beschloß, das Vernünftige zu tun. Solange ich Schüler des Katharineums blieb, ist ein neuer Versuch dieser Art nicht wieder gemacht worden.

Michaelis[86] 1842 ward ich nach Prima versetzt. Zwar war auch hier der Kursus zweijährig und, es mag wohl sein, daß meine bisherige Erfahrung und der kurz vorher gegangene Vorgang mit drei anderen Sekundanern - darunter der später bekannt gewordene Theodor Schultze aus Oldenburg - mir die geheime Hoffnung erweckt hatten, ich würde auch in einem Jahre durch Sekunda gehen. Ich schließe das aus der mir wohl erinnerlichen Tatsache, daß ich nicht allzu lange vor Michaelis es wagte, zum Direktor zu gehen und ihm meinen Wunsch möglichst raschen Vorwärtskommens mit Berufung auf mein Alter und meine Vermögenslage offen auszusprechen. Ein Schritt, der in Anbetracht meiner sonstigen Blödigkeit allein ein Beweis ist, in wie seltener Weise unser "Alter" es verstand, seine Schüler in vollem Vertrauen an sich zu ziehen. Er nahm die Bitte aufs gütigste und wohlwollendste auf und brachte sie zu meiner großen Freude zur Erfüllung. Bedenken hatten der Versetzung auch allein nur in der Mathematik entgegengestanden, die der betreffende Lehrer durch einige Privatanleitungen zu heben auf sich genommen. Wie sehr ich in den alten Sprachen für die Klasse reif war, bezeugt wohl allein die Tatsache, daß ich für meinen ersten lateinischen Aufsatz sogleich dem allerbesten Zeugnis ganz nahe kam. Das gewöhnlichste Prädikat war Libenter legi[87], das durch größere und sorgsame Schrift in seinem Werte gesteigert, durch Abkürzung, Lib. legi, oder pluraque lib. legi[88] herabgezogen zu werden pflegte; No. 1 hieß Places[89]. Unter meinem ersten recht langen und ohne Schwierigkeit niedergeschriebenen lateinischen Aufsatze stand nun, - ich habe es nie vergessen und schreibe es zur Stunde aus dem Gedächtnis, der wörtlichen Genauigkeit sicher, nieder in ungewöhnlich großen Schriftzügen: Libenter legi ac placere te etiam dicam, nisi sphalmata quaedam videam, quae brevi abstersa fore confido[90]. Ja, diese sphalmata![91] Ich bin sie auf der Schule, selbst auf der Universität, nicht völlig los geworden und habe mit einem Aufsatze das viel begehrte Places, wenn ich recht erinnere, nie erreicht, in Exerzitien und den regelmäßig beigefügten rhetorischen Figuren einige Male. Das wird auch der Grund gewesen sein, warum der verehrte, mir so wohlgesinnte Mann im Abgangszeugnis für Latein mir die erste Zensur nicht geben zu können geglaubt hat, obwohl ich ohne falsche Bescheidenheit sagen darf, daß meine freien lateinischen Aufsätze lateinisches Sprachgefühl und sog. lateinische Farbe in einem Maße zeigten - ich besitze noch mehrere Hefte - wie ich sie später bei meinen eigenen Schülern nie gefunden habe. Die Zurückgabe der Exerzitien ist mir denn auch als Lehrer wie als Schüler eine der interessantesten Stunden geblieben. Wer unter Jacob's Leitung den Laokoon von Lessing übersetzt hat, wird einen Schmack[92] von der vielgenannten geistigen Gymnastik davongetragen haben, die ein Meister der Sprache mit diesen Übungen zu erzielen verstand. Das Programm[93], in dem er gerade diese Exerzitien besprach, ist in der Gelehrtenwelt berühmt geworden.

Mit Vergnügen hörte ich auch den Direktor den Cicero (de oratore), mehr noch den Horaz, am meisten aber den Tacitus auslegen, zu welchem letzteren Schriftsteller ich ein auf vollem Verständnis beruhendes, persönliches Verhältnis gewann; eine Folge wohl davon, daß unser Direktor diesen Schriftsteller auch am meisten in sein Herz geschlossen zu haben geständig war. Vertraut war er auch in vollem Maße mit dem Horaz, wie seine Schrift: "Horaz und seine Freunde"[94] genügend beweist. Aufgefallen ist mir nur später, als ich durch eigene Erklärung in der Kieler Prima diesen Dichter auch als Menschen tiefer kennen und würdigen lernte, - während das Wohlgefallen an dem Tacitus sich verlor -, daß er, soweit ich erinnere, nie die mehreren Züge hervorgehoben hat, die dieser römische Dichter mit unserem Goethe gemein hat, vor allem die kühle, gelassene Lebensauffassung, die reife Weisheit und Menschenkenntnis, die große Wahrhaftigkeit des Lebens wie des Dichtens. Immer gedankt habe ich ihm, daß er uns überhaupt römische, zumal horazische Verse lesen und als Musik zu empfinden gelehrt hat. Er selbst erzählte uns, von Friedrich August Wolf des leidigen Skandierens entwöhnt zu sein, dessen Übung bis zur Stunde auf allen preußischen Schulen gefordert und betrieben, den Vortrag eines schönen horazischen Liedes für ein feineres Ohr zu einem wahren Schrecken zu machen imstande ist. Keine moderne oder antike Nation hat ihre Poesie nach dem Versmaß gelesen, es wäre auch der Tod jeder Poesie gewesen; sondern nach dem Sinn der Worte und Sätze trotz des Versmaßes; gerade aus dem Widerstreit und der Versöhnung zwischen Vers-Ton und dem Sinn-Ton geht die unvergleichliche, im Deutschen garnicht erreichbare Musik, das wunderbare und liebliche Gewoge des antiken Rhythmus hervor. Skandieren ein Lied wie Otium divos[95] oder Aequam memento[96] können nur Barbaren. Aber auch hierin macht sich der preußische Militarismus geltend: es klappt so besser, mag es auch klappern. Freilich ist ein solches Lesen, wie ich es von meinem Jacob lernte und meinen Schülern wieder zu lehren und vorzumachen versucht habe, nicht anders erreichbar als durch Lesen auch der lateinischen Prosa nach der Länge und Kürze der Silben, und diese Kenntnis fordert mit Notwendigkeit, wenn sie anders zur unbewußten Fertigkeit führen soll, die Übungen im Verse machen, die uns auf der Lübecker Schule aus guten Gründen und mit gutem Erfolge angesonnen wurden. Für wen solche Übungen zu schwer sind, der tut besser, dem Studium der alten Sprachen fern zu bleiben.

Viele Mühe und Arbeit kostete uns Sophokles; aber ich darf sagen, daß ich trotz des fortdauernden Kampfes mit der Sprache, zumal der Chorlieder auch, seines "Geistes einen Hauch gespürt"[97]; ein Lied wie **********, ***** ***** ******** ****[98] kann schon ein Jüngling auch verstehen, wenn er anders so viel auf sich geachtet hat, um der Macht des Bösen innegeworden zu sein. Für die sittliche Hoheit und menschliche Fehlbarkeit einer Antigone, für die erbarmungslose Tragik im Schicksal eines Ödipus, der dem Bösen nur einen Finger gereicht, aber eben damit von Betörung und Überhebung sein Herz nicht ganz rein gehalten hat, läßt sich auch schon das jugendliche Auge öffnen. Die ganze Tiefe des hellenischen Schuld-Begriffs vermag freilich erst der männliche Verstand und die gereifte Erfahrung zu fassen. Für sie aber bildet die hellenische Dichtung eine Freuden- und Erbauungsquelle, der wohl mancher seine schönsten Lebensstunden verdanken mag. Der deutschen studierenden Jugend die griechische Welt zu erschließen bloß deshalb, weil auch Unberufene sich herandrängen, können nur Unberufene raten. Daß dieser Rat in unseren Tagen unter einem Kaiser, der auch Pädagogik studiert zu haben glaubt, weil er ein Stück Gymnasialbildung sich angeeignet hat, über kurz oder lang einmal Wirklichkeit werden könnte, lassen die neuen Anordnungen befürchten, welche die ganze klassische Bildung der Gymnasien, d.h. die Gymnasien selbst, einen der Grundpfeiler des deutsch-protestantischen Reiches, von Grund aus zu zerstören drohen. Es ist zu hoffen, daß der Wahrheits- und Wissensdurst, der den Deutschen glücklicherweise im Blute liegt, über kurz oder lang siegreich wieder durch alle Täuschungen und Tröstungen zu den reinen und frischen Quellen zurückdrängen wird.

Mein Verhältnis zu den Mitschülern blieb auch in Prima das erwünschteste; ja, ich darf sagen, ich genoß eines großen Vertrauens und in dem Kreise der Mehrheit, je älter in der Klasse ich wurde, eines gewissen Ansehens. Es sonderten sich nämlich schon hier auf der Schule die beiden Richtungen und Kreise, welche auf der Universität in Corps und Burschenschaft gänzlich auseinander zu treten pflegen. Die studentischen Corps fanden hier eine Art Vorschule in dem engeren Zusammenhalten holsteinischer, auch wohl einmal meklenburgischer Adliger, die, wie gewöhnlich, eine Anzahl bürgerlicher und reicher Lübecker oder Hamburger Patricier-Familien an sich zogen. Ohne eigentliche Gegner- oder Feindschaft hielten sich diese jungen Herren von der bürgerlichen oder bäuerlichen Mehrheit fern. Nur selten war einer grün oder dumm genug, mit seinem ganzen Standesvorurteil inmitten dieser groben Plebejer hervorzukommen; so ein Heintze, der durch die Aufschrift seines Präparationsbuches, Heintzius patricius, den Spott seiner Genossen herausforderte; so ein Oertzen, aus Mecklenburg, der auf die bewundernden Worte eines Mitschülers über Theodor Körner nur die Bemerkung hatte: der wäre nicht mal von Adel gewesen! Klug versteckt lebten diese Vorurteile wohl in allen. Einer seltenen Ausnahme werde ich unten gedenken.

Beide Gruppen gingen ihre eigenen Wege, namentlich außerhalb der Schule, fanden sich auch während der Pausen von selbst zusammen. Jede hatte ein wissenschaftliches Kränzchen, in dem freie Arbeiten, Dichtung oder Prosa, beurteilt und auf Bericht eines bestellten Recensenten besprochen wurden.

Um dem Geselligkeitsbedürfnis entgegenzukommen, hatte unser Direktor in den letzten Wintern, die ich auf der Schule zubrachte, sogenannte gesellige Abende eingerichtet. In dem Gasthof Hotel du Nord, bekannt als einstige Wohnung des Senators Rodde und seiner Frau, geb. Schlözer, Dr. phil., versammelten sich 4 bis 5 Mal im Winter die ersten Familien der Stadt, um der Aufführung eines Spieles, sei es eines bekannten deutschen Dichters und Klassikers, sei es auch ein von dem Direktor eigens zu diesem Zweck gedichteten beizuwohnen. Er hatte eine nicht ganz gewöhnliche dichterische Begabung. Seine Dichtungen sind unter dem Titel "Lübsche Spiele"[99] später veröffentlicht. Das eine war die mit Humor travestierte Sage von der Genofeva, in der Bäume und Tiere mit auftraten, das andere eine Verhöhnung des jungen Deutschlands und der Helden der Hallischen Jahrbücher[100], denen er ein erbitterter Gegner war. Die Einübung wie Aufführung hat uns unsäglichen Spaß gemacht; von keinem mehr als den Hussiten vor Naumburg[101], wo ich einen der Ratsherren darzustellen hatte. So groß sonst noch immer meine Blödigkeit war, besonders bei öffentlichem Hervortreten, so gänzlich fiel sie von mir ab, wenn ich gleichsam als ein anderer, nicht aber als Karl Jansen, aufzutreten hatte. Ich war mutwillig genug, in Ton, Redewendungen und Handbewegungen den armen Roquette nachzuahmen, namentlich auch Prisen zu erbitten und zu nehmen aus fremden Dosen, nach seinem Vorbild, sodaß, zumal in den Proben, das Lachen groß war. In dem Göthe'schen Bürgergeneral wurde mir sogar die Hauptrolle übertragen; doch tat, nach meiner Erinnerung, das Stück bei weitem nicht die Wirkung des Kotzebue'schen. Ob mehr Stücke als die erwähnten zur Aufführung gekommen sind, ob diese Abende sich länger gehalten haben, vermag ich nicht zu sagen. Eine wirkliche Einführung unbekannter, meist auch unbeholfener junger Leute in die Gesellschaft Lübecks konnte wohl nicht so leicht gelingen.

Eine große Freude bildete alljährlich um Johannis[102] das Schulfest, an dem die ganze Schule mit Lehrern und Schülern, auch manchen Gästen nach dem benachbarten Israelsdorf oder nach Schwartau in den Riesebusch ausrückte und in allerlei Spielen, am meisten aber für die Großen "Räuber und Soldat" sich austobten. Die Bewegung im Freien, der ungezwungene Verkehr zwischen Lehrern und Schülern, die dem Deutschen angeborene Lust am grünen, dunklen Walde, das Messen und Ringen im Einzelkampfe gewährte echte Jugendlust. Ausnahmsweise wurde auch einmal ein kleines Spiel aufgeführt, so eins von meiner Mache, genannt, wenn ich nicht irre, Philemon und Baucis. Knittelverse wurden mir immer leicht genug; ob aber irgend eine Handlung oder Mittelpunkt darin war, weiß ich nicht mehr. Vielleicht liegt es noch unter meinen Lübecker Papieren.

Einiger Freunde möchte ich noch gedenken, die freilich alle mehr mich gesucht hatten, als daß ich ihnen entgegengekommen wäre, die ich aber denn doch auch meinerseits sehr liebgewonnen hatte, obwohl auch diese Freundschaften unser Zusammensein und unser Zusammenleben als Gleiche in einer größeren Gemeinschaft nur kurz überdauert haben. Mit einer gewissen Zärtlichkeit hatte sich schon in Tertia Karl v. Rumohr an mich angeschlossen, ein Vetter des oben genannten Werner, ein Knabe von fast weiblicher Zartheit und Weichheit, auch Reinheit der Seele, mit milden blauen Augen bei dunklem Haar und zarter, aber gesunder Gesichtsfarbe. Er trug kein Bedenken, den damals noch mehr als später bäurischen, älteren und größeren Burschen vom Lande aufzusuchen, mit ihm zu arbeiten - wir versuchten uns an Sallust Catilinarium[103] - und sich ihm als dem leitenden freudig unterzuordnen. Ich hatte ihn auch besonders meinerseits lieb, habe ihn aber trotzdem schon von Sekunda an, wo er auf eine andere Schule gekommen sein muß, für immer aus den Augen verloren.

Eine Natur von ganz anderer Art war Steinfass, Sohn eines meklenburgischen Gutsinspektors, von der Rostocker Schule, wo er wohl mehr vom Leben genossen hatte, als gut war, in die Lübecker Sekunda versetzt, ein sehr begabter, aber in seinem ganzen Äußeren, in Bewegungen, Gebärden, Sprachen auffallend unbeholfen und wunderlich, dabei von fast kindlicher Harmlosigkeit, mit einer ungemeinen Empfänglichkeit für das Komische, begeistert für den Gedanken der Freundschaft, zu dessen Verwirklichung er in mir die geeignete Persönlichkeit gefunden zu haben glaubte. Er war mir lange mit einer schwärmerischen Ergebenheit zugetan, die ich nicht ganz in gleicher Weise zu erwidern vermochte. Bei einem mehrtägigen Besuche auf "Burg Stowe", so nannte er das von seinem Vater verwaltete Gut, konnte ich einen Einblick tun in meklenburgisches Leben und Denken, das mir durch sittliche Läßlichkeit und Leichtigkeit einigermaßen an polnisches Wesen zu erinnern schien. Daß Vater und Sohn auf dem Fuße völliger Gleichheit verkehrten, war mir neu. Eine Hausfrau oder Geschwister waren nicht vorhanden; Gastfreundschaft wurde mit slawischer Verschwendung geübt. Nicht lange nach diesem Besuche bekam das Verhältnis einen Stoß, löste sich freilich nie ganz, gewann aber auch, wie das zu sein pflegt, die frühere Innigkeit nicht wieder. Auch Steinfass habe ich seit meinem Abgang von der Schule aus den Augen verloren. Gehört habe ich später, daß er, obwohl auf der Schule ein völliger Freigeist, doch Theologie studiert habe und ein regelrechter meklenburgischer Pastor geworden sei. Seine Lehrer hielten ihn zu bedeutenden Leistungen befähigt; wenn sie ausgeblieben sind, mag es sein, daß dazu mehr die sittlichen als die geistigen Bedingungen gefehlt haben.

Der begabteste wohl unzweifelhaft aller meiner Mitschüler und auch einer von denen, mit welchen ich lange, zumal später in Berlin, aufs engste verkehrt habe, ohne bei seinem starken Selbstbewußtsein und kühlen Egoismus je mit ihm befreundet zu werden, war Gidionsen, Sohn des Organisten aus Waab in Schwansen, jetzt noch Direktor der Schleswiger Schule. Seine Leistungen  in Lübeck, nachher im Seminar in Kiel und Berlin, erregten bei seinen Lehrern Aufsehen und große Erwartungen, denen er doch später durch wissenschaftliche Leistungen wenigstens nicht in dem Maße entsprochen hat. Liebenswürdiges hatte er in seinem zugeknöpften Wesen nichts. Durch die Nachbildung der Göthe-Schillerschen Xenien auf die sämtlichen Mitschüler in Prima, ausgenommen allein mich und, wie ich meine, noch einen anderen, erregte, da die Sache und die Verse bekannt wurden, eine solche Erbitterung in der ganzen Klasse, daß sie einst in einer Pause zu einem Selbstgericht schritt, von allen Seiten wütend über ihn herfiel und jämmerlich genug mit Schlägen und Ausbrüchen der Entrüstung und Verurteilung zurichtete. Die Sache kam auch vor den Direktor, und ohne äußerliche Strafen, nur durch strafende und mahnende Worte nach beiden Seiten hin wußte er der Verfolgung des Geächteten, wenn auch nicht dem Groll und der hochangeschwollenen Erbitterung ein Ziel zu setzen. G. hatte seine Überhebung teuer bezahlt. Er ist nachher Prinzen-Erzieher in Oldenburg und Hofrat geworden, kehrte 1864 in seine Heimat zurück, und es fehlte nicht viel, so wäre ich in Husum sein Amtsbruder und Untergebener geworden. Daß das nicht zu meinem Glück gewesen wäre, bewies mir später die Unzartheit gegen meine Frau und die Bosheit gegen mich, die er am Philologen-Tage in Kiel uns als Gastgeschenk widmete. Seitdem haben wir kein Wort mehr miteinander gewechselt.

Recht befreundet war ich auch mit Burmester, dem Sohn des Pastors B. in Grönau bei Lübeck, einem gescheuten und sittlich festen Menschen. Mit ihm und zwei anderen, wie ich meine, machte ich eine Reise, welche als bezeichnend angesehen werden darf. 1842 hielt das X. deutsche Armee-Corps, zu dem auch die Holsteiner-Lauenburger - im Lager nur die Dänen genannt - gehörten, mehrtägige Feldübungen bei Lüneburg. Wir faßten den Entschluß, dieses so leicht nicht wieder gebotene kriegerische Schauspiel mit zu beleben. Burmester besorgte uns durch einen Bekannten für einige Tage ein bescheidenes Zimmer mit Kaffee; die Reise selbst wurde natürlich zu Fuß gemacht, her sogar an einem einzigen Tage mit Hilfe einer kurzen Wagenfahrt, 10 starke Meilen. In Lüneburg wurde von Butterbrot, Aal, Obst u.a. auf dem Feldfuße gelebt, das alles bei nicht ganz geringen Wanderungen auch während der Manöver-Tage, die Aufpassen, Warten und Laufen erforderten, wenn man von den teilweise außerordentlich fesselnden Bewegungen der 30000 M. etwas rechtes sehen wollte. Erschöpft, aber sehr befriedigt und voll Selbstgefühl kamen wir zurück: die ganze Unternehmung von 4-5 Tagen hatte, wenn meine Erinnerung nicht zu hoch greift, 4 *[104] Courant gekostet. Zu entbehren war damals noch Ruhm und Lust.

Als Haus-, nicht als Klassen-Genosse war mir von Plüskow bekannt und befreundet, Sohn eines meklenburgischen Edelmannes, der in Hamberge[105] bei Trittau als Privatmann wohnte. Auch mit ihm habe ich eine Ferienreise gemacht. 1842 am Tage vor Himmelfahrt brach bekanntlich die furchtbare Feuersbrunst aus, die einen beträchtlichen Teil Hamburg's in Asche legte. Schon am Freitag erfuhr man in Lübeck, wo viele Hamburger die Schule besuchten, aus deren Briefen Näheres über die Größe des Unheils. Unser beweglicher Professor Claßen, selbst ein Hamburger, war in der größten Erregung; die ganze Stadt nahm den lebhaftesten Anteil an dem Schicksal der nah und vielfach verbundenen Schwester. Abends waren die höchsten Punkte des Walles mit Menschen besetzt, die den Feuerschein des Brandes sehen wollten. Erst Dienstag und Mittwoch kamen Nachrichten, welche die Gefahr als beseitigt darstellten. Wir wurden einig, die Pfingstferien zur Besichtigung der Trümmer zu benutzen.[106] Plüskow lud mich ein, zu dem Ende zunächst mit ihm seine Heimat zu besuchen, einen freundlichen Ort und einen anmutigen Wohnsitz. Die Eltern kümmerten sich nicht viel um uns; die Mutter wohl garnicht; von dem Vater erinnere ich nur den Ausdruck seiner Verwunderung über mein stummes und bildsäulenartiges Dasitzen; denn ich sagte in der Tat vor Fremden und in größerem Kreise von Erwachsenen ungefragt kein Wort und gefragt nur das allernotdürftigste und auch das nur unter dem unvermeidlichen Rotwerden. Ich begreife heute sehr gut, daß ich damals und noch lange später Unbekannten, die mich so dasitzen oder stehen sahen, eine wunderliche und langweilige Erscheinung gewesen sein muß. Aber es lag ein Bann auf mir, den ich schlechterdings nicht los werden konnte. Plüskow hatte zwei Schwestern, eine blonde und eine dunkle, eben erwachsen, beide gleich anmutig von Gestalt und Bewegung, schön von Gesicht, durchaus einfach, natürlich und zutunlich, mit uns zu wandern, zu rudern, ohne Ziererei, immer bereit; obwohl von dem Zauber ihrer Gegenwart sehr angetan, werde ich auch wohl gegen sie, unmittelbar und geradezu, kaum mehr als zehn Worte zu äußern gewagt haben. Blödigkeit und Menschenfurcht war es im Grunde auch nur, wenn ich mich gegen meinen freundlichen Wirt einer entschiedenen Unhöflichkeit schuldig machte. Als wir nämlich in Hamburg die rauchenden und auch noch brennenden Trümmer der Stadt genugsam angesehen hatten, wollte ich auch kurz meine Verwandten in Altona begrüßen, versprach aber, zur Abfahrt wieder da zu sein. Meine Herren Vettern erklärten mir aber sofort gebieterisch, als wenn sie mir das geringste zu befehlen gehabt hätten, ich könne nicht gleich wieder mit zurück, sondern bliebe bei ihnen. So sehr ich den Wortbruch scheute und Gegenvorstellungen machte, hatte ich nicht soviel Mut oder Kraft, auf meinem Willen zu bestehen. Als ich dann einige oder einen Tag später über Hamberge zurückkam, merkte ich an der kühleren Aufnahme, daß mein Benehmen verletzt hatte. Nach der Konfirmation ging der junge Plüskow ab. Ich habe von ihm wie von der ganzen Familie nie wieder etwas gehört.

Wiedergesehen ein einziges Mal habe ich meinen mehrsemestrigen Nebenmann und Mitabiturienten Kästner aus Burg auf Fehmarn. Ich erwähne seiner besonders, weil er von körperlicher Entwicklung, jugendlicher Gesundheit und Blüte, Kraft und Fülle der Formen mit seinem frischen und gebräunten Gesicht und dem kastanienfarbenen, weichen Lockenhaupt mir als eine wahre Idealgestalt erschien, an welche selbst kräftige sonstige Genossen auch entfernt nicht heranreichten. Und dennoch, bei so günstigen Vorbedingungen eines hoch beglückten Mannesalters und eines langen und kräftigen Lebens ist ihm durch Selbstmord seiner Frau im Leben Schweres und ein sehr früher Tod in den besten Jahren beschieden gewesen. Wie manches Menschendasein geht unverstanden oder als ein Rätsel dahin: Die Wirkungen treten in die Erscheinung, die oft tief, tief liegenden Ursachen bleiben verdeckt. "Wer erfreute sich des Lebens, der in seine Tiefen blickt!"

Ostern 1844 wurde ich primus omnium. Als solcher übte ich nun selber, was ich vor 5 Jahren den damaligen primus primae Schwartz, jetzigen Propsten und Konsistorialrat in Garding, halb mit Neid, halb mit Bewunderung hatte üben sehen, d.h. ich hatte bei der Andacht der versammelten Klassen Mittwochs und Sonnabends aus einem dazu bestimmten Buche, von der Flügeltür zwischen Tertia und Sekunda aus, einen selbstgewählten Abschnitt zu verlesen. Gesang eröffnete und schloß die gemeinsame Andacht; ein Lehrer oder der Direktor ergriff das Wort nicht, natürlich waren sie zugegen. Daß unser Jacob sich diese Gelegenheit der Einwirkung auf seine Schulgemeine entgehen ließ, besser, diese ihm offenbar zufallende Pflicht des Familienvorstandes als solche nicht anerkannte und übte, kann ich mir kaum anders als aus der auch ihm eigenen Scheu vor öffentlichem Auftreten erklären. Nur bei Schul-Akten konnte er sich der Verpflichtung zu reden nicht entziehen und, was er sagte, war nicht in den Wind geredet. Claßen hat in seiner Lebensbeschreibung[107] schöne Proben davon gegeben.

Michaelis 1844 war mein zweijähriger Kursus in Prima vollendet. Das Scheiden aus dem bisherigen, mir so lieb gewordenen Lebenskreise, die Zerschneidung vieler enger Bande bewegte mich sehr; die akademischen Freuden lockten mich wenig. Als erster der beiden Abgehenden - Ostern war der eigentliche Abgangstermin - hatte ich vor einer Versammlung aus der Stadt, die sehr zahlreich zu sein pflegte und meist aus den ersten Kreisen war, eine lateinische Rede zu halten. Eines Abgangs-Examens bedurfte es für Holsteiner nicht, das Zeugnis genügte. Im Ganzen, darf ich wohl sagen, war ich namentlich in den Sprachen recht gut vorbereitet, erhielt auch ein Zeugnis ersten Grades. Meine Rede behandelte einen Gegenstand, der unserem Direktor sehr am Herzen lag, die Duldsamkeit, die Toleranz gegen Andersdenkende, "de aequitate judicii"[108] hatte schließlich er mir geraten, sie zu benennen, statt einer schleppenden Umschreibung mit einem Relativ-Satz. Am Schlusse gab ich, der gewöhnlichen Sitte entsprechend, unserem Danke gegen die Lehrer einen recht starken und warmen Ausdruck. Ich war nahe daran gewesen, es mit einem Satz über das Gewöhnliche hinweg in der Muttersprache, der Sprache des Herzens zu tun, was mir fast als ein unabweisbares Bedürfnis schien und was, wenngleich ein gewisses Aufsehen erregt, doch auch unzweifelhaft einen guten Eindruck gemacht hätte. Meine leidige Blödigkeit hielt mich noch im letzten Augenblick von dem ungewöhnlichen Schritte zurück. Als es zu spät war, habe ich es lange bedauert.

Am 26. September, - es war einer jener sonnigen, mildewarmen Herbsttage, die uns unser sonnenloses Klima zuweilen bringt, - schied ich aus der Stadt, wo ich die schönen Jahre des angehenden Jünglingsalters, des verheißungsvollen stetigen Wachsens und Entfaltens aller körperlichen und geistigen Kräfte ohne andere Trübung und Störung als durch eigene Sünde hatte erleben dürfen. Meine Mitschüler hatten beschlossen, - einige 2 oder 3 hielten sich fern - mir ein Komitat[109] zu geben. In einem äußerst stattlichen Wagen und Zuge brachten sie mich bis an die Eutiner Grenze nach dem benachbarten Schwartau. Hier wurde in schäumendem Wein der Abschieds-Trunk genommen. Mit einem sehr beschwerten Herzen wanderte ich dann allein nach dem nicht fernen Parin, wohin meine Eltern oder mein Vater vorauf gefahren waren. Der grausame Scherz meines Vaters, der doch über die Ehre seines Sohnes erfreut sein mußte, sie hätten mich ja wohl zum Besten haben wollen, verletzte mich sehr. Meine Seele war wund. Das Vorgefühl schwerer Jahre lag auf mir. -

Ende Oktober war herangekommen. Der Buchenwald war braun geworden. Ein Tag ist mir in Erinnerung geblieben, wo meine Schwester, damals noch im vollen Kampfe mit ihrem Herzensgram, im Hinblick auf die fallenden Blätter im Stenbek, - ich kann noch die Stelle zeigen - das Wort aussprach: wenn die wieder grünen, dann wissen wir schon mehr.

Mein Vater fuhr mich mit meiner Kommode und meinen wenigen Sachen nach Kiel. Der Prof. Mau als damaliger Rektor schrieb mich ein; sein kleiner Sohn, August Mau, jetzt in Rom, mein lieber Schüler später in Kiel, spielte bei ihm herum. Ich bekannte mich als stud. philologiae et theologiae. Daß ich Theologie studieren werde, war von vornherein vorausgesetzt; ich hatte, wenn ich nur überhaupt studieren durfte, auf die nähere Wahl des Studiums nie einen Wert gelegt und um den damit verbundenen Lebensberuf mich noch weniger gekümmert. Hinzu kam, daß ich auf Stipendien, wenn nicht geradezu angewiesen, doch sehr rechnete, die für Theologen reichlich, für Philologen, soweit ich damals unterrichtet war, garnicht vorhanden waren. Im Grunde war ich schon damals von dem inneren Triebe zum Prediger-Berufe, den ich einst gefühlt hatte, nicht mehr erfüllt. Jedoch belegte ich für das erste Semester lauter theologische Kollegien; von denen abgesehen, die der allgemeinen wissenschaftlichen Bildung dienten. Ich war fleißiger, nahezu ununterbrochener Hörer und sorgsamer Nachschreiber, um so mehr, als die meisten diktierten oder diktierten und erklärten. Die deutsche Geschichte bei G. Waitz arbeitete ich sogar zu Hause mit Hilfe des Gedächtnisses aus und besitze bis zur Stunde von ihr ein gutes Heft. Sie fesselte mich auch am meisten, da man dem keineswegs irgendwie glänzenden, sondern sehr schlichten und nüchternen Vortrage vom sorgfältig ausgearbeiteten Konzept doch bald die Gründlichkeit der Studien, auf denen er beruhte, anmerkte, auch von der etwas befangenen und blöden Persönlichkeit des Vortragenden den Eindruck eines ganzen Mannes hatte. Ich war zudem von Claßen an ihn empfohlen und ward mit großer Freundlichkeit und Nachsicht von ihm behandelt, auch an seinen Tisch geladen - er stand damals in den ersten Jahren seiner hochbeglückten Ehe mit der Tochter Schellings - und mag mit meiner blöden Unbeholfenheit eine schöne Figur gespielt haben. Bis zum Ende seines Lebens, das ihm in noch voller Kraft und glücklichsten Lebensverhältnissen kurz nach der Feier des 100-jährigen Geburtstages Dahlmann's und kurz vor seinem eigenen 50-jährigen Doktor-Jubiläum gesetzt war, hat er mir sein Wohlwollen bewahrt. Auch Ratjen, Professor der Rechtsgelehrsamkeit und Bibliothekar der Universität, Nachfolger Dahlmann's als Sekretär der Ritterschaft[110], und seine hochgebildete, kluge und schöne Frau, eine geborene Ackermann, zogen den ungeschliffenen und vor lauter Blödigkeit fast stummen Fuchs auf Empfehlung gleichfalls von Claßen sehr freundlich an ihren Tisch; es war damals neben Hegewisch eines der ersten und gesuchtesten, von einer fröhlichen Kinderschar belebten Häuser Kiel's. "Der Vater" könnte man sagen, "ewig ernst und düster, die Mutter helle immerdar." Wie später bei mir, wunderte man sich, wie die hübsche Frau zu dem weder hübschen noch anziehenden, etwas sonderbaren, im Grunde freilich wohlwollenden Manne gekommen sei. Auch er hat mir sein Wohlwollen bis zuletzt bewahrt. Ich meinerseits habe mich eher der Undankbarkeit oder Rücksichtslosigkeit anzuklagen, die aber auch wieder nur aus der dummen Blödigkeit hervorging. Die Zeit hat an diesem damals so glücklichen - wie freilich an so vielen, vielen anderen! - die Gewalt ihres langsamen, aber unerbittlichen Ganges in einer Weise bewiesen, die mich immer mit Wehmut über die Hinfälligkeit und Nichtigkeit des irdischen Wesens erfüllt hat, ohne daß es gerade von außerordentlichen Schicksalsschlägen betroffen worden wäre.

Ich trat auch in das philologische Seminar. In Nitzsch, dem Professor der Eloquenz, wie der Titel des philologischen Professors damals lautete, dem Bruder des berühmten Theologen Nitzsch (Immanuel), trat uns die lauterste, schlichteste und tapferste Persönlichkeit, auch sie mit großem Wohlwollen, entgegen. Nitzsch war eher klein von Wuchs, auch nicht eben gedrungen und untersetzt, dabei aber von völliger männlicher Entwicklung und mit einem verhältnismäßig großen Haupte und Gesichte von seltsamem Ebenmaß der gewölbten und gespaltenen Stirn, der leise gebogenen, die Linie der Stirn wiederholenden Nase, feinem Munde und hervortretendem Kinn. Unter sein sehr wohl getroffenes Bild hat er die so wahren, für sein Wesen ungemein bezeichnenden Worte des Euripides gesetzt ****** **** *******, ***** ****** ***** *******, * ******** **** *****[111]. Er war ein schlicht gläubiger Protestant und über seine Stellung zu Personen und Sachen nie verlegen. Sein Blick hatte etwas ungemein Festes und Fragendes und vereinte Wohlwollen und Freundlichkeit mit großem Ernste. Er sprach teils nach natürlicher Begabung, teils infolge eines leichten Schlaganfalles, der ihn vor einiger Zeit betroffen, deutsch nur langsam und zögernd, und sein akademischer Vortrag war keineswegs anziehend oder fesselnd, litt auch unter dem von ihm offenbar nie gefühlten Mangel einer durchgreifenden und beherrschenden Einteilung des Stoffes. Im Seminar, wo er Latein sprach, fließend und in wohlgeformtem Gefüge, habe ich ihn nie um das richtige und treffende Wort verlegen gesehen. Sein eigentliches Gebiet war die "Sagenpoesie der Griechen", insonderheit der homerischen Gedichte, die er mit guten Gründen einem und demselben schöpferischen Geiste zuschrieb. Den religiösen und sittlichen Gehalt des hellenischen Epos und der Tragödie hatte er mit tiefem Blicke erkannt und durchschaut und wußte ihn mit innerem Anteil überzeugend seinen Hörern darzulegen, mir zu erbaulichem Genuß und bleibendem Gewinn.

An den Professor der Theologie Pelt, an den Kollaborator Lilie, den Hauptpastor von Nicolai, und Propsten Harms war ich durch den Pastor D. Funck in Lübeck empfohlen. Sie empfingen mich alle freundlich; näher getreten bin ich ihnen nicht. Jedoch bin ich von dem berühmten Kirchenvater Harms, wie man ihn wohl nennen kann, lange ein treuer Zuhörer gewesen. Auf dem damals noch getrennten Studenten-Chor saß bei ihm die ganze theologische Studentenschaft mit vielleicht einigen Ausnahmen, auf dem Professoren-Chor die ganze theologische Fakultät regelmäßig und ausnahmslos. In der ganzen Kirche sah man eine große Zahl von Stammgästen. Auch seine Gegner konnten sich doch der Macht seiner geistlichen Persönlichkeit nicht entziehen.

Nicht unerwähnt lassen darf ich hier den Maler Rehbenitz. Ursprünglich zum Studium entschlossen und bis zur Universität vorbereitet, hatte er sich der Kunst zugewandt und mehrere Jahre in Italien verbracht, besonders in Rom, wo er sich den Nazarenern[112] angeschlossen hatte. Reisebeschreibungen und Erinnerungen tun seiner als eines beliebten, aber bescheidenen Mitgliedes der deutschen Kolonie der Bunsen'schen Zeit mehrfach Erwähnung. Er war die Anspruchslosigkeit und Herzensgüte selbst, in der ganzen Kieler Gesellschaft, namentlich als Universitäts-Zeichenlehrer in Universitätskreisen, die beliebteste und fast verehrteste Gestalt; auch mich nahm er mit größter Liebenswürdigkeit auf; vom zweiten Semester an wohnte ich sogar mit ihm in einem Hause bei den Fräulein Pawolofski. Besuche bei ihm hatten ihre Schwierigkeit, nicht etwa wegen der Einfachheit seiner Junggesellen-Wirtschaft, sondern wegen der Wortkargheit oder Stoff-Verlegenheit des meist nur mit freundlichem Lächeln redenden, liebenswürdigen alten Herrn. Er gab einem dann wohl ein Buch in die Hand und setzte sich an seine Staffelei. Auch über Italien und die manchen bemerkenswerten Persönlichkeiten, die er dort kennengelernt hatte, war nichts aus ihm zu entlocken, was vielleicht auch in meiner Unkunde seinen Grund hatte. Bei alledem hörte ich nicht auf, ihn von Zeit zu Zeit zu besuchen und, als ich später an die Kieler Schule versetzt wurde, hatte ich das Vergnügen, ihn hin und wieder bei mir zu sehen. Ein Stein, von seinen vielen Freunden gesetzt, auf dem alten Kirchhofe erinnert an ihn; das jetzige Kiel weiß nichts mehr von ihm.

Vom eigentlichen studentischen Leben schlossen verschiedene Umstände mich aus. Meine Universitätsjahre sind freudlos und einsam verlaufen. Unangenehm und als eine amtliche Unwahrheit empfand ich es, daß mir vom Rektor Wort und Handschlag abgenommen wurde, nicht in eine verbotene Verbindung treten zu wollen, während doch in Kiel und anderswo mehr als eine Verbindung bestand, die allen vom Gesetz aufgestellten Kennzeichen des Begriffes einer verbotenen Verbindung entsprachen und die Albertina eine anerkannte Fortsetzung oder Wiederaufnahme der allgemeinen deutschen Burschenschaft war. Auch wußten die bemoosten Häupter, welche die Füchse in eigenen Zusammenkünften über die studentischen Hauptangelegenheiten und Fragen, das Duell, die Vereinbarkeit des Verbindungslebens mit dem gegebenen Worte u.a. verhandeln ließen und unterrichteten, nicht anders als durch Trugschlüsse die erhobenen Zweifel zu lösen. Zur Rechtfertigung des Duells hörte ich unter anderem den bekannten jesuitischen Grundsatz anführen: der Zweck desselben sei ein sittlicher, also  das Mittel dazu auch sittlich[113].

Übrigens hätte ich mich auch nicht berechtigt gehalten, meinem Vater die Ausgaben zuzumuten, die eine ganze Hingabe an das Studentenleben kostet. Zwar wäre er, mindestens vom Jahre 1846 an, wo die Butter- und Fettwarenpreise zum ersten Male eine entschiedene Neigung zum Steigen zeigten, - die Butter von 6 auf 8 Schilling, d.h. von 4½ Groschen auf 6 Groschen stieg - sehr wohl imstande gewesen, mich in gleicher Weise zu halten, wie so manche minder gut gestellte ihre Söhne hielten. Aber die Erinnerungen aus meiner Kindheit an die Kate und den Bettelstab wirkten wohl, ohne daß mein Vater je eine Ahnung davon gehabt hat, so nach, daß ich versuchte, von den Sendungen an Butter und einigen anderen Eßwaren abgesehen, mit meinen Stipendien allein auszukommen. Das hielt anfangs schwer, obwohl ich zu dem Convikt[114] bald auch noch ein theologisches Stipendium, seit 1846 auch das philologische und den Schaßianischen Preis[115] für eine Abhandlung über Aristoteles' Politik zur Verfügung hatte. In Kleidung und Nahrung schränkte ich mich auf das Äußerste ein; das Mittagessen zu 4 *[116] bei dem in der Studentenwelt wohlbekannten Schacht, war an Inhalt wie Umfang und Zubereitungsart mehr als bescheiden; erst das Butterbrot am Abend machte meinem Hunger ein Ende. Meinen Sommerrock, noch von Lübeck herstammend, fanden Jungclaußen's, als sie mich einmal besuchten, anstößig. Ich habe auf diese Weise, wie ich damals ausrechnete, meinem Vater auf der Universität nicht mehr als 100 *[117] gekostet und konnte mich seit etwa meinem 22. Jahre als unabhängig von seiner Tasche und auf eigenen Füßen stehend ansehen. Einige wenige Bekannte bildeten meinen gewöhnlichen, aber spärlichen Umgang, und namentlich die Sonntag-Nachmittage starrten mich oft mit schauriger Öde an; von Theater oder sonstigen Vergnügungen war keine Rede.

Als ein Ereignis stellte sich dem Fuchse ein Konflikt der Studentenschaft mit dem akademischen Senat dar. Prof. Herrmann, später in Heidelberg, zuletzt Präsident des evangelischen Oberkirchenrates, hatte ein wiederholtes Verspäten zu rügen sich wohl für berechtigt gehalten. Die Herren Corps-Studenten von der Holsatia, der Verbindung des Adels und seines Schweifes, empfanden das als ehrenrührig. Sie erschienen in Masse in seiner Vorlesung und trampelten ihn aus und heraus. Die eingeleitete Untersuchung führte zu einer ziemlich langen Reihe von Straferkenntnissen gegen fast lauter Mitglieder der ziemlich ausschweifend lebenden Holsatia, von denen, wenn ich nicht irre, 10 oder 12 relegiert wurden. Jetzt kamen auch die anderen Verbindungen in Bewegung, und weil sie in dem gegenwärtigen Falle sie brauchen konnten, auch die übrigen Studenten außerhalb der Verbindungen. Als das Urteil gesprochen und die Verurteilten sofort die Stadt verlassen mußten, zog die ganze Studentenschaft unter erregter Teilnahme auch der Bürger, die wohl schon für eine ihrer Nahrungsquellen bangten, hinaus aus der Stadt nach der nächsten Gemeinde Gaarden, wo das Abschiedsgelage gehalten wurde. Bei diesem ließ die Ankündigung eines der edlen Junker, der die Spuren seines "Studiums" in dem Gesichte trug, an seine Genossen, sie möchten mal herauskommen, einige Freundinnen wünschten sie noch zu sehen, einen Einblick tun in das Leben, in welches die Leiter der Universität einen Eingriff tun zu müssen geglaubt hatten. Es gab Schriften und Gegenschriften über das weltbewegende Ereignis, das bald genug der verdienten Vergessenheit anheim gefallen war. Ein unliebsames Aufsehen erregte es, als von dem König, an welchen die Verurteilten Berufung eingelegt hatten, die Strafen der hohen Herrn, die in Kopenhagen Bekannte und Verwandte in den maßgebenden Stellungen gehabt haben werden, eine bedeutende Milderung erfuhren.

Ein erstes Anklopfen einer wahrhaft geschichtlichen Bewegung und einer neuen Entwicklung für Schleswig-Holstein wie für Deutschland war der Fackelzug, der in demselben Semester kurz vor dem Auseinandergehen in die Ferien von der Studentenschaft 4 Männern gebracht wurde, die als bewährte Vertreter der schleswig-holsteinischen Ansprüche anerkannt waren: Droysen, Olshausen, Falck und Hegewisch[118]. Von den Reden erinnere ich nur zwei abgerissene Äußerungen aus der von Droysen und aus der von Olshausen. Droysen, damals im Schiff'schen Hause in der Schloßstraße wohnend, erste Tür südlich, wies auf den Beruf mehrerer deutscher Universitäten hin, wie Königsberg, Bonn u.a., auch ein Stück Grenzwehr mit zu übernehmen; diese Aufgabe sei auch Kiel geworden. Olshausen, der Advokat, und seit 1830 der leise, aber bedeutsam für die politische Bildung seiner Landsleute wirkende Herausgeber des "Correspondenzblattes", damals im Hause von Dr. W. Ahlmann wohnend, sprach gleichfalls aus dem Fenster seiner Stube wie Droysen - ich meine, aus dem nördlichsten - zu der in der Holstenstraße zusammengedrängten Menge. Plötzlich ward er aus derselben durch einen Ruf unterbrochen: Lang lebe Sr. Majestät König Christian VIII! Eine Bewegung entstand gegen den Urheber, einen dänischen Matrosen, wie es hieß, - und es schien zu Gewalttätigkeiten gegen ihn kommen zu müssen. Da fuhr Olshausen ruhig, als wenn nichts geschehen, mit den Worten fort: Lassen wir uns nicht stören durch die Meinung eines Andersdenkenden, und die Rede hatte ihren ungestörten Fortgang. Der an sich unbedeutende Vorfall ist für die Dänen und Schleswig-Holsteiner gleich bezeichnend: welcher deutsche Matrose hätte in einem entsprechenden Falle in Kopenhagen auch nur das Bedürfnis empfunden, geschweige die Dreistigkeit oder den Mut gehabt, die Gefühle der umgebenden Menge in ähnlicher Weise zu reizen. Andrerseits, was hätte in solchem Falle ein dänischer Redner und eine dänische Volksmenge in ihrer patriotischen Erregung getan? Nicht mit heiler Haut wäre der Rufer davongekommen. Tugenden und Fehler liegen bei Nationen wie Einzelnen in-, nicht nebeneinander.

Es war das erste Mal, daß die schleswig-holsteinische Bewegung an mich herantrat. Ich wußte damals, obwohl ich 1838 die schwarz eingefaßte Nummer des Correspondenzblattes vom 24. März mit der Todeskunde und dem meisterhaften Nachruf seines Freundes Hegewisch zu tiefer, wenngleich unverstandener Bewegung gelesen hatte, von Lornsen und seinem Verdienste, von Schleswig-Holstein und seiner Geschichte oder seinem Rechte nichts. Ähnlich wird es mit sehr wenigen Ausnahmen bei allen meinen Genossen gestanden haben. Ich erinnere auch nicht, daß ich - was vielleicht aus meinem damaligen Gemütszustand erklärbar ist, - ernstliche Anstrengungen gemacht hätte, mehr davon zu erfahren, oder Gelegenheit gefunden, öfter  darauf zurückgeführt zu werden. Gelesen an der Universität wurde jedenfalls die neuere, vaterländische Geschichte nicht, unter welchem Schilde sich ja sonst die schleswig-holsteinische Geschichte neben der dänischen ganz gut hätte vortragen lassen, und wie ich sie von 1854-63 in der Kieler Sekunda ganz ungestört vorgetragen habe. Weitere Anregungen gaben nur das Correspondenzblatt und gelegentlich Volksversammlungen, zumal seit dem Erscheinen des offenen Briefes[119], 8. Juli 1846. Ganz recht hatte daher Theodor Olshausen, als er in einer der von ihm gehaltenen Versammlungen, mutmaßlich 1846, das sofort und für immer in meinem Gedächtnis haftende Wort sprach: Ich zweifle nicht an dem Willen meines Volkes, aber ich zweifle an seinem Wissen! Olshausen war einer der wirksamsten und furchtlosesten Führer seines Volkes; es ist ein Unrecht, daß noch keine Kieler Straße den Namen eines seiner verdientesten Mitbürger festhält.

Der Winter von 1844 auf 45 war durch seine Strenge wie seine Dauer ein ungewöhnlicher. Der Hafen und ein gut Stück der Ostsee war schon früh mit einer unzerbrechlichen Eisdecke belegt; noch gegen Ende April, als ich aus den Ferien nach Kiel zurückkam, war die Förde nicht frei von Eis. Grade am ersten Auferstehungstage trat das so lange und so heiß ersehnte Tauwetter ein, zu solcher Wirkung, daß die Kirchgänger im Lensahn'er Gasthause, wie ich lebhaft erinnere, ihre Freude in gegenseitiger Beglückwünschung laut werden ließen.

Seit dem zweiten Semester wandte ich mich mehr der Philologie zu. Leider aber, wie ich zu spät erkannt habe, doch auch jetzt noch nicht ganz und vor allen Dingen auch nicht mit jener festgestellten und folgerichtigen Methode, wie sie jetzt allgemein in Übung ist. Ohne ein begrenztes und klares Ziel vor Augen ging ich im Grunde meinen Neigungen und augenblicklichen Neigungen nach. Die persönlichen Verhältnisse kamen dazu. Weder Nitzsch noch Forchhammer zogen mich an; der letztere gab unter verschiedenen Titeln doch immer nur seine Wasserdunst-Theorie[120] über die hellenische Sagenwelt und Religion. Wenn mir aber auch die Grundanschauung, daß der Grieche alle Vorgänge und Erscheinungen des Naturlebens als Taten oder Leiden bewußter Wesen ansehe - *** heißt nicht: es regnet, sondern er regnet! - durchaus einleuchtete, so konnte ich doch in dem Versuche, die gesamte griechische wie römische Sage in lauter Naturerscheinungen umzudeuten und in den homerischen Gedichten einen bewußten Doppelsinn bis in das einzelne Wort und jeden einzelnen Vorgang hinein nachzuweisen, nicht anders als eine unverzeihliche Zerstörung und Entseelung des erhabensten aller Kunstwerke erkennen. Als ich daher bei ihm griechische Altertümer belegt und nichts als derartige Deutungsversuche erhalten hatte, bin ich ihm nicht wieder auf den Leim gegangen. Nitzsch schreckte ab durch seine Schwerfälligkeit und Verworrenheit und hatte große Mühe, auch nur seine Seminar-Mitglieder zu seinen Vorlesungen heranzuziehen. Ich erinnere, daß er diese geradezu zur Rede stellte, wir sollten sagen, was wir denn eigentlich hören wollten, dann wolle er das lesen. Der einzige Privat-Dozent der Philologie, Dr. Vollbehr, später Rektor in Glückstadt, war kaum bekannt, obwohl er sich im Lateinschreiben bemerkbar gemacht hat.

Dagegen zog mich Justus Olshausen, Bruder des Advokaten, später nach Königsberg berufen und Jahre lang gefeierter Leiter des preußischen Universitätswesens, durch die Klarheit und Schärfe seines Vortrages, durch die vollendete Herrschaft über das eigentümliche Gebäude der hebräischen Sprache, Grammatik und Poesie dermaßen an, daß ich nicht bloß zunächst hebräische Collegien bei ihm belegte, wozu wohl meine theologischen Interessen den Übergang bildeten, sondern daß ich auch das zeitraubende Wagnis unternahm, das von ihm angekündigte Publikum über Arabisch zu belegen. Einmal eingetreten in diese ganz neue Welt des Orients und der semitischen Anschauungsweise konnte ich mich nicht wieder davon losmachen. Bis zum Ende meines Kieler Aufenthaltes habe ich als einziger Schüler auf seinem Zimmer wöchentlich 2 Stunden arabisch getrieben und wohl mindestens 2 Jahre lang täglich die beiden ersten Stunden morgens diesem für mein philologisches Examen völlig nutzlosen Studium gewidmet. Ich habe nicht bloß einen guten Teil des wunderlichen Koran, sondern auch die wunderbaren Mackamen des Hariri[121] gelesen und so aus den unmittelbarsten Quellen die ganze semitische Weltanschauung kennen gelernt; ein bleibender Gewinn unzweifelhaft für meine allgemeine wissenschaftliche Ausbildung, der mir auch dadurch nicht verlorengegangen ist, daß ich seit meinem Fortgang aus Kiel, Michaelis 1847, kein arabisches Buch wieder angesehen habe und jetzt wohl kaum noch eine Stunde imstande wäre, arabisch zu lesen oder einen hebräischen Satz zu übersetzen. Dennoch muß ich ja gestehen, daß der Preis für diesen Gewinn und Genuß bei weitem zu hoch gewesen und das Haupthindernis für die Vertiefung in die griechische und lateinische Sprache und Literatur geworden ist. Erklärlich wird dieser Irrweg meiner nicht durch Trägheit oder Zeitverschwendung beeinträchtigten Studien zum besten Teil vielleicht dadurch, daß auch unsere damaligen Professoren im Besitz einer bewährten Methode nicht waren und die Wichtigkeit übersahen, uns Blinden gleich den rechten Weg zu zeigen und die großen Aufgaben und Ziele unserer Bemühungen nachzuweisen. Von Text-Kritik, Handschriftenkunde, Paläographie, worin jetzt das philologische Studium vielleicht aufzugehen in Gefahr ist, wußten offenbar auch unsere akademischen Lehrer nichts oder doch nicht genug, um uns einzuführen. Ich bin aber überzeugt, daß es für einen gründlichen Kenner der griechischen Tragiker, des Plato, selbst des Aristoteles, andererseits des Horaz, des Tacitus oder des Catull, Tibull und Properz nicht schwer gehalten haben könnte, uns zu eingehendem Studium zu gewinnen und für einen oder den anderen Meister zu begeistern. Im Homer war nun freilich Nitzsch zu Hause, aber ihm ging die Gabe ab, seine Zuhörer durch Leben, Klarheit und Übersichtlichkeit seiner Vorträge zu fesseln. So konnte es kommen, daß ich durch Jacob und Claßen in den beiden alten Sprachen besser ausgerüstet als wohl die meisten Schüler der schleswig-holsteinischen Schulen, die sich solcher Lehrkräfte auf allen Stufen des Unterrichts nicht rühmen konnten, zu dem dunklen Wahne gelangte, im Griechischen und Lateinischen wüßte ich ungefähr schon genug. Später habe ich, zumal als ich seit 1854 Horaz und Tacitus in einer sehr hochstehenden und sehr glücklich zusammengesetzten Prima zu erklären hatte, die großen Mängel meiner philologischen Bildung schwer empfunden und durch harte Arbeit auszugleichen gestrebt. Die eigentlichen Grundlagen der Kritik war es aber nicht mehr möglich noch unterzubauen. Freilich hat mich Neigung und Begabung auch nie dahin gezogen; die Vertiefung in die Wurzeln des Einzelwortes, in seine Grundbedeutung, in die ganze Anschauung von Welt und Leben, von der es ausgegangen war und in die es ein Einblick gewährte, die völlige und eindringende Erfassung des Sinnes einer Periode und des ganzen Werkes, dann auch die Nachbildung der lateinischen Prosa in freier, aber echt römischer Wiedergabe deutscher Meisterwerke, das sind diejenigen Studien gewesen, die mir den größten Genuß und später meinen Schülern, hoffe ich, den meisten Nutzen gewährt haben.

War ich so nicht auf dem rechten Wege, um ein ganzer Philologe zu werden, so fand ich, durch die arabisch-hebräischen Studien abgezogen, auch nicht die nötige Zeit und Kraft, um mich ganz der Geschichte zu widmen. Zwar hörte ich bei Waitz auch deutsche Altertümer und Geschichte des Mittelalters; aber ein Seminar, wie es später eine allgemeine Einrichtung wurde und noch ist, zur Einführung in die ganze Technik des geschichtlichen Studiums und zur Anleitung zu eigenen, selbstständigen Arbeiten hielt er nicht. Und als gegen Ende meines Kieler Aufenthaltes Droysen für alte Geschichte ein solches Seminar eröffnete, trat ich, da er begreiflich eigene Arbeiten von einigem Umfange forderte, von diesem schon belegten Publicum wieder zurück. Daß ich seine sonstigen Vorlesungen, Alte Geschichte, Neue Geschichte und die kleineren Publica ziemlich alle hörte, konnte den Mangel der eigenen praktischen Arbeiten nicht ersetzen. Auch hier war also von einer folgerichtigen und geflissentlichen Einführung in die Quellen keine Rede. Auch hier blieben meine akademischen Studien auf halbem Wege stehen. Hätte ich damals soviel Durchblick und Mut gehabt, von meinem Vater die Kosten zu einem mehrjährigen Aufenthalt im Auslande zu beanspruchen, oder auf gut Glück Schulden zu machen, hätte ich auch nur noch später als junger Lehrer in Kiel die geschichtliche Schulung bei dem jüngeren Nitzsch, der damals Waitz' Nachfolger geworden war, nachzuholen Zeit und Kraft, vor allem Mut und Leichtsinn genug erübrigen können, so, bin ich überzeugt, hätte mir nach Nitzsch' Abgang, etliche Jahre später, es nicht fehlen können, sein Nachfolger zu werden und, wie ich mir zutraue, auch ihn zu ersetzen. Ich wagte aber auf der Universität nicht, zu solchen Höhen mein Auge zu erheben und bin durchaus geneigt, darin eine Nachwirkung des ganzen Druckes zu erkennen, unter dem ich mich von meiner Kindheit an gefühlt hatte. Die Anspruchslosigkeit kann auch zum Fehler werden. Als ich damals auf Ratjen's Anregung, der mich durchaus befähigt dazu gehalten haben muß, bei dem damaligen Rektor, Professor der Philosophie Chalybaeus, meine Wünsche laut werden ließ, stieß ich auch da durchaus nicht auf taube Ohren. Nur bei Nitzsch selbst - und das war wohl das Entscheidende - fand ich keine Ermutigung zu weiterer Bewerbung, was ich bei der erwähnten Lage der Dinge auch wohl verstand. Es war mir, und wieder muß ich sagen, durch eigene Schuld oder doch durch eigene Blindheit, nicht beschieden, zu dem Berufe eines akademischen Lehrers aufzusteigen, den ich gern gestehe, für den schönsten und höchsten auf Erden gehalten und oft ersehnt zu haben.

Droysen war übrigens ein unzweifelhaft anregender Lehrer; ein kleiner Mann von großer äußerer Lebendigkeit und Beweglichkeit, lebhaften, fast unsteten Augen und lebhaftem, den inneren Anteil an der Sache wiederspiegelndem Vortrage, ursprünglich auch er bekanntlich Philologe und erst infolge seiner Schrift über Alexander zu einer Geschichtsprofessur berufen. Er hatte starke politische Interessen vom Standpunkt des später sog. Alt-Liberalismus und ließ dieselben auch in seinen Vorlesungen stark genug hervortreten, ist bekanntlich später auch im Frankfurter Parlament als praktischer Politiker tätig geworden, in den Gesamtversammlungen wider Erwarten und Berechnung ebenso schweigsam wie der sonst so zurückhaltende und fast schüchterne Waitz wider Erwarten beredt, dank wohl hauptsächlich seiner gründlichen juristischen Bildung und seinem eindringenden Studium des deutschen Reichsrechtes, das ihn namentlich befähigte, in den Verhandlungen über Verfassung und Grundrechte ein Achtung gebietendes Wort zu führen.

Mit großem Nutzen hörte ich auch den Prof. der Philosophie, Chalybaeus; seine Geschichte der neueren Philosophie[122] - die ihn von einem Dresdener Gymnasium auf die Universität geführt hatte, - seine überaus klare und faßliche Einleitung in die Philosophie veranlaßten mich zu eigener Arbeit auf diesem Gebiet, und mit Interesse und Nutzen suchte ich mit Hilfe der Erdmann'schen Quellensammlung[123] mich in das Verständnis der berühmtesten Meister des Faches selbstständig tiefer einzuarbeiten. Doch muß ich gestehen, daß die philosophischen Systeme eines Kant, Fichte, Schelling und Hegel als solche mir immer ein Buch mit sieben Siegeln geblieben sind, obwohl ich andrerseits auch nie mir eingebildet habe, daß ich von ihnen über die Natur der Dinge oder das große Rätsel des Menschenlebens besondere neue Offenbarungen zu erhoffen hätte. Soviel aber habe ich doch - und das bezeugt mir auch mein Staats-Zeugnis - aus diesen philosophischen Kollegien und Arbeiten davongetragen, daß ich einen Gegenstand oder eine Frage anzufassen, durchzuführen und zu einem Abschluß zu bringen, mit anderen Worten: daß ich methodisch denken lernte und das Bedürfnis in mir ausbildete, jede wissenschaftliche Arbeit zu einem in sich wohl gegliederten und richtig geordneten Ganzen zu gestalten oder, wenn ich mich der Chalybaei'schen Dreiteilung bedienen soll, nach Prinzip, Vermittlung und Zweck zu bearbeiten.

Die interessanteste Vorlesung, die ich je gehört habe, lag ganz außerhalb des Kreises meiner Studien, die über populäre Astronomie von Scherk.

Scherk war ohne Zweifel, wie man weniger an seinem Gesichte als an seinem Wesen bald merkte, semitischen Blutes und stammte, meine ich, aus dem Polnischen; wenigstens erinnere ich, daß er meist mit sichtlicher Genugtuung uns erzählte, Copernikus, Copernik, sei nicht deutschen, sondern slawischen Stammes gewesen. Als ich ihn zum ersten Male bei Meldung zum Convikt-Examen sah und sprechen hörte, gehen, schreiben, sich bewegen sah, war mir die Schnelligkeit aller seiner leiblichen wie geistigen Operationen ein wahres Wunder; so etwas war mir noch nicht vorgekommen. Seine erwähnte Vorlesung nun, die viel gehört wurde, fesselte durch die ungemeine Lebendigkeit des Vortrages, durch den Eifer und die sichtbare, oft durch Ströme von Schweiß bezeugte Bemühung, uns die Sache durch Worte wie Demonstrationen so klar wie irgend möglich zu machen. Eine solche Auseinandersetzung, bei der er bald auf dem Katheder war, bald an den Bänken herumging, die lebhaften Augen bald auf diesen, bald auf jenen gerichtet, pflegte er mit einem Selbstgespräch zu schließen: ist's recht? oder gar: ist's recht, Scherk? Gewiß! - An der politischen Bewegung von Schleswig-Holstein nahm er den lebhaftesten Anteil, wie auch andere zu uns versprengte Polen. Das kostete ihn 1852 sein schönes Amt.[124] Ohne Vermögen, wie er war, sah er sich genötigt, die erste ihm gebotene Versorgung als Lehrer der Mathematik an der Bremer Gewerbeschule anzunehmen, hierin weniger glücklich als seine sämtlichen Schicksalsgenossen, die meist alle an größere Universitäten berufen wurden. Nur Pelt hat auch seine akademische Tätigkeit verloren, ist aber äußerlich wenigstens mit einer guten Pfarre, über welche seine heimische Universität Greifswald das Patronat hatte, reichlich abgefunden[125].

Der schon erwähnte Lektor des Englischen, Lubbren, der sich des Deutschen vollständig bemeistert hatte, war, wenn schon kein gelehrter Kenner seiner Sprache oder gar ihrer Geschichte, so doch ein gebildeter Mann. Seine Frau, mit starkem, faltigem, einst vielleicht schönem Gesicht, handhabte mit echt englischer Unverfrorenheit die deutsche Sprache und Grammatik in der ergötzlichsten Weise. Auch ihr Englisch oder Schottisch war wenigstens mir unverständlich. Beim ersten Anblick konnte sie wohl an eine shakespeare'sche Hexe erinnern, da sie sich auch sehr wunderlich und altertümlich kleidete.

Das französische Lektorat war einem auf nichts gekommenen Adligen überlassen, einem in Dänemark geborenen und als Dänen sich fühlenden Herrn v. Buchwald, der längere Zeit, auch während der 100 Tage[126], in Frankreich gelebt hatte und der französischen Konversation einigermaßen mächtig war. Obwohl bei ihm wenig zu holen stand, auch eine etwas cynische Lebensauffassung abstieß, störten wir ihn dennoch regelmäßig aus seiner sonst durch Vorlesungen nicht unterbrochenen Muße auf und kamen auf sein Zimmer, wo dann die möglichst triviale Unterhaltung mit Vorlesen von fremden und eigenen Gedichten wechselte.

Gehört habe ich auch Müllenhoff, damals Privatdozent und einziger Vertreter der deutschen Sprachwissenschaft, mehrere Semester sein einziger, aber treuer Zuhörer, der dennoch froh war, auf diese Weise ein Kolleg zu Stande zu bringen. Die Holperichkeit seines Vortrages, dessen Versprechungen und Unterbrechungen er auch noch durch das beständig vor den Mund gehaltene Taschentuch nachhalf, war geradezu unglaublich. Als ich später meine Frau in das Altertums-Museum führte, behandelte sie ihn, wie ich bald merkte, ein wenig als untergeordneten Aufseher und wollte es nicht glauben, daß das ein Professor sein könnte. Wenn er später nach Berlin berufen worden und eine nicht geringe Autorität in deutschen Dingen gewinnen konnte, so dient das zum Beweise, daß ein scharf zusammengehaltener Fleiß bis zu einem gewissen Grade in der Tat das Talent zu ersetzen imstande ist. Ein Stück der bekannten "göttlichen Grobheit"[127] kann zur Erhöhung der Wirkung auch nicht schaden.

Auch über des jungen Nitzsch, des Historikers, Laufbahn und die von ihm doch zuletzt erreichte Stellung in seiner Wissenschaft habe ich oft im Stillen mich gewundert. Als Privatdozent in Kiel wenigstens war es mir nur mit der äußersten Mühe möglich, seinem Kolleg über römische Geschichte, sein eigentliches Feld, Interesse und Verständnis soweit abzugewinnen, daß ich es bis zu Ende hörte, und auch, was ich später von ihm gelesen habe, ist mir immer mehr oder minder dunkel und unverständlich geblieben. Die oft angekündigten, großen Entdeckungen oder neuen und tieferen Auffassungen verkannter Zustände und Vorgänge scheinen mir meist auf kühnen Vermutungen und gewagten Deutungen zu beruhen und ein gewisses Suchen nach übersehenen und aufzuhellenden Dunkelheiten zu bezeugen.

1846 am 8. Juli erschien der offene Brief. Ich erinnere mich noch an die Stelle, wo ich zum ersten Male die Nachricht einem ganzen Kreise bestürzter Zuhörer verkünden hörte. Der Eindruck auf die Bevölkerung war ein tiefer und allgemeiner. König Christian VIII. verkündete seinen geliebten Untertanen, sie brauchten sich um die Erhaltung der dänischen Monarchie in ihrem Gesamtbestande keine Sorge zu machen. Schleswig sei schon 1720 in Dänemark einverleibt und derselben Erbfolge wie das Königreich unterworfen, - und wenn über gewisse Teile Holsteins in dieser Beziehung Zweifel beständen, so sei der König unablässig bemüht und beschäftigt, durch Verhandlungen mit den Mächten allen Unsicherheiten über die Erbfolge ein Ende zu machen.

Damit schien die Hoffnung, das Land, wodurch wir an ein fremdes Land gefesselt waren, durch den in nicht ferner Aussicht stehenden Erbfall ohne Gewaltsamkeit oder Krieg gelöst zu sehen, abgeschnitten, und die Herzogtümer mußten daher, wenn sie anders aus ihrer Rechtsauffassung Ernst machen wollten, in jener königlichen Ankündigung eine bedingte Kriegserklärung erblicken. Alle Schichten der Bevölkerung nahmen an der nun eintretenden Bewegung und der lebhaften Erörterung aller einschlagenden rechtlichen, politischen und nationalen Fragen eifrig Anteil. In dem ahnungsvollen Vorgefühl, daß mit der schleswig-holsteinischen die deutsche Frage gestellt sei, geriet die ganze Nation, die Universitäten voran, in eine Erregung, wie sie seit Jahrzehnten nicht vorgekommen war, und wenn am 17. September selbst der deutsche Bundestag einen Beschluß[128] faßte, der wenigstens alle Rechte vorbehielt, so war das nur ein Beweis, daß auch diese Körperschaft seit 1822, wo sie sich mit der schleswig-holsteinischen Frage zum ersten Mal zu befassen gehabt hatte, doch auch einige Fortschritte gemacht habe. Lebhaft entbrannte der Kampf in der deutschen Wissenschaft gegen den offenen Brief. Neun Professoren der Kieler Universität, Juristen und Historiker, vernichteten die geschichtliche Grundlage des offenen Briefes, das geheimgehaltene, aber doch bekannt gewordene Gutachten einer eigens dazu angeordneten Kommission, über deren Ergebnis sich der König aber dennoch, weil es ihm nicht paßte, hinweggesetzt hatte.[129] So war die Wirkung des offenen Briefes das gerade Gegenteil seiner Absicht: er erregte Schleswig-Holstein und Deutschland, er klärte zu früh beide über die Ziele und Mittel der dänischen Regierung auf, er tat das Beste, um die Rechtsfrage zur allseitigen Erörterung und Kenntnis zu bringen, das Landesrecht zu einem Besitz des nationalen Bewußtseins des deutschen Volkes zu machen. Als der König im Spätsommer seinen gewohnten Badeaufenthalt in Wyk auf Föhr nahm, trat ihm die Stimmung des Landes in unverkennbaren Zeichen entgegen. Noch mehr war das der Fall in Holstein, wo er auf dem Plöner Schlosse seinen Geburtstag, den 18. September, feierte und in einem erneuten Erlaß[130], voll landesväterlichen Wohlwollens und ungewohnten Herzensergusses, seine Untertanen von seinen landesväterlichen und wohlmeinenden Absichten zu überzeugen suchte. Gewiß sehr mit Unrecht wurde die Erwähnung seines an dem Tage zu Gott gerichteten Gebetes als eine Heuchelei angesehen. Christian VIII. konnte als dänischer König in dem Bemühen, seinen Staat vor dem Zerfall und seine Untertanen vor Unruhen und Krieg zu bewahren, ein Unrecht unmöglich erblicken. Rechte, die er als solche anerkannte, war er nicht gemeint zu verletzen. Daß die Rechtsfrage in dem gegenwärtigen Falle zu einer nationalen Frage erwachsen werde, davon hatte er und auch andere in Dänemark keine Ahnung.

Im Jahre 1847 bearbeitete ich eine schassische Preisfrage[131] über die Politik des Aristoteles; sie sollte mir die Mittel liefern zu einem einjährigen Studium im Ausland und hat es auch getan. Außerdem aber lernte ich aus seinen eigenen Schriften einen der größten und hellsten Geister aller Zeiten kennen. Seine Sprache fand ich so schlicht und einfach, so klar und einleuchtend, daß ich mich wunderte, wie ein Philosoph so schreiben könne. Als ich später in Berlin bei Trendelenburg näher mit seiner Ethik bekannt wurde, fand ich den Grundgedanken derselben, daß die Entwicklung des Einzelwesens zu dem vorgesteckten *****[132] die **********[133] verbürge, daß der voll ausgereifte, der vollendete Mensch notwendig zugleich der glückliche, Entwicklungsreife und Glück untrennbar und notwendig miteinander verbunden seien, unwidersprechlich richtig und treffend. Der leiblich und geistig gesunde und normale Mensch ist mit Notwendigkeit auch der glückliche Mensch, er allein erfüllt seine Bestimmung, wer aber das tut, ist eingegangen in die große Harmonie der ewigen Allmacht, Weisheit und Güte. Weniger haltbar erschien mir aber später seine Tugendlehre als einer ****[134] und namentlich viel tiefer die Auffassung Luther's, der gegen diesen gehaßten Heiden in einem seiner Briefe den Satz aufstellt: nicht durch Übung im Guthandeln werden wir allmählig gut, sondern durch Gutsein gelangen wir zum Guthandeln. Ein guter Baum kann eben nicht schlechte Früchte und ein schlechter Baum kann nicht gute Früchte bringen. Man kann keine Trauben lesen von den Dornen. Die Frage bleibt also immer: wie werden wir gut, wie werden wir das, was wir werden sollen?

Das Latein meiner Abhandlung war mir, wie ich meine, nicht übel geraten, aber von den sphalmata hatte ich mich noch immer nicht frei gemacht; die Preisrichter waren aber so human, sich an einem Partizip offertis von offerre[135] und dem irreleitenden offerte nicht allzu sehr zu stoßen. Dagegen rechneten sie mir die Schlußbemerkung, daß niemand jetzt exardescente per Germaniam patriae studio atque amore umhin könne, laetissimas spes concipere[136] - so glaube ich ziemlich genau die Worte der nie wiedergesehenen Abhandlung zu erinnern - zum Lobe an.

Mit dem Ende des Sommersemesters 1847 verließ ich Kiel, um demnächst im Oktober mit Gidionsen zusammen, der auch bis dahin in Kiel und auch nicht eben anders, als ich, studiert hatte, nach Berlin zu gehen.

Es war meine erste größere Entfernung von der Heimat, meine erste größere Reise. Die damalige Hauptstadt Preußens bot freilich des Neuen, Niegesehenen und Wunderbaren viel: die Größe der Stadt, wogegen ja selbst Hamburg zurücktrat, die stattlichen Bauwerke, die Sammlungen, die Berühmtheit und Zahl der akademischen Lehrer, dies alles machte freilich auf mich den bedeutendsten Eindruck, war aber trotz meines Eifers, zu lernen und alle Gelegenheiten, die sich mir nun boten, gewissenhaft zu benutzen, nicht imstande, dem Gefühle der Verlassenheit, Vereinsamung, dem Trübsinn das Gegengewicht zu halten, der mich den ganzen Winter niedergebeugt hat. Namentlich um die Weihnachtszeit und auch später noch befand ich mich auch körperlich in einem vor allen, auch meinen Eltern und meiner Schwester verhehlten Zustande, daß ich ernstlich um meine Gesundheit zu bangen Ursache hatte. Wenn ich beim unvermuteten Schlage der Universitäts-Glocke zusammenfuhr, auch gegen andere Arten von Schall- und Lufterschütterungen aufs äußerste empfindlich war, ein dumpfes Sausen und Benommenheit des Kopfes mir das Denken erschwerte, so glaubte ich wohl nicht ohne Grund, auf eine starke Angegriffenheit meiner Nerven dies zurückführen zu müssen. Vielleicht ist es mein Glück gewesen, daß der Winter Gelegenheit bot, Tag für Tag auf den weit überschwemmten Wiesen bei Moabit mit den ersten Schlittschuhläufern der Großstadt zu wetteifern und in stählender Frostluft das kranke Blut in Bewegung zu setzen. Nie in meinem ganzen früheren und späteren Leben habe ich so regelmäßig gelaufen als in Berlin.

Kollegien hatte ich soviel belegt, wie irgend möglich: Seminar bei Lachmann und bei Böckh, Altertümer bei Böckh, Allgemeine Erdkunde bei Ritter, Experimental-Physik bei Magnus, Aristotelisches Seminar bei Trendelenburg, Homer bei Georg Curtius, Lucrez bei einem Privat-Dozenten Märker, außerdem wohl noch einige Publika, z.B. auch Italienische Literatur-Geschichte.

Böckh's olympische Ruhe und heitere Laune, die völlige Beherrschung des Stoffes, die angenehme Gemächlichkeit des Vortrages, dem nur einige vergilbte Blätter und Zettel als äußere Stütze dienten, sagte mir ungemein zu. Als in seinem Seminar der Verfasser der zu besprechenden Abhandlung ausgeblieben war und der bestellte Recensent erklärte, er wisse nicht, was er über diese Abhandlung sagen solle, denn sie wäre von Anfang bis zu Ende abgeschrieben, meinte Böckh schmunzelnd, das wäre dann doch wenigstens etwas, das darüber zu sagen wäre. - Lachmann's sarkastische Schärfe und ganzes Wesen hatte nichts gewinnendes. - Ritter's gewaltige Gelehrsamkeit blieb doch für den Hörer ohne großen Nutzen: statt der allgemeinen Erdkunde erhielten wir in dem langen Wintersemester nicht mehr als die Hälfte einer Einleitung in die Geschichte der geographischen Wissenschaft bis zum Beginn der neuen Zeit. - Experimente wie von Magnus hatte ich freilich noch nicht gesehen, und eins oder das andere mag ja auch aus der Physik hängen geblieben sein; aber Nutzen für mein Fachstudium habe ich begreiflicher Weise nicht davon gehabt. Mit allergrößtem Interesse und auch nicht ohne Nutzen hörte ich dagegen die Meteorologie bei Dove, dem Schöpfer dieser Wissenschaft, der keine Vorlesung ungewürzt durch einen natürlichen, nie aufdringlichen Humor ließ. Das größte Auditorium war bis auf den letzten Platz gefüllt. Einen angenehmen, überaus tüchtigen und gewissenhaften Lehrer fand ich in Trendelenburg, an den ich auch eine Empfehlung hatte, und in dessen Familienkreis ich an seinen Dienstag-Abenden, neben anderen Hörern und Freunden seines Hauses, stets auf freundliche Aufnahme rechnen konnte. Seine Frau, eine schlanke, anmutige Erscheinung, war eine Tochter des Grammatikers Heyse, Mutter einer lieblichen Kinderschaar.

Den Lucrez benutzte Märker nur als Träger seiner sehr freien religiösen und politischen Ansichten; ich merkte sehr bald, daß er ein sehr mäßiger Lateiner war, wie es deren unter den Mitstudierenden überhaupt offenbar eine große Menge gab. Durch Hospitieren lernte ich auch andere Berühmtheiten der Universität kennen, z.B. den eben aus Ägypten von seiner großen Forschungsreise schwerbeladen heimgekehrten Lepsius, der keinen seinem Rufe entsprechenden Eindruck auf dem Katheder machte, den großen Textkritiker und Schweiger in 7 Sprachen, Immanuel Bekker[137], die beiden sehr verschiedenen Historiker Raumer und Ranke, deren erster mir ungemein trivial, der zweite etwas gesucht vorkam.

Außer dem sehr regelmäßigen Besuch der Vorlesungen beschäftigte ich mich mit selbstständigen Arbeiten nicht; auch jetzt lag mir der Gedanke an die Notwendigkeit einer planmäßigen Konzentration meiner weit auseinander führenden Studien noch fern, und mein gedrückter Gemütszustand begünstigte überhaupt eine volle Hingabe an freie und fröhliche Arbeit nicht. Umgang und gesellige Unterhaltung hatte ich wenig; am meisten noch mit Gidionsen, zu dem aber ein Herzensverhältnis und rechtes Vertrauen nie aufkommen wollte. Ein Versuch der Philologen zu regelmäßigen Zusammenkünften führte mich zu keinem befriedigenden Ergebnis. Manche Stunde verbrachte ich in den Sammlungen, von denen die natur-historische wegen ihrer ausgezeichneten Anordnung und Übersichtlichkeit fast den größten Eindruck auf mich machte. Die ägyptischen Altertümer waren noch nicht so vollständig, auch noch nicht so aufgestellt wie später, reizten jedoch, da ich derartiges bis dahin nie gesehen hatte, die Wißbegierde sehr. Einen wahrhaft einzigen Eindruck hatte ich, als ich völlig unvorbereitet eintrat, von der Wachsfigur Friedrichs des Großen in der Kunstkammer, angetan mit seinem fadenscheinigen Rock, groben Hosen und Schmierstiefeln, sitzend auf seinem Stuhle vor seinem Tische, auf dem die Flöte lag, den Krückstock in der rechten Hand und mit seinen hellen Augen, aus halb rechts gewendetem Haupte den Eintretenden fragend und ernst ansehend. Mit wahrer Ehrfurcht sah ich die Totenmaske und die Stopfstellen in dem leinenen Taschentuch, mit dem er sich den Todesschweiß abgewischt hatte.

Das Theater besuchte ich nur einige Male, da selbst der höchste Platz auf der Galerie nahezu einen halben *[138] preußisch kostete und meine 100 *[139] für mindestens ½ Jahr reichen sollten. Doch erinnere ich mich der ersten Helden, Hendrichs, der Frau Crelinger und des Fräulein Stuhr (?)[140] noch sehr gut und habe jedenfalls gesehen, was ein mit Künstlern besetztes Theater sein kann. Als größte und erhabenste künstlerische Leistung steht in meiner Erinnerung noch immer der Vortrag einiger Lieder von Jenny Lind; solche Musik konnte auch ich verstehen und würdigen, während ich andre hohe und verwickelte Kunstformen nicht zu schätzen weiß. Hier aber wirkte die Anmut einer echt weiblichen Erscheinung von germanischem, ich möchte sagen, deutschem Charakter und einer seltenen Zartheit und Jungfräulichkeit des ganzen Wesens zusammen mit einer Stimme, welche das Herz ergriff und durchzitterte. Die Schulung hatte jenen Höhepunkt erreicht, der die Kunst als Natur erscheinen läßt. Von Gesuchtheit, Künstelei, Bravour-Leistungen, wie man sie so häufig sieht, keine Spur. Es war etwas wahrhaft Vollendetes, geradezu Außerordentliches und Unvergleichliches. Sie in einer Oper - ich meine die Hugenotten[141] - zu sehen, nahm ich einen starken Anlauf, wagte es aber schließlich, abgeschreckt durch das beängstigende Gedränge, doch nicht. Wie oft habe ich es nachher bedauert! Die Sängerin hat von jenem Vortrage her für mich immer etwas ungemein Anziehendes behalten. Zur Musik gehört eine deutsche Seele.

In Berlin erlebte ich das große Ereignis der Pariser Februar-Revolution. Je unerwarteter es hereinbrach, desto größer und mächtiger war der Eindruck, den es überall machte. Vor allem in Deutschland. Die deutsche Nation hatte seit 1830 im Stillen mit ihren politischen Ansprüchen, auch ihrer politischen Bildung ungeheure Fortschritte gemacht. König Friedrich Wilhelm IV. hatte durch seine bestgemeinten, aber die Wirklichkeit der Dinge verkennenden Reform-Gedanken[142] das nationale Bedürfnis mehr geweckt und gereizt als befriedigt. Lange zurückgedrängt und von oben her unterdrückt, brach es jetzt mit umso leidenschaftlicherer Gewalt und Heftigkeit hervor. Ein wahrer Rausch der Hoffnung und Begeisterung für eine deutsche Zukunft von ahnungsvoller Herrlichkeit ergriff alle Welt, und auch ich hatte meinen vollen Teil daran. In dem Lesezimmer Fürstenbergs, wo ich auch bisher schon meine Zeitungen gelesen hatte, ging es mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit her. Man riß sich um die Zeitungen; das neuste wurde laut vorgelesen und, während das äußere Aussehen der Stadt seinen gewöhnlichen Charakter bewahrte, gährte es in den Gemütern wie nie, und ohne daß wir es ahnten, bereiteten sich in den Kreisen der Bevölkerung, von denen wir keine Ahnung hatten, die unheilvollen Pläne vor, die zu den furchtbaren Vorgängen des 18. und 19. März[143] führen sollten. Daß Umsturzmänner von Handwerk sie gemacht haben, leidet wohl keinen Zweifel; namentlich wird das Polentum einen hervorragenden Anteil daran gehabt haben. Der große Prozeß gegen die Empörer von 1846[144] war noch nicht beendet. Die Verhandlungen waren öffentlich. Zum ersten Male sah ich Vertreter des polnischen Wesens mit Bewußtsein und in Massen. Ich glaubte, in den Gesichtern, die mir eine ungemeine Ähnlichkeit miteinander zu haben schienen, etwas zu entdecken, was an den Wolf erinnere; das weißblaue Auge, der unstete, spähende Blick, die eigenartige Gesichtsfarbe, die Formen vom Bart und Haupthaar fielen mir ungemein auf und prägten sich meinem Gedächtnis für immer ein; physiognomische und völkerpsychologische Beobachtungen hatte ich immer schon mit Vorliebe getrieben, auch in allen meinen Sprachstudien verfolgt; die Polen waren mir eine neue Welt, die mein Interesse lebhaft erregte. Daß der Riesen-Prozeß eine große Anzahl von Landsleuten der Angeklagten nach der Hauptstadt ihrer Sieger und Herren zog, wird angenommen werden dürfen. Daß die Februar-Revolution die polnischen Hoffnungen aufs neue mächtig beleben mußte, ist an sich klar; die Befreiung Polens von der Fremdherrschaft schien nicht mehr in den Sümpfen und Wäldern der Weichsel oder des Bug, sondern auf den Straßen Berlins erkämpft werden zu müssen. Zu Tage trat aber, solange ich in Berlin geblieben bin, an diesen Bewegungen und Vorbereitungen nichts. - Mein Aufenthalt in Berlin erfuhr nämlich eine unerwartete Abkürzung.

Eines Tages erhielten Gidionsen und ich, - es muß Ende Februar oder Anfang März gewesen sein - ein Schreiben von unserem Prof. Nitzsch, der zugleich Inspektor der schleswig-holsteinischen Schulen war. Er hatte soeben eine Reform und Erweiterung der meist nur 4-klassigen Anstalten zu 6-klassigen so weit vorbereitet und durchgesetzt, daß sie zu Ostern, wenigstens der Hauptsache nach, ins Leben treten sollte. Nun fehlte es ihm an geeigneten Lehrkräften, und so gab er uns beiden denn zur ernstlichen Erwägung, ob wir uns nicht entschließen wollten, jetzt gleich, so wie wir eben waren, ohne alle geflissentliche und systematische Vorbereitung darauf, ohne den etwa in Jahresfrist gedachten und kaum noch ernstlich ins Auge gefaßten Abschluß unserer Studien, ohne irgendwelche besonderen Wiederholungen auf irgend einem Gebiet ins Examen zu gehen; wären die neuen Stellen erst einmal mit jüngeren Kräften besetzt, so würde unsere Beförderung schwierig werden.

Der Vorschlag kam uns ganz unerwartet und erschien uns im ersten Augenblick kaum ausführbar, ließ sich jedoch auch nicht wohl so ohne weiteres von der Hand weisen. Er enthielt mittelbar die Zusicherung, daß wir das Examen leidlich bestehen würden - wenn ich nicht irre, war geradezu ausgesprochen, wir würden ein Zeugnis kriegen, das uns empfehlen werde - er verhieß mir im 25-sten, Gidionsen im 23-sten Lebensjahre eine feste Anstellung, die sich sonst Jahre lang verzögern mochte. Er ging von einem Manne aus, der unser ganzes Vertrauen hatte, der uns und die Verhältnisse kannte. So konnte es denn wohl nicht anders kommen, als daß wir die mancherlei Bedenken, die sich regten und gewichtig genug schienen, schließlich doch niederschlugen und uns in der ersten oder zweiten Woche in Kiel zum Schulamts-Examen stellten, für das auch eben nach wesentlich preußischem Muster eine neue Ordnung ausgearbeitet und in Geltung getreten war.

Mit außerordentlicher Humanität und Nachsicht wurden wir geprüft und unsere, wie sich denken läßt, nicht eben glänzenden Leistungen beurteilt. Die leichteste Ode, die im Horaz je zu finden ist: "Divis orte bonis"[145] legte Nitzsch mir vor, und ich übersetzte sie nicht ungeschickt, namentlich "lucem redde tuae dux bone patriae"[146]. In der Geschichte fragte Droysen nur nach der Bedeutung des Friedens von Teschen[147], den ich aber nicht einmal dem Namen nach kannte. Im Hebräischen wußte Prof. Pelt wohl nicht viel mehr als ich. In beiden alten Sprachen erhielt ich das Zeugnis für alle Klassen, ebenso im Hebräischen; in den neueren Sprachen wurde garnicht geprüft und meine für jene Zeit nicht ganz gewöhnliche Fertigkeit kam also für mich garnicht zur Geltung. In der Philosophie erhielt ich wohl ein befriedigendes Zeugnis, zum Geschichtsunterricht, hieß es, würde ich weiterer Studien bedürfen, in der Mathematik könne ich nicht unterrichten, drückte sich Scherk aus, da ich diesem Gegenstand meinen Fleiß nicht zugewandt habe. Wenn ich, was wir damals wußten, mit dem vergleiche, was jetzt von den Kandidaten des Schulamtes verlangt wird und was unsere Abiturienten leisten, so kann ich nicht verkennen und will es auch garnicht verhehlen, daß wir mit den Leistungen der letzteren, geschweige denn der ersteren, keinen Vergleich aushalten konnten. Ich erkenne es jetzt begreiflich erst mit ganzer Klarheit, daß meine wissenschaftliche Bildung außerordentlich lückenhaft und unvollständig, vielseitig immerhin, aber auf keinem Gebiete abgeschlossen und vertieft genug war, um strengeren Ansprüchen genügen zu können. Es ist aber fraglich, ob eine Ablehnung des Antrages zu wesentlich besserem Ergebnis geführt haben würde, da bei dem Ausbruch und der Dauer des schleswig-holsteinischen Krieges an eine ruhige und gedeihliche Fortsetzung der Studien doch kaum gedacht werden konnte.

Unsere wohlwollenden Lehrer und Prüfer hatten zu uns doch das Vertrauen, daß wir wissenschaftlich zu arbeiten gelernt hätten und mit Ernst an unserer Fortbildung weiter zu arbeiten nicht unterlassen würden. Darin haben sie sich, glaube ich, sagen zu dürfen, auch nicht getäuscht. Die Ansprüche, welche jetzt an die Kandidaten des Schulamtes gemacht werden, müssen geradezu als übertrieben und verstiegen angesehen werden und lassen sich, buchstäblich gehandhabt, garnicht zur Ausführung bringen. Unseren freundlichen Examinatoren haben wir immer ein freundliches Andenken bewahrt.

 

Meldorf

 

Mit leichterem Herzen, als ich es lange Zeit gehabt hatte, wanderte ich im März der Heimat zu. Unterwegs machte ich die Bekanntschaft eines damals öfter genannten Literaten und verbummelten Edelmannes, Eugen v. Hammerstein, Bruder der Landvögtin Karl Lempfert von Meldorf, der zu Wagen mir nachkommend mich aufzusteigen einlud und alsbald Gelegenheit davon nahm, mir nachzuweisen, daß das nur ein Edelmann, freilich ein rechter und ganzer, tun könne. Er wußte von den bevorstehenden Ereignissen viel zu reden und bemühte sich sichtlich, die Wichtigkeit seiner mir bis dahin unbekannten Person ins Licht zu stellen. Unsere Wege führten bald auseinander.

Auf Lensahn zu einstweiligem Aufenthalt eingetroffen, sah ich und mit mir meine Eltern und Geschwister einer baldigen Anstellung entgegen.

Es kam aber anders. Am 25. oder 26. März wird es gewesen sein, als zuerst die Gerüchte von den Ereignissen in Kiel und Rendsburg[148] in sehr unbestimmten Umrissen in unsre Gegend drangen. Bald wurden sie bestimmter und sicherer; daß die Sache Schleswig-Holsteins nur durch Gewalt gelöst werden würde, war klar. Die erste Frage war nun, welchen Einfluß diese Wendung der vaterländischen Dinge auf mein persönliches Geschick und meine nächste Zukunft haben müsse. An die Ausführung der beschlossenen Gymnasial-Reform war fürs erste, wie man sich hätte sagen können, nicht zu denken. Dagegen wurden die bisher nicht dienstpflichtigen zum freiwilligen Eintritt aufgefordert. Die Kieler Studenten und Turner standen bereits auf dem Kriegsfuß. Auf's lebhafteste fühlte ich die unabweisbare Verpflichtung, dem Rufe des Vaterlandes zu folgen.

Da erhob sich nun von Seiten der Meinigen, auch meines Vaters und meiner Geschwister, insonderheit aber meiner Mutter, der jedes Verständnis für die Frage fehlte, ein so leidenschaftlicher Widerstand gegen einen ihr halb wahnsinnig erscheinenden Schritt, gegen die Gefährdung ihres Sohnes, auf den alle so große Hoffnungen gesetzt hatten, den sie mit einer Art von Stolz betrachteten, den sie nun eben in den Hafen einer sicheren und ehrenvollen Versorgung einlaufen zu sehen geglaubt hatten, daß ich die sofortige und rücksichtslose Ausführung des gebotenen Entschlusses nicht über mich zu gewinnen vermochte. Ich will es nicht verhehlen, daß mir selbst der Gedanke an das Soldatenleben, an die Nächte im freien Felde zu halb winterlicher Jahreszeit, an die sonstigen Anstrengungen und Gefahren schwer anschlug und die Nachgiebigkeit gegen Vorstellungen erleichterte, denen ich keine Berechtigung hätte einräumen müssen. Ich fand aber nicht die Kraft, dem Kummer der geliebten Mutter ruhig ins Gesicht zu sehen.

Woche auf Woche verging. Bau und Schleswig[149] waren einander gefolgt, das Herzogtum von den Dänen geräumt. Der Krieg, den schon auf die Nachricht von dem Entkommen der Dänen bei Schleswig Pastor Stinde in Lensahn als einen Scheinkrieg bezeichnete, war aus Gründen, welche damals dem großen Publikum völlig verborgen blieben, ins Stocken geraten. Endlich hatte sich meine Mutter soweit an den ihr so furchtbaren Gedanken gewöhnt, daß ich nach Rendsburg aufbrechen und meine Dienste als Freiwilliger anbieten konnte. Ziemlich kurz wurde mir auf dem Kriegs-Bureau geantwortet, man nähme keine Freiwilligen mehr an; das Gesetz über die allgemeine Dienstpflicht werde bald alle zu den Fahnen rufen. Da hatte ich's! Wieder einmal hatte ich etwas verfehlt und gefehlt, was Zeit meines Lebens auf meiner Seele lasten sollte. "Ewig still steht die Vergangenheit."[150] -

Muße hatte ich nun genug. Auf dem "Saal" des Lensahner Holländerhauses, wo ich schlief und mein Wesen hatte, wäre ich bei allem Lärm und Getreibe im Hause ungestört genug gewesen, um tüchtig arbeiten zu können. Ich habe auch das nicht getan. Nur die Zeitereignisse drückten mir einige Male die Feder in die Hand. So hatten die Berichte von Bau und besonders von der Behandlung der deutschen Verwundeten und Gefangenen mich so empört, daß ich meinem Ingrimm in einigen geharnischten Sonetten Luft machte, die den Feind als feigen Mörder des Kapitän Michelsen[151] brandmarkten. Sie sind nie an ihre Adresse gekommen. Die Gefangennahme des Kapitän Dirckink-Holmfeldt[152] bei einem Landungsversuche auf Fehmarn, die später an dem Führer des Unternehmens so hart geahndet werden sollte, brachte ich im Bänkelsänger-Tone in ein Lied, das vom Wagrisch-Fehmarn'schen Wochenblatt[153] unter die Leute gebracht wurde. Die freiheitliche und nationale Bewegung in Deutschland hatte ich mit einem unaussprechlichen Hochgefühl begrüßt. Von den Wiener und Berliner März-Tagen habe ich, wohl infolge ungenügender Berichte, und weil die Freude über das nunmehr vermeintlich für immer gesicherte Nahen einer schöneren Zeit alles übertönte, nicht den Eindruck des Grausens, den die ergreifende Tragödie des 18./19. März hervorrufen konnte. Auch den Wildenbruch'schen Briefwechsel[154] mit dem dänischen König erinnere ich nicht, damals gleich durchschaut und gewürdigt zu haben. Ich war ja mit der großen Mehrheit auch der Gebildeten der Nation in der Politik unschuldig wie ein Kind: daß noch einmal ein Gegenstoß und Rückschlag wieder kommen könne, vielmehr nach psychologischen Gesetzen kommen müsse, davon ging niemandem eine Ahnung auf; die Macht und Wohlfahrt Deutschlands schien für immer gesichert. Die soziale Frage, wie wir sie jetzt zu nennen gewohnt sind, habe ich damals wenig beachtet. Zwar fiel es mir schmerzlich auf, daß die gesamte Tagelöhnerschaft, die jetzt zum ersten Mal anfing, Zeitungen, wenn auch nicht zu lesen, doch zu hören, den Wahltag für das deutsche Parlament als einen "Haf-Dag"[155] wie jeden anderen ansah. Getreulich kamen sie mit den anderen nach dem Wahlort Oldenburg, in ihren Unterhaltungen nur mit der Höhe des Tagelohnes beschäftigt: "wi schöllt jo wählen!" Getreulich nannten sie einer nach dem anderen den ihnen völlig böhmischen Namen: Droysen her, und getreulich gingen sie wieder an ihre gewöhnliche Arbeit. Die Herren aber auf den großen Gütern in Ost-Holstein waren im Stillen in großer Sorge, zumeist diejenigen, die sich einer herrischen Behandlung ihrer Untertanen bewußt waren. Der junge Stuckenberg, Schreiber auf Lensahn, verhehlte seine Befürchtungen nicht, Befürchtungen, die auch der junge Grundmann, Lehrer in Lensahn und als solcher mit den Tagelöhnern in näherer Berührung, teilte. Ich verfocht die Meinung, das Volk ließe sich leiten und müsse geleitet werden. Ernstliche Ausbrüche sozialer Unzufriedenheit sind damals in der Tat nicht vorgekommen. Es fehlte noch völlig an der Organisation, und für Schleswig-Holstein fühlte das Herz unterm Kittel so warm wie das Herz unterm Rocke.

Über die von Preußen, genauer Friedrich Wilhelm IV. mit Dänemark geführten und mit törichtster Friedenssehnsucht nach ihrem ersten Scheitern gleich wieder aufgenommenen Verhandlungen erfuhr das große Publikum nichts. Der Malmöer Waffenstillstand[156] oder vielmehr seine Beurteilung durch das deutsche Parlament erst öffnete uns die Augen. Es wurde die allgemeine und leider ja nicht zu bestreitende Überzeugung: wir seien verraten. Was wußte der gemeine Mann von der Zwangslage Preußens? von den verwickelten Rücksichten der hohen Politik? von den Entschuldigungsgründen, die der preußischen Regierung zur Seite standen? Schwäche und Feigheit haben kein Recht zur Klage, wenn sie des Unwertes bezichtigt werden. Die preußische Staatsleitung von damals kann niemand entschuldigen.

Sie entschuldigte aber auch nicht die Greuel, für die sie von dem rohen Gesindel der Frankfurter September-Morde zum Vorwand genommen wurde. Niederträchtigeres als der Meuchelmord Auerswald's und die Zerfleischung von Lichnowsky ist kaum zu denken.[157] Sie haben mich damals mit einem Unwillen, einem Schmerz und einer Trauer um mein Volk erfüllt, die ich lange nicht verwinden konnte, und bei erneuter Erinnerung jedes Mal wieder aufwachen fühlte. Es bleibt eine von jenen Tatsachen, die leider nur zu unwidersprechlich beweisen, daß im Menschen, auch in dem sonst gutartigen Deutschen, die Bestie nur schlummert.

Mein Zorn richtete sich auf die Linke, Karl Vogt vor allen, den kalten Atheisten und hämischen Gegner alles Höheren im Menschenleben, dem ich ein Hauptteil an der von der ganzen Partei zu tragenden sittlichen Verantwortung zuschrieb. Schon die Tatsache, daß der Vorschlag eines Gottesdienstes vor der Eröffnung der Verhandlungen hatte verworfen werden können, gab den Beweis, daß das religiöse und sittliche Bewußtsein im deutschen Volke nicht die Stärke mehr habe, welche ich und andere als selbstverständlich vorauszusetzen geneigt waren. So entschloß ich mich zu einer Petition anzuregen, die von Lensahn und Umgegend an den Reichstag abgehen sollte, er möge dem Gebahren der Linken kräftiger entgegentreten. Pastor Stinde, dem ich die Bittschrift vorlegte, war zwar mit meiner Auffassung von der unserem Volke drohenden sittlichen und nationalen Gefahr völlig einverstanden, versagte aber seine Mitwirkung und riet von dem Versuche, eine Petition zustandezubringen, ab. Er wüßte nicht, ob z.B. ein Mann wie Dr. Völckers sie unterschreiben werde. Da mir jedes Ansehen fehlte, konnte ich allein auch nicht wohl an die Spitze treten. Ich begnügte mich daher, an die Wagrisch-Fehmarn'schen Blätter einen Aufsatz[158] zu richten, der die nach meiner Meinung drohende Gefahr den Landsleuten darlegen sollte: eine von den Eintagserscheinungen, die heute gelesen werden und morgen vergessen sind.

So war der Sommer vergangen, von mir leider verloren, und der Herbst mit dem halbjährigen Waffenstillstand kam. Ich war auf einige Tage nach Landoldenburg zu unseren lieben Verwandten gegangen und befand mich in Nanndorf, bei Tante Lene und Onkel Freitag, als mir von Lensahn ein Kieler oder vielmehr Meldorfer Brief nachgeschickt wurde. Es war auf Veranlassung von Nitzsch, mit dem ich auch während des Sommers in Briefwechsel geblieben war, eine Aufforderung des stellvertretenden Rektors in Meldorf, an der dortigen Schule eine Hilfslehrerstelle anzunehmen. Sofort ging ich nach Lensahn zurück, antwortete, obgleich mit Zagen, zusagend und ging nach den kurzen nötigen Vorbereitungen an den Ort ab, wo der freundliche Gott mir ein so großes Lebensglück, einen Schatz über alle Erdenschätze, bereit hielt.

Dithmarschen lag damals noch ziemlich außerhalb der Welt. Durch die Nordsee, Eider und Elbe mit ihren Nebenflüssen, der Giselau und der Holstenau, sowie deren weiten und ungangbaren Niederungen, eine Insel, hatte es bis über die Mitte des 16. Jahrhunderts sein eigenes Leben gelebt und seine staatliche Unabhängigkeit behauptet. Auch nach der "letzten Fehde"[159] blieb es nicht bloß im Besitz seiner Selbstverwaltung und Gemeindeverfassung, sondern auch seines besonderen Indigenats[160]: bis 1849, wo er aus freien Stücken durch die Wahl eines geborenen Kielers, H. Karstens, zum Kirchspielvogt, es aufgab, hatte der Dithmarscher das Recht, nur vom Dithmarscher gerichtet zu werden, d.h. seine Vögte nur aus Landessöhnen zu nehmen. Die beiden Landvögte ernannte, aber auch aus Eingeborenen, der König. Dieses Sonderwesen erhielt sich nun bei der jetzt kaum noch glaublichen Verkehrsschwierigkeit und Abgesperrtheit von dem so nah benachbarten Holstein auch in den Gewohnheiten, in Sitten und Gebräuchen, Lebensweise und Sprache der Einwohner in einem Maße, daß ich als Ostholsteiner anfangs geradezu in ein fremdes Land versetzt zu sein glaubte.

So stand denn damals Dithmarschen mit "Holstein" - diese Bezeichnung hatte sich noch aus der Zeit der politischen Getrenntheit erhalten - und dadurch mit der übrigen Welt nur durch reitende Postboten in Verkehr. Briefe wurden an bestimmten Tagen und auch nur innerhalb bestimmter Stunden je nach Osten, Norden und Süden angenommen. Wer die Post geschlossen fand, mußte eine halbe Woche warten. Personenverkehr nach Osten gab es nur einmal die Woche vermittels des Wrister Omnibus, der auch erst von 1844, der Erbauung der Altona-Kieler Eisenbahn[161], bestand. Seine Ankunft auf dem Hofplatz des Gastwirts Thomas Schmidt war für Meldorf ein Ereignis, das jedesmal eine Anzahl müßiger Einwohner herbeilockte. Um dieser unentbehrlichen Beförderung mich bedienen zu können, mußte ich nachmittags um etwa 4 Uhr mit eigenem Fuhrwerk Lensahn verlassen; dann hatte ich in Eutin von etwa 6½ bis 10 Uhr zu warten, wo die Post sich in Bewegung setzte. Mit der kam man morgens gegen 5 Uhr in den noch ungereinigten, übelriechenden Wartestuben von Neumünster an, um wieder einige Stunden zu warten. Gegen 9 war man dann mit der Bahn in "der Wrist", gegen 10 in Stadt Hamburg in Kellinghusen, und dann ging es über Schenefeld, Hohenhörn und Krumstedt durch eine immer ödere und braunere Gegend, auf Wegen im Urzustande, deren oft 4-5 nebeneinander und übereinander herliefen, nach der Hauptstadt Süderdithmarschens.

Mit recht beklommenem Herzen stieg ich aus und machte am andern Tage meine ersten Besuche und Ausgänge; zuerst natürlich zu dem einstweiligen Rektor, Konrektor Dr. Kolster, einem kleinen, sehr gelehrten, angestrengt freundlichen Manne, der mich sehr freundlich willkommen hieß und über die zu übernehmenden Stunden unterrichtete. Dann suchte ich meinen mehrjährigen Studiengenossen Dr. Delff aus Husum auf, der etwas vor mir zum Examen gekommen, in Meldorf als fünfter Lehrer Anstellung gefunden, in der etwas verwilderten Tertia Ordnung geschafft und so in der äußerst nachsichtigen Einwohnerschaft eine gewisse Anerkennung gefunden hatte. Als sehr eifriger Boston- und L'hombre-Spieler und sonstiger Tischgenosse in vielen Häusern erfreute er sich einer großen Beliebtheit. Da er im philologischen Seminar nur eine sehr bescheidene Rolle gespielt hatte und, von einer gewissen formellen Sicherheit im Griechischen und Lateinischen abgesehen, einer wirklich wissenschaftlichen Bildung entbehrte, war ich sehr verwundert, als er mir, dem künftigen Sextus, mit einem mir ganz neuen Selbstbewußtsein der Überlegenheit entgegentrat und mir alsbald mitteilte: Mein Jung, ich spiel hier die erste Violine! Auf ein erquickliches Verhältnis erweckte das keine Hoffnung; jedoch bezog ich ein kleines, bescheidenes Zimmer in demselben Hause, wo er wohnte, um auch mit ihm meine Mittags-Mahlzeiten zu nehmen.

Am 28. Oktober, dem Geburtstage meiner Mutter, wurde ich, mit dem Seminaristen Bünz aus Meldorf, einem sehr tüchtigen und wohlwollenden Elementarlehrer, in mein neues Amt eingeführt, neugierig und besorgt, wie es mir denn wohl in den ersten Unterrichtsstunden am folgenden Tage gehen würde.

Da Kolster natürlich die Prima hatte, so mußte ich gleich die Sekunda in den alten Sprachen, außerdem die sämtlichen Stunden im Französischen und Englischen und die Geschichte in Quarta übernehmen. Die Sekunda zählte nur 5 Schüler, davon waren 3 sog. Realisten[162], sodaß ich den Plutarch mit 2 Schülern, einem sehr tüchtigen, dem jetzigen Prof. Hennings in Husum, einem weniger begabten, dem jetzigen Hauptpastor in Lunden, Braasch, begonnen habe. In Prima, wo ich auch noch den Tacitus zu erklären hatte, war es einigermaßen schwierig, die alten Leute zur Erlernung der Anfangsgründe des Englischen heranzuziehen und zu kriegen; später wurde der Anfang in Sekunda gemacht. Von den 7 oder 8 Primanern, mit denen ich damals anfing, ist die größere Hälfte bereits gestorben, verdorben, verschollen und mit Bestimmtheit weiß ich von keinem einzigen, daß er noch lebt. Schwierigkeit versuchte mir auch einmal der größte und ungezogenste unter den Tertianern zu bereiten und sich Freiheiten herauszunehmen. Mein sorfortiges bestimmtes und maßvolles Einschreiten genügte, um diesen Versuch zu unterdrücken und jeden zweiten zu verhindern. Ich sah, daß ich völlig im Stande sein werde, die Meldorfer Jugend, die ich als mit Unrecht verrufen ansehen mußte, in Zucht zu halten. Ich war über diese erste Erfahrung sehr froh und dankbar und machte schon meine ersten Spaziergänge nach 4 Uhr mit sehr erleichtertem Herzen. Da auch meine Arbeiten für die Schule nicht schwer, die Korrekturen bei so geringer Schülerzahl unbedeutend waren, so wachte mein lange gesunkener Lebensmut ganz allmählich wieder auf, besonders auch in Folge des Bewußtseins, daß ich vielleicht bald meinen Eltern die Freude machen würde, mich in geachteter Stellung für meine Lebenszeit wohlversorgt zu sehen.

Zu der Meldorfer Einwohnerschaft konnte ich nicht sofort ein Verhältnis gewinnen; ganz allein durch meine Schuld. Der Dithmarscher, insonderheit der Meldorfer - ich rühme es mit dem lebhaftesten Dankgefühl - ist von einer ungemeinen Zuvorkommenheit, Freundlichkeit und Gastfreiheit gegen jeden Fremden und gegen jede Fremde; eine Eigentümlichkeit, die ohne Zweifel auf urgermanischem Grunde ruht, durch die Seltenheit fremder Erscheinungen wohl aber auf diesem weltentrückten Boden noch genährt und gesteigert worden ist. Die Bevölkerung, etwas über 3000 an der Zahl, zerfiel, von den Arbeitern abgesehen, in zwei ziemlich scharf geschiedene Klassen, die Beamten und die "Bürger". Der Bruchteil der Beamten war stärker als in anderen Orten gleicher Größe, und als Hauptort Süder-Dithmarschens war Meldorf zunächst der Sitz der königlichen Oberbeamten, des Landvogts, dessen Stellung durch die Eingangsworte seiner Verfügungen angedeutet war: Ich, Karl Lempfert, Landvogt von Süderdithmarschen, gebiete euch, was folgt... und auch die Schlußformel: wonach ihr euch zu richten. Der Sitz der höchsten Landesgerichtsbehörde bedingte eine ungewöhnlich große Zahl von Advokaten, 5-6; denn, wie alle freien Völker des Altertums, waren auch die Dithmarscher von Alters her in Sachen des Mein und Dein äußerst genau; mit daher ihre Tapferkeit, mit der sie den eigenen Herd verteidigten. Dazu kamen noch 2 Kirchspielvögte, der oberste Steuerbeamte, der Landschreiber für die Staatssteuer, der Pfennigmeister[163] für die Landschaftssteuern; dann 3 Pastoren, 4 Ärzte und die "studierten" Lehrer der "Klasse", wie die gelehrte Schule vielfach im Volksmunde genannt wurde. Nimmt man hierzu noch einige Pensionäre, den Aktuar[164], den Kirchspielschreiber, den Organisten, einen oder den anderen begüterten und gebildeten Hofbesitzer der Nachbarschaft, den Branddirektor, den Apotheker, einen oder den anderen sonstigen hinzu, so stellt es sich heraus, daß die Zahl der gebildeten Familien, noch mehr die Zahl der wissenschaftlich Gebildeten aller vier Fakultäten eine verhältnismäßig ungewöhnlich große war.

Die Bürger, selbst die größeren Kaufleute, Gewerbetreibenden, Gastwirte, Ackerbürger zählten nicht mit. Das war alte Überlieferung, und niemand stieß sich daran.

In die "Gesellschaft" mich einzuführen, übernahm Delff, und da ich die Verhältnisse nicht kannte, ließ ich ihn völlig gewähren, sodaß ich ausschließlich nur bei denen meine Besuche machte, die er für passend hielt. Da so mehrere Häuser, unter ihnen auch die Landvogtei, von mir übergangen wurden, so beging ich von vornherein, ohne es zu wissen und zu wollen, eine ganz unbegründete Unhöflichkeit gegen alle diejenigen, bei denen mein Freund und Vormund aus irgendeinem Grunde mich nicht einzuführen für gut fand. Da er vorzugsweise in Familien verkehrte, wo "patitert"[165], d.h. Boston[166] und Whist oder auch L'hombre gespielt zu werden pflegte und auch ohne Einladung, durch Herbeischaffung eines dritten und vierten, aus dem Stegreif ein Spiel gemacht werden konnte, so wurde auch ich genötigt, mich in das mir durchaus nicht zusagende Kartenspiel einführen zu lassen. Da ich dazu ebensowenig Gabe wie Neigung hatte, so spielte ich, auch noch nach längerer Übung, so gut wie nie ohne Verlust. Es ging aber einmal nicht anders. Nach dem Spiel wurde ein einfaches, oder auf Einladung auch wohl reicheres Mahl eingenommen. Um 6 Uhr kam man zusammen, um 12 Uhr brach man auf; ungezwungene Heiterkeit herrschte; daß sie, selbst bei größeren Gesellschaften und feierlichen Gelegenheiten, je ausgeartet wäre, kann ich nicht sagen; nur ein einziges Mal erinnere ich, daß der Wirt und auch mehrere Gäste angeheitert waren. Der Tee, gleich nach dem Eintreffen, wurde in freier Unterhaltung mit Herren und Damen genommen; dann trennten sich die spielenden Herrn und die arbeitenden und die Tagesfragen besprechenden Damen, jüngere wohl auch zu Gesellschaftsspielen; - um 10 Uhr führte und ging man zu Tisch, wobei die Paare nicht durch Bestimmung der Gastgeber, sondern nach eigener Wahl der Herren gebildet wurden. Nicht immer mit erwünschtem Ergebnis. Meine gänzliche Fremdheit in den gesellschaftlichen Formen und Tölpelhaftigkeit - anders kann ich's nicht nennen - führte mich das erste Mal, wo ich eingeladen war, zu einem groben Verstoße, der unzweifelhaft in ganz Meldorf großes Aufsehen gemacht hat und nicht schmeichelhaft für mich besprochen sein wird. Ich war beim Advokaten Paulsen geladen. Als ich zu Tisch ging, wählte zuerst der Wirt, dann die übrigen nach Alter und Stellung sich ihre Damen; noch war ein unverheiratetes, garnicht mal so sehr viel älteres Fräulein übrig, und ich beging die Dummheit, nicht zu sehen, daß auch mir die Pflicht zu wählen oblag und ich die letzte zu führen hatte. Was mag die arme Verschmähte, was mögen die Wirte und alle übrigen von dem neuen Lehrer an der Klasse für einen Begriff bekommen haben! Jetzt kann ich mich ja selbst nicht begreifen. Aber ich bin oft im Leben ungemein tölpelhaft zu Gange gekommen.

 

Kiel, Sept. 4. ff.

Ich unterbreche, zunächst nur auf 5 Tage, meine Arbeit über die Jahre 1863/64, um zu "Stine Paulsen" zu kommen, dem eigentlichen Kern und Gegenstand meiner Aufzeichnungen und gehe darum auch über die Zeit bis dahin so rasch hinweg, als die Sache erlaubt.

 

Der Winter von 48 auf 49 ging mir in der angedeuteten Weise recht rasch dahin. Weihnacht traf ich auf Tangstedt bei meinem Schwager Davids, der dort von seinem Schulfreunde, Völckers aus Eutin, als Inspektor die Kühe vorteilhaft gepachtet hatte, mit meinen Eltern oder vielmehr mit Vater und Doris zusammen. Auf einer Treibjagd beging ich eine unglaubliche Dummheit. Den ganzen Tag hatten die Treiber kein Stück aufgejagt. Endlich waren wir Schützen an dem Knick aufgestellt, der eine ziemlich weite Ebene begrenzte, und nicht lange, so kam ein Reinicke senkrecht auf die Schützenlinie zugesprungen. Er konnte uns garnicht entgehen. Da aber schoß ich, meines Treffens nach früheren, öfter gemachten Erfahrungen sicher, mein Gewehr in einer Entfernung ab, die einen Erfolg unmöglich machte. Sofort machte Reinicke halb links und war bald den Blicken wie den Schüssen entschwunden. Alle Welt fragte staunend und höhnend und verdrießlich: Wer hat geschossen? Der Missetäter schämte sich gehörig. Von den gleichfalls verdrossenen Treibern bemerkte einer: "Na, nu hebbt ja woll all' scheeten, de Gelehrten un de Verkehrten!" Ich habe seitdem, soviel ich erinnere, nicht wieder gejagt.

Als der Frühling näher kam, stellte sich mehr und mehr die Wahrscheinlichkeit der Erneuerung des Krieges heraus. Am 26. Februar hatte Dänemark den Waffenstillstand gekündigt[167]. Anfang März wurde ich einberufen, in Rendsburg eingekleidet, nach Wester-Rönfeld verlegt, und nicht lange danach das ganze Reserve-Jägerkorps in Kiel vereinigt, um dort ausgebildet und zugleich als Besatzung verwandt zu werden für Stadt und Hafen, die nur durch sehr notdürftige Schanzwerke gegen eine Landung geschützt waren. Unsere Kleidung war schrecklich, alte dänische, gefärbte Röcke mit zwei Reihen Knöpfen und dicker Hede-Ausstopfung[168]. Pastor Stinde aus Lensahn, der mich ganz zufällig eines Tages in der Jensenstrasse aufgestellt sah, hatte in der Heimat eine entsetzliche Beschreibung von meinem Aussehen gemacht. Meine Vorgesetzten waren nicht die angenehmsten, weder Hauptmann Helmund, der bei Schleswig 1848 den Arm verloren hatte, noch viel weniger der große und grobe Leutnant Lenz, ein Braunschweiger. Der erstere nannte mich statt bei meinem Namen nur den Schulmeister, die bekanntlich beim Militär besonders schlecht behandelt werden. Den Unterschied wissenschaftlicher und seminaristischer Bildung deutlich zu machen, gab es natürlich kein Mittel. Auch den Kameraden galt ich als Schulmeister, obwohl nach einiger Zeit einem und dem anderen die Ahnung aufging: he is wat mihr! Angenehm war es, daß einige Bekannte und Gebildete unter der Kompagnie oder doch im Korps waren, mit denen man in freien Stunden zusammentreffen konnte. Als Unteroffizier befand sich auch Stine's Bruder, Hans, darin, der mit mir im selben Jahre Student geworden war. Quartier nahm ich als sog. Einjähriger mit Sinjen aus der Probstei, - bei dessen Ohm, dem Advokaten Sinjen in Düsternbrook, dem ersten Ansiedler dort, wir einige vergnügte Abende zubrachten, - bei einer kirchlich Harmsianisch gesinnten Wirtsfamilie Niehuus auf dem Walkerdamm. Der Dienst war nicht schwer, namentlich auch nicht, wenn wir am Ausgang der Förde in Laboe und Umgegend lagen und uns der Probsteier Gastlichkeit, z.B. bei dem Vater Sinjen's auf Freienfelde, zu erfreuen hatten.

Eben fing Anfang Mai die Erde an, sich in das ewig neue Grün des Frühlings zu kleiden, als sich plötzlich die Kunde verbreitete, das Reservekorps sollte 176 Mann zur Ergänzung an die gelichteten Reihen des 1. und 2. Jägerkorps in Jütland abgeben. Unter den dazu bestimmten war auch ich. Wir fuhren nach Kiel, und am Dienstag vor Himmelfahrt setzte sich das Kommando nach Groß-Nordsee, wo übernachtet wurde, und dann weiter nach Rendsburg in Bewegung. Das Bewußtsein, daß wir einem ernsteren Abschnitt unseres Soldatenlebens entgegengingen, war, wenigstens bei mir, kräftig lebendig. Aber in einer Schar junger Männer flieht eine ernstere Stimmung bald. Am Himmelfahrtstage hatten wir Ruhe, ohne der Bedeutung des Tages gewahr zu werden. Am Freitag setzte sich die ganze, auch für die Infanterie-Bataillone vorgebildete und herangezogene Mannschaft nach Norden in Bewegung.

Über den Marsch habe ich später in einem meiner Merk-Bücher Aufzeichnungen gemacht, die ich leider nicht bis zum Ende des Feldzuges fortgesetzt habe. Die wenigen Blei-Notizen, die ich während des Feldzuges selbst gemacht habe, sind unlesbar geworden und meine damaligen Briefe in die Heimat finde ich augenblicklich auch nicht mehr, obwohl ich sicher zu erinnern glaube, daß meine gute Schwester Doris sie treu aufbewahrt hatte und ich wenigstens den Bericht über Idstedt 1850[169] noch später gelesen zu haben aufs deutlichste erinnere. - Meine Erinnerung hat mich nicht getäuscht: eben finde ich die Briefe aus dem Felde in einer anderen Schieblade als meine sonstigen Briefe und kann dann hier auf dieselben verweisen. Nur den kurzen, mit Bleistift geschriebenen Bericht aus dem Biwak bei Veile vom 7. Juli "im Lustgarten hinter der Hecke" will ich hier wiederholen und aus der Erinnerung noch hier oder da eine Ergänzung hinzusetzen.

"Soweit war ich" (mit meinem Briefe vom 3. Juli) "gekommen, als Wilhelm", mein Bruder, "plötzlich zu meinem größten Erstaunen in die Stube trat; seinen Aufenthalt laßt Euch von ihm erzählen. Jetzt nur - Wilhelm war natürlich, sowie alarmiert wurde und der Kampf sich hörbar machte, zurückgegangen auf Kolding - (Ein Irrtum! Wie der Brief vom 14. Juli zeigt, war W. schon am 5. abends wieder zurückgegangen. Er hat aber noch unterwegs von dem Kampfe gehört.) "ganz kurz die Nachricht, daß ich wohl und gesund den traurigen Tag des 6. Juli[170] durchgemacht habe; die ganze Avantgarde ist wenig oder garnicht im Gefecht gewesen, auch wir also nicht; ich habe nur 2 Schüsse getan. Sonst war der Tag stramm, von morgens 2 Uhr (richtiger 1 Uhr) bis abends 7 Uhr auf den Beinen, ohne Pause, ohne Kaffee oder Frühstück oder Mittag, bloß mit ein bißchen Brot und Butter versehen. Als wir zuerst dem Feind entgegenzogen, etwa ½5 Uhr, war die ganze Chaussee von Fridericia nach Kolding schon mit Wagen und Mannschaften, ohne taktischen Verband, bunt durcheinander, wie das Gefecht sie geworfen hatte, bedeckt. Fast alle Wagen waren mit Verwundeten besetzt, die meisten, bei weitem die meisten mit Wunden im Kopfe." Lebhaft erinnere ich einen, dessen Haar, von dem den Kopf überströmenden Blute, ganz geglättet und steif an den Kopf gelegt war. Auf fiel mir, daß man keinen Laut des Schmerzes hörte; aber der starre Ausdruck der Gesichter mit ihrem ehernen Ernste, die Schweigsamkeit und Stummheit, mit welcher der lange, unabsehbare Wagenzug an uns vorüberfuhr, machte mir einen desto tieferen Eindruck. Viele, weniger schwer verwundet, schleppten sich mit Hilfe ihrer Kameraden zu Fuß weiter; viele waren auch unverwundet. Ernst, sehr ernst aber waren alle. An einer Stelle sah ich, wie man den jungen Soldaten Sachau, der eben erst gefunden schien, auf eine Tragbahre brachte, bewußtlos, soweit man sehen konnte, und schwer getroffen, nachher auch, wenn ich nicht irre, in Christiansfeld gestorben.

"Gott sei mit euch! Heute geht's schlimmer, macht es wieder gut!" "Heute ist Landsmann nicht sauber" tönte es hin und wieder aus den Reihen. Es war ein schwerer Anblick und ein schwerer Gang, den ich nie vergessen werde. Gott sei Dank, daß er es diesmal noch gnädig mit uns gemacht hat. Einige Male wurden wir noch von den Verfolgenden beunruhigt, oder glaubten es wenigstens zu sein, nahmen auch - es war wohl in dem Elbe-Tal[171] - wieder eine Verteidigungsstellung ein. Einmal, erinnere ich sehr deutlich, flog, gleichsam ohne alle erkennbare Ursache, ein panischer Schreck auf uns nieder; alle Welt duckte sich, keiner wußte, warum, und warf sich in den Knick. Bald sah man, es war nichts gewesen. Bei Veile in dem grünen Tale der Aue war gerade gemäht und das Heu in den wohlbekannten langen Linien zum Trocknen aufgerollt. Dahinein legten wir unsere Tornister, möglichst dicht einer an den anderen, zogen unsere Mäntel an und schliefen die schöne, sternenhelle, nordische Sommernacht, wie ich wenigstens in meinem Leben nicht wieder geschlafen habe. Am anderen Tage hatte ich auf der Mühle, eben südlich von Veile, einen Posten mit einer Rundsicht und einer Aussicht, wie sie schöner vielleicht an der ganzen cimbrischen Ostseeküste[172] nicht getroffen wird. - "Es ist für unsere Sache ein harter Schlag, den wir nicht so leicht verwinden, und er hätte so leicht vermieden werden können; denn was machen die 30000 Mann bei Aarhuus, ohne einen Feind vor sich zu haben, während wir einer doppelt und dreifach überlegenen Anzahl zerstreut gegenüberstehen? Blut möchte man weinen über dieses verräterische Spiel! Blut weinen über die Hunderte der armen Opfer, die so nutzlos gelitten! Möge Gott sie rächen, denn sein ist die Rache! - Man schätzt unseren Verlust auf 2-3000 Mann, ohne die Geschütze u.s.w. Bald werdet Ihr ja auch aus den Zeitungen das Genauere sehen. Gott sei mit Euch und mit mir. Euer Karl. Allernächstens mehr." (Folgt in dem Briefe vom 14. Juli.)

Den 8. oder 9. Oktober werde ich von Altona aus in Lensahn angekommen sein. Der letzte Brief (vom 30. September) kündigt es an.

Ein Wort möchte ich hier nur noch einsetzen über den Sommer von 1849 und die Gegend, in der wir lagen.

Es war einer der sonnigsten Sommer, deren ich mich erinnere, eine kurze Zeit im Juni abgerechnet, wo es sehr kalt war. Pfingsten namentlich, wo wir die Freunde der ersten Kompagnie besuchten, war ein herrlicher Tag. Überhaupt trug die wenig unterbrochene Ruhe im Dorfe Skjarbeek viel dazu bei, den Aufenthalt angenehm zu machen, nicht minder die wahrhaft paradiesische Gegend. Einer unserer gewöhnlichsten Posten auf einem nahen Berge bot über Fühnen, Fanoe und Fanoe-Kalv, über das Ufer des kleinen Beltes und der Koldinger Förde eine Aussicht, die durch Schönheit von keiner schleswig-holsteinischen überboten, vielleicht kaum erreicht wird, an Großartigkeit aber wohl allen voransteht. Sehr im Gedächtnis liegen mir die Abende, so merklich länger und heller als bei uns; wenn dann unser Hornist die Retraite[173] blies und die langsam gehaltenen Töne des Hornes durch die ganze stille Landschaft hallten, so weckten sie eine Flut von Empfindungen. -

Von Lensahn werde ich auch wohl bald nach Meldorf wieder in meine Stellung zurückgekehrt sein. Nach den mir nicht mehr sicher verständlichen Zeichen in meinem Kalender zu rechnen, müßte es jedoch erst am 21. Oktober gewesen sein. Der Kalender von 1850 ist nicht erhalten, ebensowenig meine Briefe aus der Zeit von Oktober bis Weihnacht 1849. Erinnerlich ist mir, daß ich mehr als 1848 in Gesellschaft und namentlich bei Delff und dem Branddirektor Henrici sehr häufig kam, mehr und mehr mich aber von Herzen an meinen Kollegen Vechtmann anschloß.

Rätselhaft ist mir der Brief vom 10. März 1850, nach welchem ich am selben Abend meine Einberufung nach Altona erwartet habe. Der vorhergehende enthält noch keinerlei Andeutung, und der nächste folgende (10. April 1850) berichtet wieder aus Meldorf, daß ich in meine Funktionen unverändert wieder eingetreten bin, - und der Ausdruck: "nach ziemlich langem Aufenthalt" (im Vaterhause) deutet in der Tat auf längere Zeit als die gewöhnlichen Osterferien. Weiterhin heißt es geradezu: "ich sei in den 4 Wochen sehr aus der Übung (des Kartenspiels) gekommen" und aus dem Briefe vom 28. April geht hervor, daß ein Brief von Lensahn nicht an "meinen Feldwebel" gelangt ist, sondern "auf dem Bureau des Korps geblieben, da es gleich bekannt geworden, daß ich schon wieder fort war". Im Briefe vom 4. Juli heißt es geradezu: "zum dritten Male muß ich denn hinaus". Danach wäre in der Tat eine kurze Berufung zum Korps nach Altona anzunehmen, die ich dann völlig vergessen haben müßte, was mir freilich undenkbar erscheint.

Gegen Ende April besichtigte der neue General Willisen das 9. Bataillon. Daß er mir alt und steif vorkam, erinnere ich mich mit ganzer Bestimmtheit und ergibt sich auch aus meinem Briefe vom 28. April. Sonst aber sollte er auf alle, die ihn dann gesprochen haben mögen, einen vorteilhaften Eindruck, namentlich auch den  des "offenen, entschiedenen Auftretens" gemacht haben! Wie sehr hatten sich alle getäuscht![174]

In den ersten Juli-Tagen stand der Wiederausbruch des Krieges bereits fest: am 2. Juli war der Berliner Friede[175] geschlossen. Am 4. traf ich bereits meine Anordnungen. Die Einberufung zog sich hin und kam schließlich garnicht. Am 9. war ich wieder in Itzehoe bei meinem stark veränderten Jägerkorps.

Den Feldzug von 1850 habe ich im Winter 1851 in meiner unfreiwilligen Muße ausführlich beschrieben[176] und kann für alles darauf verweisen.

Am 24. Januar war ich wieder bei meinen Eltern.

Es war wohl nicht möglich, sofort in meine Stelle in Meldorf wieder einzutreten, da sie mittlerweile von dem aus Flensburg vertriebenen August Mommsen eingenommen und gewiß sehr tüchtig ausgefüllt war. Selbst wenn er sein früheres Wort, er müßte ja ein Schurke sein, wenn er nicht gleich nach dem Kriege mir wieder  Platz machen wollte, hätte wahrmachen wollen, war ja das Interesse des Unterrichts entschieden gegen eine solche Unterbrechung. Auch gönnte man ja ihm als Vertriebenem gern eine vorläufig bleibende Stelle. Endlich würde aber auch mein Befinden jeden Eintritt in eine unbehinderte Wirksamkeit unmöglich gemacht haben. Denn grade erst nach dem Kriege brachen bei einer sehr großen Anzahl der Entlassenen bösartige Krankheiten aus, und von mir bekannten Offizieren, jungen, kräftigen Leuten, wurden mir damals nicht weniger als 4 Todesfälle bekannt.

So mußte denn auch mein Körper erst durch einen ungewöhnlich heftigen und ungewöhnlich hartnäckigen Lungenkatarrh alle die Krankheitsstoffe in harter Arbeit wieder verarbeiten und aussondern, die er in dem Sommer- und Winter-Feldzuge aufgesammelt hatte. Nie in meinem Leben, weder je vorher noch nachher, obwohl ich viel daran gelitten habe, habe ich einen solchen Husten gehabt und solche Massen Unrats ausgesondert. Der Husten war so krankhaft und setzte namentlich des Abends beim Zubettgehen mit solcher Krampfhaftigkeit ein, daß ich schlechterdings unfähig war, mich meines Zeuges zu entledigen. Schließlich mußte ich mich bequemen, von dem kalten Saal, wo ich sonst mein sehr zusagendes Zimmer hatte, nach unten überzusiedeln und heizen zu lassen. Es wird nicht viel vor Ostern gewesen sein, daß ich völlig wieder hergestellt war. Mein Wunsch, nach Berlin auf ¼ Jahr zu gehen, mußte unterbleiben. Hätte ich mehr Mut und Vorausblick gehabt, so hätte ich Mommsen ruhig in Meldorf gelassen und wäre zu weiterer Ausbildung nach Italien gegangen. Die einmal feststehende Unmöglichkeit, daß mein Vater solche Opfer zu bringen nicht imstande sei, ließ derartige Gedanken garnicht aufkommen.

Am 25. April, in der Woche nach Ostern, war ich wieder in Meldorf. Mein Leben ging wieder seinen schon gewohnten Gang in Arbeit und Vergnügen, d.h. namentlich geselligem Verkehr. Alsbald aber beschäftigte mich der schon 1850 in freilich unbestimmte Aussicht genommene und durch den Krieg abgeschnittene Plan, meine Ferien in Paris zuzubringen, teils um mich in der Aussprache zu vervollkommnen, teils um die merkwürdige Stadt und das französische Volk aus eigener Anschauung kennenzulernen. Am Freitag Abend, den 11. Juli, ging ich dann, begleitet von guten Wünschen, besonders Vechtmann's, nach Hamburg ab. Meine Unternehmung erregte damals noch in einem Orte wie Meldorf einiges Aufsehen.

Mit einigen guten Empfehlungen versehen, von Forchhammer z.B. an den Oberbibliothekar der National-Bibliothek, K.B. Hase, von Prien an den Dr. und Prof. Keil, der damals auf der Bibliothek arbeitete, kam ich ohne Unfall nach nur des Nachts unterbrochener Fahrt über Aachen und Brüssel in der großen und schönen Hauptstadt an und fand auch bald im Hotel de Normandie, Rue St. Honoré, 4-5 Treppen hoch ein mir genügendes, sehr kleines Zimmer zu 1 Franc den Tag. In Valenciennes, der Grenzstation, war ich in meiner Unerfahrenheit ganz nahe vor einer gründlichen und sofortigen Störung des ganzen, mit so großen Erwartungen angetretenen Unternehmens, vor der mich aber doch der liebe Gott gnädig bewahrte. Das Gepäck wurde von den Zollbeamten untersucht, und ich hatte mich dabei etwas verspätet, sodaß ich die damals noch nötige Lösung einer neuen Fahrkarte in einiger Hast zu besorgen hatte. Als ich die Karte bezahlt hatte, suchte ich sie vor allem in meinem Taschenbuch in Sicherheit zu bringen und ließ dabei in der Eile meine Bücher auf dem Zählbrett liegen. Sowie ich das Taschenbuch, das ich auf kurze Zeit zwischen meinen Augen und dem Zählbrett gehabt hatte, wieder herunternahm, um es wegzustecken und mein Geld zu fassen, erblickte ich eine Hand ganz dicht, wenige Zoll von demselben entfernt, die aber dann mit einem heftigen Ruck zurückgezogen wurde. Ich guckte nach dem Besitzer dieses Armes, der mich seinerseits auch mit der größten Freundlichkeit und tiefem Bückling grinsend begrüßte, während der Mann am Schalter mit unveränderter Amtsmiene dem ganzen Vorgang zugesehen hatte. Noch ahnte ich nichts, hatte auch keine Zeit mehr, nachzudenken, sondern kam nur noch mit Mühe in den Zug. Erst als ich wieder saß, wurde mir die Sache klar, und ich atmete in der Vorstellung des so nahe drohenden und noch eben glücklich abgewandten Unfalles erleichtert auf. Das wahrhaft Bezeichnende des Vorganges scheint mir noch heute darin zu liegen, einmal, daß der eine Bahnhofsbeamte den anderen ohne weiteres als einverstanden voraussetzte, sodann darin, daß er auch nicht die leiseste Regung einer Überraschung oder Verlegenheit blicken ließ. Hillebrand's großes Lob der französischen Ehrlichkeit halte ich für schlecht verdient. Dafür habe ich als weiteren Beweis die Unehrlichkeit meines Wirtes. Als ich bezahlen wollte für die 16 Tage meines Aufenthaltes in seinem Gasthof, behauptete er, mir das Zimmer zu 1¼ Francs vermietet zu haben. Ich erhob die dringlichsten und festesten Vorstellungen. Umsonst. Was wollte ich machen? Meine festgesetzte Abreise unterbrechen, mich vielleicht zurückhalten lassen? Ich mußte den ungerechten Gewinn zahlen.

Im übrigen aber verlief mein ganzer Aufenthalt in der landschaftlich so schön gelegenen und eingerahmten, selbst so hübschen, an Sehenswürdigkeiten, geschichtlichen Erinnerungen, Denkmälern der bildenden Künste, Museen aller Art, Schlössern und Baulichkeiten so überreichen, für Fremde so überaus bequemen und zugänglichen, von äußerlich so liebenswürdigen und höflichen Leuten bewohnten Stadt bei voller, körperlicher Gesundheit und Frische in einer Weise, daß ich mit vollster Befriedigung heimkehrte.

Ich hatte meinen Kollhoff[177] gut studiert. Morgens um etwa 8 Uhr ging ich meine vier Treppen herunter, um in irgendeinem bequem gelegenen Caffe mein Frühstück zu nehmen und in den Zeitungen die an dem Tage offenen Sehenswürdigkeiten zu merken. Und dann ging es los. Bis gegen 3 oder 4 Uhr wurde unausgesetzt gewandert von einer Sehenswürdigkeit zur anderen und besehen, solange Kraft und Frische vorhalten wollten. Darauf nahm ich in einem bequem gelegenen Gasthaus ein einfaches Mittagsmahl - einmal auch eins zu 4 Frs = 3 Mark 20 *[178]! -, und dann überließ ich mich dem Nichtstun oder dem Schlendern und der Beobachtung des hauptstädtischen Lebens. Nur die Unterrichtsstunde, welche ich bei einem im Adreßbuch besonders für Ausländer empfohlenen, angeblichen Meister der Aussprache nahm, ging von dieser dem Besehen gewidmeten Zeit ab. Es war ein Professor von weniger oder keiner wissenschaftlichen Bildung, der einen großen Erfolg bei mir nicht erzielte. Wie ich z.B. das mouillierte ll[179] sprechen sollte, konnte ich schlechterdings nicht fassen. Gegen 10 Uhr kroch ich ins Bett. Das Zurechtfinden war mir teils durch die Örtlichkeiten, teils durch die polizeilichen Einrichtungen, teils durch die vortrefflichen Pläne so leicht, daß ich höchstens drei oder vier Male einen Vorübergehenden um Weisung angegangen habe. Die Seine, die Boulevards, dann die Parallel-Straßen, wie die lange Rue St. Honoré, Rivoli u.a. mit blauen Hausnummern, die senkrecht von links nach rechts auf die Seine zuschneidenden Straßen mit roten Hausnummern, deren Sinken auf Annäherung an den Fluß, deren Steigen auf Entfernung deutet, wie Rue Richelieu, Rue Vivienne, Rue du Bai, bilden für den Fremden das Hauptverkehrsnetz, in dem er sich ohne alle Schwierigkeit zurechtfinden kann.

Die lange Reihe von Sehenswürdigkeiten, die ich in dieser genau berechneten Weise, mit großer Zuratehaltung der Zeit in vollen 16 Tagen durchmachte, würde ohne Interesse sein, aufzuzählen und unmöglich, auch nur annähernd im Einzelnen zu beschreiben. Sehr viel des Sehenswerten ist nicht von mir unaufgesucht geblieben; ich habe mehr gesehen als mancher, der Jahre lang da gewesen ist. Es ist mir aber auch der Besuch aller dieser öffentlichen Sammlungen, Gebäude, Merkwürdigkeiten, überhaupt dem Fremden dermaßen leicht, bequem und angenehm gemacht, wie in keiner mir bekannten Stadt. Erstens ist alles frei, ohne Entgelt, ja selbst ohne Trinkgeld geöffnet: ich habe in Paris im Ganzen wohl kaum einen Franken Trinkgeld bezahlt, während in London allein der Besuch der Paulskirche, der obendrein stückweis, sowie und soweit man ihn macht, bezahlt wird, mir über 1 *[180] gekostet hat. Sodann ist man vom ersten Eintritt in das Gebäude bis zur Ausgangstür sicher, teils durch Inschriften, teils durch die aufgestellten Wärter, des rechten Weges keinen Augenblick zu verfehlen. Endlich ist für die Bequemlichkeit des Besuches überall Fürsorge getroffen. Ist einmal eine Sammlung nicht ohne besondere Erlaubnis zu sehen, wie z.B. die artilleristische, so bedarf es nur heute eines kurzen Gesuches an das Ministerium der öffentlichen Arbeiten, und am anderen Morgen liegt die gewierige[181] Antwort auf dem Tische.

Wäre ich damals so genau mit den einzelnen Vorgängen der französischen Revolution bekannt gewesen, wie ich es später wurde, so wären mir die geschichtlich denkwürdigen Stätten ein Gegenstand noch größerer Aufmerksamkeit und lebhafterer Bewegung gewesen. So habe ich vorzugsweise nur die Tuilerien und das Versailler Schloß, den Palais Royal, die Juli-Säule, die Notre Dame-Kirche, das Stadthaus und das Pantheon in dieser Beziehung ins Auge gefaßt. Im Versailler Schloß, das durch seine Pracht wie durch seine Größe einen beklemmenden und, wenn ich recht deute, in der Seele Ludwig XIV. beklemmenden Eindruck auf mich machte, ist es mir noch heute wegen der Ereignisse von 1870/71 von besonderem Wert, außer dem berühmten Balkon und dem Marmorhof, besonders den Spiegelsaal in genauer und anschaulicher Erinnerung zu haben. Auch die Bildersammlung mit "allen Ruhmestaten" (toutes les gloires) Frankreichs ist der Art, daß eine Nation Ursache hat, die Franzosen, wenigstens um die Verherrlichung ihrer Großtaten zu beneiden. Die "großen Wasser", die nur einige Sommertage spielen und dann einen guten Teil der Pariser Bevölkerung herauslocken, sind und bleiben eine Spielerei, wie anderswo auch. Aber die Aussicht von der Höhe des Schloßberges zeigt eine paradiesische Landschaft.

Meine größte Bewunderung galt aber einer Manufaktur, der Porzellanfabrik von Sèvres[182], einer Stiftung, wie sie meines Wissens und Erachtens auf der Welt geradezu einzig ist, ein Werk der Wissenschaft, der Kunst und des Handwerkes zugleich. Was die ältesten und gebildetsten, die neuesten und rohesten Völker der ganzen Erde von den Urzeiten an durch alle Jahrhunderte bis zur Gegenwart auf dem Gebiete der Töpferei in seiner weitesten Ausdehnung an Gefäßen, Zieraten, Ausstellungen irgendwelcher Art hervorgebracht haben, liegt hier in einer großen, viele Säle füllenden Sammlung in Musterstücken, in ethnographischer und geschichtlicher Anordnung, mit einem Blicke übersehbar, dem Besucher offen. Die modernen französischen Porzellansachen waren von einer Feinheit und Weiße, daß ich nur mit großer Mühe der Versuchung widerstand, eine einfache Tasse oder einen kleinen Nachttisch-Teller mit Goldrand zu 8 Frs. zu kaufen. Die Malereien waren vollendet, Blumen, Landschaften, Porträts - sie waren durch den Schmelz und die Zartheit der Farben über alle Beschreibung schön. Prinz Albert und Königin Victoria, damals in der Londoner ersten Weltausstellung, hatten in meinen Augen geradezu etwas Zauberhaftes.

Auch eine Teppichfabrik habe ich mit dem größten Interesse beim Teppich-Weben und Scheeren und beim Gobelin-Sticken am Werke gesehen. Man kann es nicht leugnen, die Franzosen "wissen zu machen"[183]. Diese Schmucksachen der Reichen waren in der Tat lauter Kunstwerke. Schade, daß sie nur den Oberen Zehntausend zugänglich sind.

Auch ein Abenteuer, das leicht hätte bedenklich werden können, sollte mir nicht erspart bleiben. Eines besonders schönen Abends hatte ich länger als gewöhnlich auf den Boulevards, die ja dann erst ihr volles Leben entfalten, auf- und abgeschlendert. Um rascher zu Hause zu kommen und nicht erst, wie gewöhnlich, die Rue Vivienne zu nehmen, dachte ich, der Richtung meiner Straße St. Honoré und meines Gasthofes vollkommen sicher, gerade durchzugehen, und schlug mithin eine ganz beliebige Querstraße von den Boulevards nach der Seine zu ein. Nicht lange, so tauchten in der sonst ganz stillen und unbegangenen Straße allerlei verdächtige Gestalten auf, namentlich die mir aus Eugene Sue so wohlbekannten Pariser Lumpensammler mit ihren Pik-Stuben; was aber bedenklicher wurde, auch Frauenzimmer, die im höchsten Staate vor ihren Türen auf und ab patrouillierten, zuerst sich begnügten, mich anzurufen, bald auch handgreiflich wurden und mich zu fassen und zu halten suchten. Plötzlich, von einer furchtbaren Angst erfaßt und über den Charakter der Gegend und ihre Gefahren in der Nacht aufgeklärt, setzte ich mich in eine Bewegung, die jeder Bemühung der Verfolger spottete. Zum Glück wurde kein größeres Publikum auf den Vorgang aufmerksam; die Lumpensammler warteten ihres Handwerkes und nach einigen heißen Minuten konnte ich, da das Aussehen der Straße sich änderte, eine gemäßigtere Gangart annehmen. So gelangte ich dann ganz richtig, wie ich gerechnet hatte, schließlich glücklich wieder in die Straße St. Honoré und dankte meinem Gott für gnädige Errettung.

So verlief mein Aufenthalt in Paris in der erwünschtesten und befriedigendsten Weise. Ich genoß die großartigen Eindrücke, die mir alle so neu waren, in vollen Zügen. Wiederholte Anwandlungen eines mir in dieser Weise unbekannten und damals besonders fernliegenden Bangens gingen vorüber und wurden wieder vergessen. In Paris nämlich sah ich zum ersten Male, was es damals in Hamburg und Berlin noch nicht gegeben haben wird, Läden, welche ausschließlich Trauerzeug enthielten. So oft ich einen solchen Laden sah, erfaßte mich ein Bangen. Den berühmten Kirchhof Père Lachaise verließ ich bald wieder, weil der Anblick der Zypressen und Gräber mir schwer war. Ein Leichenwagen erschreckte mich. An einem Sonntage, wo ich in St. Cloud war und mich hier sonst an der wundervollen Übersicht der in einem großen, weiten Talgrunde, in die Ferne fast unabsehbar hingestreckten Stadt ganz besonders hoch erfreut hatte, ergriff mich ohne sichtbare Veranlassung plötzlich eine ganz besondere Sehnsucht nach den Meinen und eine tiefe Niedergeschlagenheit. Einmal, vielleicht mehrmals, aber das eine Mal erinnere ich mit großer Bestimmtheit, fiel es mir plötzlich auf die Seele: Mein Gott! du hast ja noch nicht ein einziges Mal nach Hause geschrieben! Vier Wochen pflegten in gewöhnlichen Zeiten zwischen meinen Briefen mindestens zu verlaufen, und daß ich die aus dem Auslande größeren Porto-Kosten scheute, ist in einem meiner hierauf bezüglichen Briefe ausdrücklich ausgesprochen. "Wenn etwas passierte", diese Form nahmen meine sich so plötzlich aufdrängenden Erwägungen an, ich erinnere es mit größter Bestimmtheit, "sie könnten dir ja gar keine Nachricht zukommen lassen!"

Doch diese und ähnliche Anwandlungen gingen vorüber. Ich war im Ganzen über das Gelingen meines Unternehmens hoch beglückt und hatte Lust zu weiteren, nämlich auf der Rückreise zu einem Abstecher nach London und zu der ersten Weltausstellung bekommen. Ich war mit Paris in der Tat in den 16 Tagen "fertig" geworden. An allen Ecken lockten die Anschläge: En onze heures à Londres! Eine Nacht - und am andern Morgen war ich da! Gedacht - getan! Ein Schnellzug, der uns von einer Seite beständig zur andern warf, sauste mit uns nach Boulogne, das Schiff ging in die hochgehenden Wogen, einer der Gäste nach dem anderen verfiel der Seekrankheit; nach kurzer Qual schon kamen wir in stilleres Wasser; noch vor Mittag legten wir am Themse-Quai an. In den 3½ Tagen, die mir noch blieben, sah ich die Ausstellung, was einen ganzen Tag wegnahm, Westminster, St. Paul's, den Themse-Tunnel, Windsor, und ja wohl auch das britische Museum. Von Ermüdung wußte ich damals nichts. Morgens brannte ich nur immer vor Begierde nach neuen Unternehmungen. Mit Einkäufen für alle versehen, machte ich mich auf die Heimreise, zu Schiff nach Ostende, bei dem starken Ostwind eine 12-stündige Qual, sodaß ich ganz erschöpft in Ostende ankam und sofort das Bett aufsuchte. Meine Weiterreise ging ohne jeden Vorfall vonstatten.

Abends war es, wo ich in Altona bei meinem Vetter Eduard ankam. Das Haus schien mir merkwürdig tot und still. Auch mein Vetter und seine Familie steif und einsilbig. Es wurde gegessen, und ich fing dann an, so recht in voller Befriedigung über meine herrliche Reise zu erzählen. Es machte wenig Eindruck, was mir so wichtig erschien. Plötzlich fragte Eduard dazwischen: Sag mal, bist du kürzlich auf Lensahn gewesen? - Sowie er die Frage getan, erfaßte mich das Bangen, und nur noch eines verhüllenden Wortes bedurfte es, da wußte ich alles. In lautes und heftiges Weinen brach ich aus: der Tod meines Vaters, der vorher in seinem 73. Lebensjahr noch so rüstig gewesen war, schien mir so unmöglich, und unsere Verwaistheit und Verlassenheit, obwohl ich, der jüngste, doch 28 Jahre war, so unüberkommbar, daß ich, trotzdem unser Verhältnis das einer herzlichen Liebe und eines offenen Vertrauens nicht gewesen war, doch mich aufs tiefste gebeugt fühlte. Nun verstand ich meine Ahnungen! Ich habe seitdem in und vor schweren Heimsuchungen derartige Vorempfindungen, - auch solche eines besonders freudigen Ereignisses! - so manche und so deutliche gehabt, daß keine Philosophie mir je das Dasein solcher Fernwirkungen auf die menschliche Seele wegdisputieren wird. Ich werde noch weiter von der Sache zu melden haben.

Am andern Morgen ging ich, statt nach Meldorf in mein Amt, nach Lensahn, wo ich dann das Nähere erfuhr und mich ausweinen konnte. Eine Karbunkel[184] auf der Oberlippe hatte ihn innerhalb weniger Tage am 29. Juli dahingerafft. Als ich am 9. oder 10. August kam, deckte ihn schon seit einer Woche die Erde.

Auch in Meldorf empfing mich die wärmste Teilnahme. - Aus meinem hinbrütenden Schmerze riß mich zum ersten Mal das Geburtstagsgeschenk empor, das der liebe Gott mir zubereitet hatte.

Ich war nach einem Spaziergang gegen die Dämmerung zurückgekehrt und bei meinem guten Freunde, dem Apotheker oder Provisor Schmedto, der gleichfalls als Junggeselle hauste, eingetreten. Es war ein Sonntag. Da kam der Physikus, der liebe, menschenfreundliche, stets heitere Dr. Michelsen und gratulierte. In der Meinung, es sei zu meinem Geburtstage, fragte ich ihn, wie er es erfahren? Von Kolster, antwortete er, der sei bei mir gewesen und habe mich nicht getroffen. Noch immer ahnte ich nichts, bis er dann endlich damit herauskam, meine Bestallung sei eingetroffen! Nicht lange, so kam auch Delff atemlos angerannt, um mir Glück zu wünschen. Dann gingen wir zu unserem Kollegen Bünz, der dasselbe erfahren, auch ernannt war. Sowie ich nach Hause kam, setzte ich mich hin und schrieb den Brief vom 17. September 1851, der Euch, liebe Kinder, das Freudentränen entlockende Glücksgefühl noch heute vergegenwärtigen kann, das mich über das so lange ersehnte und so bescheidene Glück, das mir geworden war, erfüllte. Ich glaubte in der Wahl des Tages eine Stimme zu vernehmen: Sei getrost! -

Am Montag den 6. Oktober - Fides! - wurden wir eingeführt. Kolster verwendete die Namen des 6. und 8. - Fides und Charitas - der 7. hieß wie seine Frau Amalia - sehr gut und sehr angebracht, und ich verstand ihn wohl. Meine Gegenrede sollte meine Strenge begründen und rechtfertigen, wegen welcher ich verrufen war. Durch ihre Offenheit entwaffnete und versöhnte sie. Frau Kirchspielvögtin Hensen drückte mir dafür in der nächsten Gesellschaft bei Kolsters die Hand.

So ging es denn wieder in den Winter hinein, der damals für mich nur noch angenehmes hatte. Ich wurde als nunmehr wohlbestallter Lehrer Gegenstand erhöhter Aufmerksamkeit für Mütter und Töchter, als ich, ohne es zu ahnen, auch schon bisher gewesen war, und wurde sehr viel ausgebeten. Nach Weihnacht wurde es damit noch häufiger, und es kam vor, daß ich 5 Abende nacheinander in Gesellschaft war.

"In dieser Zeit" - so heißt es in einem meiner Briefe, vom 8. Februar 1852, "hatte ich sehr ernste Gedanken." Eine neu gemietete, unendlich viel angenehmere Wohnung, die ich am 1. März bezog und in der ich mich ganz ungemein befriedigt fühlte, trug dazu bei, meine frohe Stimmung zu steigern. Was aber den noch ganz geheimgehaltenen Grund und Gegenstand lieblichster, aber mit Furcht gemischter Hoffnungen ausmachte, das will ich jetzt im Zusammenhange erzählen.

Laßt mich Euch nur ganz offen die Geschichte meiner Liebe zu Eurer hochverehrten Mutter erzählen: für mich ist die Erinnerung ein nachklingendes Wiederdurchleben einer Zeit, die mir, wenn auch unter Zagen und Bangen, unaussprechliches Glück gebracht hat.

 

 

Stine Paulsen

 

Es muß bereits im Frühjahr 1849 gewesen sein, als in Gesellschaft einer Schwester - Johanna - und einer anderen Dame, einer Meldorferin, glaube ich, ein ganz junges, noch backfischartiges, kleines Mädchen mir in der oberen Zingelstraße begegnete, die durch ihre schwarzen, glänzenden Augen, ihre braune, gesund gerötete Gesichtsfarbe und durch ihren frisch, beinahe keck und selbstgewiß in die Welt hinausschauenden Ausdruck, im Ganzen durch etwas Besonderes, Fremdartiges, Ausländisches meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich erfuhr nicht, wer sie sei. Erst gelegentlich hörte ich, es werde wohl die Schwester der Doktorin Müller, Schwägerin des Arztes Dr. Müller gewesen sein, bei dem Delff mich nicht eingeführt, den er nicht einmal je gegen mich erwähnt hatte; wie ich später zu argwöhnen veranlaßt wurde, aus ganz besonderem Grunde.

Darauf war ich von März bis Oktober von Meldorf fort. Obwohl ich seit Neujahr 1849 und auch wieder nach Michaelis 1849 an der Müller'schen Wohnung vorbeikam, so oft ich, mehrere Mal täglich, nach der Schule und zurückging, hatte ich doch bis dahin nie wieder Gelegenheit gehabt, sie dort als Kostgängerin bei ihrem Schwager, oder anderswo an drittem Orte zu sehen.

Erst im Winter 1850 muß ich sie öfter gesehen und mich um sie gekümmert haben; denn zwischen mir und Schmedto war wiederholt von Müller's, die damals, meine ich, nach der Zingelstraße in ein neu gekauftes Haus zogen, und von der Familie Paulsen, den 4 schönen Schwestern - für Johanna schwärmte er -, auch von dem Verhältnis zur Stiefmutter die Rede. Damals erst erfuhr ich auch, daß sie ein auf 18-20000 M-, also noch zu klein, angegebenes Vermögen hatten. Schmedto war es, der mir nun anbot, mich bei Müller's einführen zu lassen. Das geschah, nachdem ich nicht lange vorher die Doktorin, - Tante Gretchen -, mit ihren großen, dunklen und anscheinend nur sanften Ausdruckes fähigen Augen bei Delff kennengelernt hatte. Sie machte auf mich einen bedeutenden und ungewöhnlichen Eindruck; auch sie hatte etwas im Wesen ganz anderes als andere Frauen. Sie hatte damals schon von mir gehört, auch, daß ich ihnen einen Besuch zugedacht habe, worüber sie ihre Freude aussprach.

Ganz bald nach meinem Besuch, zum 2. Pfingsttag 1850, wo sie Besuch von ihrer Schwester Stine hatte, die damals nicht mehr ihre Kostgängerin war, wurde ich zu ihnen in Gesellschaft geladen. Ob ich die Kühnheit gehabt habe, sie zu Tisch zu führen, ist mir nicht mehr erinnerlich. In einem Briefe vom 22. Mai erwähne ich sie gegen Eltern und Geschwister als "ein hübsches Mädchen, mit 6000 *[185] Vermögen, die aber leider sehr, sehr klein ist". "Die Doktorin machte durch Sanftmut und Milde ihres Wesens einen überaus vorteilhaften Eindruck." Am folgenden Tage sah ich sie noch einmal bei meinem lieben Kollegen Vechtmann.

Schon am 12. Juni, bei herrlichstem Sommerwetter, hatte ich die Freude, zu einer Fahrt nach Albersdorf mit eingeladen zu werden, die Gretchen und Müller bei Frau Mama ermöglicht hatten. Delff und Frau, Vechtmann und der Advokat Müller, Schmedto, die beiden Fräulein Hansen, Dora und Minna, waren außer mir dabei. Mein Brief nach Lensahn erwähnt ihrer nicht. Aber sehr hat sich mir der ganze Tag und ihr Bild damals schon eingeprägt. Ich erinnere besonders lebhaft, wie sie mit ihrem freundlich lächelnden und strahlenden Gesichte etwas verspätet aus der Tür ihrer Schlafstube in die bereits versammelte Gesellschaft trat, um die Einzelnen zu begrüßen. Sie trug das von mir sog. Dornen-Kleid, das ein Muster mit lauter Dornen ohne Rosen das bekannte Sprichwort in Erinnerung zu bringen geeignet war. Vormittags wurde eine Tour ins Arkebecker Holz, nachmittags in die sog. tiefen Gründe gemacht. Ich war befangen, blöde, stolztuerisch und unhöflich genug, die drei jungen Mädchen völlig zu ignorieren. Zu Tisch führte ich sie doch, aber auch nur, weil sie die letzte war, und keine für mich anders übrig blieb. Ahrens und Elisabeth mit ihrem prachtvollen ersten Jungen Andreas waren auch gekommen. Nachmittags im tiefen Grund thaute ich zu einigen Worten auf, und auf meine Zunge, aber nicht von meiner Zunge kam auch das Wort: Keine Rose ohne Dornen. Jedenfalls zeichnete ich den tiefen Grund, und auf der Höhe des Ufers, an dessen Fuß wir lagerten, stand eine einzelne kleine Dame.

Als ich bald danach aufs Neue in den Krieg hinausmußte, trug ich Stine's Bild bereits im Herzen. Aber freilich, es kam eine Zeit, wo ich es im Unwillen verletzter Eigenliebe da herausgeworfen zu haben meinte. Das kam so:

Am 10. Oktober 1850 setzte ich mich mit zweitägigem Urlaub von Lunden in der sicheren Vorahnung in Bewegung, daß ich Stine zum Besuch bei ihrer Schwester treffen würde. Ich hatte mich nicht geirrt. Sie erschien, aber nur um zu sagen, sie ginge zu Christiane Thiessen, um dort den Abend zu verbringen. Ich war, ohne daß jemand sonst eine Ahnung davon gewann, wie geschlagen, zugleich aber auch empört und für den Augenblick geheilt. Ihretwegen allein hatte ich den weiten Weg von Lunden her gemacht, doch jedenfalls mehr als 3 Meilen, und nun lief sie davon und schien doch damit - denn daß ein Versprechen gegen Christiane sie band, wußte ich nicht - deutlich auszusprechen, daß sie sich nichts aus mir mache, wie es damals auch wirklich noch der Fall war. Nun, denn nicht, so ungefähr waren meine Gedanken; denn nachlaufen sollst du ihr nicht. Am andern Abend gegen 12 war ich wieder bei meiner Kompagnie und klemmte mich mit großer Mühe in ein schon ganz gefülltes Bett. Nur die sonstige Teilnahme aller Bekannten in Meldorf, die ich gefunden hatte, konnte mich für die erfahrene Täuschung in etwas entschädigen. Aber so übel belohnt für meinen nicht verstandenen Liebesdienst, wie ich mich fühlte, suchte ich mir das schöne Bild aus dem Kopfe zu schlagen.

Erst Ostern 1851 kam ich wieder nach Meldorf. Ich wüßte nicht, daß ich sie bis zu den Sommerferien wiedergesehen hätte. Damals war sie auch längere Zeit in Hamburg bei ihrer seit November 1851 verheirateten Schwester Johanna. Auch in dem Rest des Jahres 1851 erinnere ich nicht, sie getroffen zu haben. Indes ist mir ein Bild von ihr gegenwärtig, das ich wohl im Laufe des Sommers oder Herbstes von 1851 aufgenommen haben werde. Meine damalige Wohnung bei dem Sattler und Hutmacher Timmermann, dem Hausnachbarn Dr. Müller's, lag nach hinten, nach der Hofhalle des anderseitigen Nachbars, des Gastwirts Schmidt. Hier sehe ich sie noch heute in schwarzer, seidener Jacke in freundlichem und freudigem Lächeln vom Wagen steigen - ein liebliches Bild! (- Nach weiterer Erwägung und Studium der Hieroglyphen auf meinem Kalender möchte ich glauben, daß das Himmelfahrt 1852 gewesen sein wird. - Doch nein! Da wohnte ich ja nicht mehr bei Timmermanns. Wohl aber wird sie damals zu Pfingsten schon Himmelfahrt gekommen sein. -) Anders aber wurde es mit dem Anfang des Jahres 1852.

Da war sie, wohl gegen Ende Januar, nicht lange nach dem schweren Tode ihrer kleinen Stiefschwester Friederike, wieder einige Wochen bei ihrer Schwester in Meldorf, und ich war dort wieder einen Abend - es war am 22. Januar; gekommen war sie am 20. Januar - nach langer Zeit mit ihr in Gesellschaft. Sie trug ein sehr einfaches graues Kleid mit grünem Gürtel, hoch am Halse, die ganze jugendlich-blühende Gestalt eng umschließend. Es war eine Erscheinung von seltener Lieblichkeit und Anmut. Vechtmann, den ich auf sie aufmerksam machte, sagte mit Nachdruck: "Wirklich, allerliebst!" - An dem Abend hatte ich sie zu Tisch und fand, wie mir vorkam, - das stimmt mit einem Briefe Stines vom Januar 1853 - auf ein offenes Herausgehen mit der Sprache auch ein bereitwilligeres Eingehen ihrerseits. Die Erwähnung gegen Mutter und Geschwister vom 8. Februar 1852, - am 7. Februar war sie abgereist, - gone - in meinem Kalender - die Tochter des Dr. Michaelsen, mit der ich geneckt würde, sei doch lange nicht so niedlich und lieblich als die Schwester meiner lieben Nachbarin, der Doktorin Müller, "Stine Paulsen" und der ausdrückliche Zusatz, "ich habe sehr ernste Gedanken in dieser Zeit gehabt", zeigen die erneuten Wirkungen ihrer Gegenwart. Teils dies, teils die sichtbaren Bemühungen mancher Mütter und Töchter, die mich sehr in ihre Kreise hineinzogen, machten mein Leben damals zu einem sehr vergnüglichen und angenehmen; ich lebte förmlich auf, und die Leute hatten ihr Wunder.

Die beiden Pfingsttage, 30. und 31. Mai, waren sehr stürmisch und rauh. Am Dienstag saß ich in Peters' Garten, und wer barg eine größere Freude in seinem Herzen als ich, da Dr. Müller kam und mich zu einer Wagenfahrt nach Nordhastedt zu Adolf Peters, einem Jugendfreunde der Paulsen, und nach Riese zu Herrn Niemann, einem Nachbarn, einlud; beides Landsleute, aber beides zugleich gebildete Leute. Denn Stine war von der Partie! - Das Wetter, 2. Juni, war mit einem Male warm und schön, und das Vergnügen, so schrieb ich nach Lensahn, war groß. Es scheint aber, wenn ich recht erinnere, daß teils die mir noch unbekannten Gäste, z.B. Onkel Karsten, der mir zurückhaltend vorkam, teils die gleichfalls noch unbekannten Wirte ein völlig freies Verkehren erschwerten. Mit Stine namentlich weiß ich nicht irgend länger oder eingehender gesprochen zu haben. Auch mag das hartnäckige Hagelkorn[186], das ich schon lange am Auge mit mir herumtrug, etwas zur Dämpfung meiner Lust beigetragen haben.

Schon am 7. Juni kam eine neue Holztour und zwar nach Albersdorf. Das war die sog. Holzschule[187], eine Verwaltungsförmlichkeit, welche der Aktuar der Landschaft Süderdithmarschen, Kanzleirat Wagner, in den Albersdorfer Forsten gegen Forstfrevel, glaube ich, alljährlich am Montag in der vollen Woche nach Pfingsten vorzunehmen hatte. Da aber die Dithmarscher an jede Zusammenkunft zu öffentlichen Zwecken nach urgermanischer Sitte einen Schmaus oder ein Gelage anzuschließen pflegten, so war auch in diesem Falle die Hauptsache die Festversammlung bei dem Albersdorfer Kirchspielvogt, Harders, und Frau Gemahlin, einer Schwester der Dr'in Michaelsen. Ganz Meldorf fast, damals 5 wohlbesetzte Wagen voll, überfielen denn schon vormittags die Kirchspielvogtei und wichen nicht vor dem späten Abend. Es war ein lustiger Tag, und namentlich ich muß ja wohl ein wenig ausgelassen gewesen sein; wenigstens erinnere ich - und es tat mir recht leid - von der Vollmacht[188] Brütt, einer äußerst verständigen Hausfrau des gastlichsten Hauses in Meldorf, einen recht empfindlichen Rüffel davongetragen zu haben.

Und ich ahnte nicht, daß wenige 100 Schritt von mir Stine sich den Tag auf das furchtbarste härmte. Obwohl die 8 jungen Mädchen aus Meldorf, die bei Kirchspielsvogts versammelt waren, sämtlich ihre genauen Bekannten und Freundinnen waren, hatte man sie nicht eingeladen. Wie nachher zweifellos hervortrat, hatten Michaelsens und noch mehr Tante Harders meine Verlobung mit Emilie Michaelsen, wo ich oft gekommen war und gern kam, ohne jemals die Tochter ausgezeichnet zu haben, als eine Frage kurzer Zeit angesehen. Jedoch war auch schon nicht ganz verborgen geblieben, daß ich ein Auge auf Stine Paulsen habe. Ob sie nun irgend etwas gefürchtet haben, kurzum, des Nachmittags, wo die jungen Mädchen ihr einen Besuch machten, brachten sie sie zur eigentlichen Holztour nicht mit.

Was aber, ich muß es ja gestehen, viel schwerer für Stine sein mußte und von mir geradezu gegen sie unverantwortlich und gegen die Eltern unhöflich war: auch ich kam nicht, einen Besuch im Pastorat zu machen. Und warum nicht? Einzig und allein aus Furcht, aus Menschenfurcht und Unentschlossenheit nicht. So reizend und in jeder Beziehung ein glückverheißender Besitz sie mir schien, mit meinem Entschlusse, wirklich um ihre Hand zu bitten, war ich noch weitaus nicht fertig. Nicht die Besorgnis vor einer Abweisung, die ich schon damals kaum mehr hegen zu brauchen glaubte, war es, was mich zurückhielt, sondern einzig und allein das Gefühl: ich sei ihrer nicht würdig. So wagte ich weder Ernst zu machen, noch die Liebe zu ihr ein für alle Mal aus meinem Herzen zu reißen, sondern ließ es so hinstehen, wie es war, und suchte den wahren Sachverhalt allen zu verbergen und die Meldorfer Gesellschaft auf ganz falsche Fährte zu leiten; nur das Zeugnis darf ich mir geben, daß ich keiner anderen irgendwelche Dinge gesagt oder Aufmerksamkeiten erwiesen hätte, aus denen sie auf Heiratsgedanken und -absichten hätte schließen dürfen. - Wohl kam mir nun der Gedanke: Du mußt hin; aber immer wieder hielt mich die leidige Sorge zurück: Du verrätst dich! Es wurde nichts daraus. Wie oft hat später Stine mir die Qualen geschildert, die sie ausgestanden. Ach und sie hat gesagt, daß sie bereue, zu ihrem heißen, heißen Gebet nicht hinzugefügt zu haben: Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe! - So habe ich sie gequält, noch ehe sie meine Frau, noch ehe sie meine Braut war. Es war nicht mannhaft von mir gehandelt. Das kleine Gedicht vom 28. April in Mamas Album spricht mein Schwanken sehr entsprechend aus. Aber - was sind Worte!

Kaum 3 Wochen, so wurde ich von Müllers schon wieder auf Sonntag, den 4. Juli, zu einem großen Picknick nach Riese geladen.

Es war in jeder Beziehung, besonders auch durch ein Sommerwetter ohne Gleichen ein herrlicher Tag. Natürlich war zu all den Meldorfern auch Ahrens und Elisabeth von Süderrade, auch Stine Paulsen aus Albersdorf gekommen. Die Zeit im Walde verlief in der Freude verschiedener Spiele. Auf eine allgemeine Aufforderung Stine's bei einem Dattelkern: wer will mit mir Vielliebchen essen? - wagte ich wieder nicht zu sagen: Ich! Doch kam ich in den Besitz des Kernes, ich weiß nicht, wie? Gegen Abend ward auf den Hof gezogen; in der Scheune sollte getanzt werden. Die Lehmdiele war recht uneben. Plötzlich komme ich und meine Tänzerin, Frau Niemann, in's Stolpern und fielen übereinander dahin, sie unten, mit dem Hinterkopf auf die harte Diele. Da sie sich nicht sofort erhob, sondern Schaden genommen zu haben schien, so entstand sofort eine vollständige Stockung im Tanz und große Aufregung. Sie wurde ins Haus gebracht, und Dr. Müller untersuchte sie. Ich, ganz bestürzt und zerknirscht, war ziemlich allein auf der Scheunendiele geblieben, als ich in einiger Entfernung draußen Stine mit dem sichtbarsten Ausdruck der Teilnahme und der Tröstung nach mir hinblicken sah, was vor den Augen aller, die sehen wollten, als eine Art Bekenntnis gedeutet werden konnte. Nach einiger Zeit hörte man, es sei nichts verletzt; nur verlange sie nach ihrem Arzte, sie sei überhaupt ein wenig hysterisch und gefährlich. Der Tanz wurde nun zwar nicht wieder aufgenommen - und vielleicht war das ganz gut - möglicher Weise hätte die schon angeregte Stimmung, die freilich nicht das Mindeste von einer Anheiterung hatte, doch etwas zu lustig werden können. So setzten wir uns bei einem Juli-Abend, wie er schöner und stiller garnicht hätte gedacht werden können, im Kiefer-Garten zu einem einfachen Abendessen, wie es jedem zu Gebote stand, nieder und waren bis in die Nacht hinein vergnügt wie die Kinder. Es war ein wundervoller Tag. Meine Freude stieg, als ich hörte, Stine führe mit nach Meldorf. "Was will sie schon wieder in Meldorf", sagte Ahrens, "was mag sie da haben?" Nun kam noch die schöne Fahrt, gegen 3 Stunden lang. Sie saß nicht mit mir auf einem Wagen. Aber auf der Delbrücke tauschte Liese Thiessen mit ihr, und nun saßen wir auf einem Stuhl. Ohne ausdrückliche Geständnisse war unsere Unterredung eine solche, daß keiner an der Gesinnung des anderen mehr zweifeln konnte. Sie trug damals die Spangen, die noch jetzt in dem kleinen, grünen Kasten liegen, und ich ergriff einen Vorwand, sie mit dem Zeigefinger tastend und prüfend zu berühren, was sie geschehen ließ. Als wir dicht vor Meldorf und vor dem Abschiednehmen waren, äußerte sie den Wunsch, es möchte noch lange nicht zu Ende sein. Und doch war es 3 Uhr morgens! Aber freilich, es war in jedem Sinne des Wortes eine herrliche Nacht!

Um 8 Uhr stand ich auf meinem Platze am Katheder. -

Was nun? Zweifeln konnte und durfte ich nicht länger. Ich hätte sofort mich erklären müssen. Dennoch vermochte ich zu keinem Entschluß zu gelangen; sie mußte irre an mir werden, sie mußte sich geradezu auf die Folter gespannt fühlen. Noch weitere Zeichen des Einverständnisses fanden wir in den folgenden Tagen Gelegenheit auszutauschen. Auch die Gesellschaft bei Müllers, wo ich, statt zu spielen wie die anderen Herrn, mit den Damen den Spaziergang nach den Wolmersdorfer Bergen mitmachte, gab weitere Gelegenheit zu bedeutungsvollem Zwiegespräch. Nie entfaltete sich überhaupt die ganze Lieblichkeit ihrer Erscheinung, die ganze Anmut ihres Wesens, die herrlichen Farben ihres Gesichtes schöner und entzückender als in der freien Natur. Dennoch überwand ich das Zagen nicht. Ich wollte noch einmal in der Ferne während der 3 Wochen Ferien den Entschluß überlegen. Sie reiste nach Albersdorf zurück. Ich mit Gretchen und ihren Kindern und Vechtmann's nach Ostholstein; ich nach Lensahn über Kiel, Gretchen nach Kiel, Vechtmann's nach Eutin. Im Garten der "Stadt Hamburg" zu Kellinghusen saßen Gretchen und ich lange wartend, in etwas gedrückter und befangener Unterhaltung zusammen, offenbar beide mit denselben Gedanken erfüllt.

Auf Lensahn habe ich dann die Sache mit den Meinen wiederholt besprochen, wie mein Brief zeigt; aber weiter gekommen war ich doch nicht, als ich zurückkehrte. Zwei liebe Briefe, von meinem hochverehrten Direktor Jacob und von meinem Beichtvater Michelsen, redeten zu; aber tun den Schritt sollte doch immer schließlich ich allein.

Da kam Stine am 10. September mit ihrer Schwester Elisabeth wieder zum Besuch in Meldorf. Gleich am ersten Abend traf ich sie in großer und lustiger Gesellschaft bei Vollmacht Brütt. Ich gewann den Platz neben ihr, ohne daß sie meine Tischdame war. Sie war sehr lustig, machte auch namentlich mit Fräulein Laura Gullama, die gleichfalls, vielleicht in gleichen Gedanken, besonders aufgeräumt war, vielen Scherz. Die Erwähnung einer nur uns beiden bewußten Sache - ich weiß nicht mehr, welcher - veranlaßte den Austausch eines Blickes, der mich ihrer Liebe völlig gewiß machte. Am Montag und Dienstag war ich wieder zu kurzen Besuchen bei Müller's. An meinem Geburtstag hatte ich Müller mit zu einer Boston-Partie. Am Sonntag, den 19. September, sah ich sie wieder bei Vechtmanns. Hier mag es gewesen sein, wo ich auf ihre Erklärung, das Stricken sei ihr so langweilig, die andeutungsreiche Bemerkung machte, es sei aber doch sehr notwendig! Am 23. September war große Gesellschaft bei Propst Hansen. Hier artete die gesellige Lust infolge reichlichen Punsches ein wenig aus, ich kann es nicht leugnen, auch bei mir. Dafür erhielt ich am 26. September von der Doktorin Müller einen recht strengen Verweis, dem man aber die Liebe anfühlte. Auch Stine's Liebe hatte, wie sie mir später gesagt hat, einen Stoß erlitten. Und doch war es bei mir nur die Trunkenheit der Liebe zu ihr. Am 27. September gaben Thiessen's ihren großen Ball. Die Familie, früher in Albersdorf, wo der Vater Kirchspielvogt gewesen war, war durch nachbarliche Freundschaft mit den Paulsen's auf's engste befreundet. Die Paulsen'schen Geschwister hatten in dem Thiessen'schen Hause völlig freien Ein- und Ausgang; Speisekammer und Garten standen ihnen zu unbeschränkter Verfügung, alle Freuden der Familie mußten die Paulsens mit teilen. Meine Stine hat ihnen, bis zu Ende aus, eine unbegrenzte Dankbarkeit bewahrt, am meisten der ältesten Tochter, die seit Ostern die treu schweigende Vertraute ihres Herzens-Geheimnisses gewesen war. Die Familie bestand aus der Mutter und deren Mutter, dem jüngsten, noch unverheirateten Sohn Hermann und den beiden Schwestern. Obwohl in guten Verhältnissen und gebildeter wie manche andere, zählten sie doch zur Meldorfer Gesellschaft nicht mit. Allein Stine und mir zu Gefallen gaben sie nun ganz gegen ihre Gewohnheit und gewiß zu nicht geringer Beschwer diesen großen Ball, zu dem sie auch mich einluden, obwohl ich ihnen nie einen Besuch gemacht hatte. Zum Kotillon[189] sie zu erhalten, kam ich natürlich zu spät. Aber das hatte auch sein Gutes. Nun konnten wir uns unsere Zeichen geben. An sie kam die Reihe zuerst. Sie brachte mir ihre Schleife. Noch überlegte ich, ob ich ihr nun auch meinerseits meinen Strauß bringen sollte; das war ja für schärfere Augen eine Erklärung vor aller Welt. Doch lange dauerte das Schwanken nicht; ich konnte unmöglich anders, es wäre geradezu eine Verleugnung gewesen. Als ich sie wieder zum Platz führte, drückte ich ihr leise die Hand. Der Druck wurde erwidert. Durch Zeichen hatten wir uns unzweideutig erklärt. Und dennoch kam auch jetzt noch das Wort nicht über meine Lippen. Der Brief war fertig. In zwei noch folgenden Gesellschaften beobachtete ich eine Haltung, die sie noch einmal irre und ganz unglücklich werden ließ, (das eine Mal wenigstens war es wohl das reine Mißverständnis. Denn damals bei Vechtmanns muß es gewesen sein, als ich Immermanns "Ideal"[190] vorlas. Da der Idealist "Häns'chen" genannt wird, hatte Stine und auch Gretchen eine Anzüglichkeit darin gefunden, weil ihr Bruder Hans heißt.) zumal da sie nach ihrer natürlichen und offenen Weise weniger zurückhaltend war. Am 4. Oktober ging ich schon um 4 Uhr wieder hinüber. Der Doktor wurde geholt und ging. Gretchen mußte ihre Kinder besorgen. Wir waren allein in der gewöhnlichen Wohnstube nach Süden und saßen anfangs stumm da. Dann bat sie mich, etwas zu spielen, und öffnete das Fortepiano. Ich spielte ein wenig, stand dann wieder auf und sagte, ich müßte fort. Sie lud mich ein, zu bleiben. Mir pochte das Herz; ich hatte das unabweisbare Gefühl, ich müßte heraus mit der Sprache, sie hätte das Recht, eine Erklärung zu verlangen. Ich äußerte meine Besorgnis, ich möchte ihrer Schwester und ihrem Schwager zu viel kommen. "Das wissen Sie doch wohl, daß Sie das nicht tun", antwortete sie. "Ihnen auch nicht, Fräulein Paulsen?" kam nun wie von selbst; es konnte nicht mehr anders sein. Eine kurze Pause. - Dann flog sie mit einem "Nein! O, Herr Jansen, was haben Sie mich lange schmachten lassen!" in meine Arme. Ich hielt sie zurück und gab ihr den Brief, der im Grunde eine einzige Warnung war, ihr Geschick nicht an das eines Mannes zu binden, wie ich wäre. "Stine!" - hob er an. Er hatte keine Unterschrift.

Warum sprach ich sie denn an? Warum hatte ich sie soweit gebracht? War es nicht Ja und Nein zugleich? Hieß das wirklich getrost, fest und entschieden ein junges Mädchen ansprechen, ihre Hand, ihr Alles verlangen, sie bitten, ihr Lebensglück in meine Hand zu legen? Es war nicht, wie es hätte sein sollen. Hielt ich mich unwürdig, dann hätte ich längst sie meiden, ich hätte überhaupt nicht die Liebe in ihr wecken und nähren müssen. Glaubte ich mich doch wohl würdig genug, so hätte ich sie nicht gleich mit Unglücksandeutungen ängstigen müssen. Und wie konnte ich verlangen, daß ein junges Mädchen auf der Höhe ihrer lange zurückgehaltenen Leidenschaft für meine Warnungen oder Bekenntnisse irgendwelches Ohr oder Auge hätte haben sollen? Ich tat Ja und sagte Nein! -

Ich blieb den Abend da. Wir waren sehr vergnügt. Müller und Gretchen ahnten nichts. Ich hatte Stine gebeten, erst ganz für sich den Brief zu lesen, ganz für sich zu erwägen und dann ganz allein zu entscheiden. Noch war es zwischen uns beiden allein, ein süßes Geheimnis! Gretchen legte uns den Abend Karten. Die Sprache der Karten war geradezu wunderbar. - Übrigens hatte mir schon früher Frau Prof. Prien, die vielleicht etwas ahnte, auch in einer Weise Karten gelegt, die etwas Überraschendes hatte. - Gegen 11 Uhr erst riß ich mich los. Ich fühlte mich damals noch wie befreit von einem Druck.

Am 5. Oktober holte mich Dr. Müller herüber. Sie war in der großen Stube links. Wir gaben uns den ersten Kuß. Es waren selige Augenblicke! -

Überschwenglich gesegnet, unaussprechlich beglückt - wie hätte ich damals es für möglich halten sollen, daß ich je mein Glück so wenig würdigen, so wenig dankbar hätte heilighalten sollen! Verzeihe mir, Gott! Sie hat mir immer herzlich aufs neue, sie hat mir richtig 77 mal sieben mal verziehen! Sie hat vergeben nicht bloß, sie hat auch vergessen! Liebe Kinder! glaubt mir, Eure Mutter war eine seltene, ja, sie war eine einzige Frau!

Die Worte: "O, was haben Sie mich lange schmachten lassen!" findet Ihr nicht in dem Briefe vom 13. November an meine Mutter und Geschwister. Ich habe wohl gefürchtet, sie könnten ihnen von meiner Erwählten einen falschen Begriff beibringen. Sie war durch und durch eine wahre Natur; wie Ihr aus meinem Bericht gesehen, hatte ich sie einzig durch meine Unentschiedenheit und Halbheit länger als ein halbes Jahr hingehalten, hangen und bangen lassen. Nun war sie nicht nur eine wahre, sie war auch eine starke weibliche Natur, voll Entschlossenheit und Entschiedenheit, fest und sicher, klar und bestimmt in allem Denken, Empfinden, Wollen, Sprechen und Handeln, ohne falsche Scham oder Menschenfurcht, ohne Ziererei, Falsch und Schein. Und so brach es hervor, wie es in ihrem Herzen war, wie es garnicht anders sein konnte, offen, kindlich, frei und wahrhaft: Was haben Sie mich lange schmachten lassen! Ich war betroffen, ich leugne es nicht, von dieser Sprache; aber ich konnte sie doch nur achten, es war die Sprache der Wahrheit und eines gesunden, reinen, unverdorbenen Herzens. -

Am 11. Oktober kam Vater, der ja schon früher von dem Verhältnis unterrichtet war und den ich dann auch natürlich um die Hand seiner Tochter gebeten hatte, um uns persönlich sein freilich als selbstverständlich vorausgesetztes Jawort zu bringen. Wir waren nämlich schon spazierengegangen. Daß wir - Mittwoch meine ich - beide nicht im Piening'schen Konzert erschienen, erregte Verdacht, die bekannt werdende Tatsache selbst das größte Aufsehen; denn die meisten waren doch auf falscher Fährte gewesen, und Emilie Michaelsen selbst hatte Stine mit den Worten gratuliert: "Du kannst aber überraschen!" Die Frau Tante, Kirchspielvögtin Harders hatte gesagt, das glaube sie nicht eher, als bis sie es sähe. Am 14. Oktober sah sie es: wir fuhren ihr auf unserer Tour nach Albersdorf vorbei. Dennoch benahmen sich Michaelsen's ganz würdig. Henrici's dagegen, deren schon recht bejahrte Schwester und Schwägerin sich ja wohl, mit ihnen, aus dem einen Grunde Hoffnung gemacht haben mußte, weil bei unseren sehr häufigen Zusammenkünften im engeren Kreise, mit Delff's und Henrici's die persönlichen Verhältnisse mich regelmäßig zu ihrem Tischherrn machten, benahmen sich unglaublich dumm: obwohl ich in der Familie bis zuletzt mehr verkehrt hatte als bei irgendeinem andern, hat kein Mitglied derselben weder mir noch meiner Braut auch nur gelegentlich Glück gewünscht. Bezeichnend war Delff's Glückwunsch. Ich hatte mich schon seit lange häufig mit ihm entzweit, auch wohl längere Zeit von ihm zurückgezogen und auf seine erste Violine längst nicht mehr gehört. Unter seinen Fehlern war einer der ausgeprägtesten der Neid; nun hatte ich eine Braut, die nicht bloß auch ihm als äußerlich und innerlich liebenswert erscheinen mußte, sondern die auch ein für damalige und für Meldorfer Verhältnisse recht ansehnliches bares Vermögen und eine gute, vielleicht beinahe glänzende Aussteuer in die Ehe brachte. Und obendrein hatte ich ihn garnicht erst um Rat gefragt, während Vechtmann, mit dem sich schon lange ein wahres Freundschafts-Verhältnis ausgebildet hatte, mein stiller Vertrauter gewesen war. Was sagte er, um mir Glück zu wünschen?: "Na, ich will dir wünschen, daß es dich nicht gereuen möge!" Und das mit einer Miene, die ich nur zu gut an ihm kannte, als wenn er sagen wollte: Das ist eine unerhörte Dummheit und Respektwidrigkeit zugleich. Jetzt wurde mir erst klar, warum er mich von Müller's fern zu halten gesucht hatte. Auch der gute Kanzleirat Wagner schob unter nichtigen Ausreden seinen Besuch lange auf. Seine Nichte, Lise Bruhn, ein harmloses, etwas flatterhaftes und oberflächliches Mädchen, hatte ich auf der erwähnten Baumschule[191] in Albersdorf kennen gelernt. Da wir in Wilkerling's Saale Federball zu spielen pflegten, brachte er sie dahin mit, und eines Tages nahm er sie an seine Linke und mich an seine Rechte, ein Vater zwischen seinen Kindern. Ja, er ging so weit, was ich im Augenblick garnicht mal gleich verstand, zu sagen, freilich wohl nicht in dieser Sitzung, er habe zu Delff gesagt, wenn sie sich leiden mögen, so habe ich nichts dagegen. Sie hatte 40000 M bares Vermögen!

Das alles störte uns nicht in unserem Glück. Wir hörten ja auch von dem Gerede nichts. Ich hatte in der Sache ein völlig reines Gewissen: keiner hatte ich je etwas weisgemacht, gegen keine irgend ein Wort fallen lassen, woraufhin sie Hoffnung hätten bauen können, zu keiner hatte ich je einen Zug des Herzens verspürt oder sie als die meine denken mögen. Zwischen ihnen allen, obwohl ich oft in Gesellschaften mit ihnen gescherzt und gelacht, - und Stine war mir von Anfang ein Unterschied gewesen wie Nacht und Tag. Und dabei war ihr Vermögen, das darf ich Euch versichern, liebe Kinder, obwohl der liebe Gott auch darauf einen seltenen Segen gelegt hat, der auch Euch noch zu großem Dank verpflichtet, nicht mit einem Quentchen ins Gewicht gefallen. Ich kannte damals überhaupt den Wert und die Bedeutung des Geldes auf der Welt noch nicht; ich hatte überdies von meiner Einnahme schon einen stattlichen Überschuß, ich hatte von meinem Vater einen kleinen Teil geerbt, ich hatte noch einen größeren in Aussicht; ich war knapp gewöhnt, sodaß ich mich reich fühlte, ich konnte mir überall garkeine Möglichkeit denken - daß jemand nach Geld sollte freien können. Alles tat und entschied in meinem Falle die Erscheinung meiner Stine, deren Lieblichkeit und Anmut alle gefangen nahm als Form und Bürgschaft eines Inneren, einer Seele, die an Lauterkeit und Liebe weit, weit über alles Alltägliche hinausreichte. Und diese Bürgschaft hat nicht getrogen. Noch heute, bald 3 Jahre nach ihrem Scheiden, bezeuge ich ihr: daß ich sie voll bewährt erfunden habe. Wenn Ihr einmal ihre Brautbriefe lesen werdet, liebe Kinder, - meine hat sie in ihrer schweren Zeit verbrannt - so werdet Ihr sie vielleicht etwas überschwänglich finden. Und doch sind sie durch und durch wahr. Eure Mutter war eine starke, kräftige Natur, von starkem Willen und kräftiger Empfindung: Halbheit, Zweifel, Schwanken lag nicht in ihrem Wesen; was sie wollte, das wollte sie ganz; jetzt ging sie ganz auf in der Liebe zu mir, in dem sie damals ihrerseits den Gesuchten zu sehen glaubte, und nun strömte sie in ihren Briefen die Bewegungen ihres tiefsten Innern mit rückhaltloser Offenheit aus. Und wenn ihre Ausdrücke zu hoch gegriffen, wenn ihre Hoffnungen, Verheißungen, Wünsche und Erwartungen zu überschwänglich erscheinen sollten, das kann ich Euch sagen: sie hat nicht bloß alles wahr gemacht, was sie mir je durch ihre Erscheinung, ihr Wesen, ihre Person oder auch durch ihre Worte versprochen, verheißen oder hoffen lassen hat, sie hat alle meine Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche weit, weit noch überboten! -

Am Sonnabend und Sonntag, den 23. und 24. Oktober, besuchte ich sie zum ersten Mal. Welche Tage, die Sonnabende! wenn ich dann angestrebt kam, sie mich erwartete, aufsprang, nach der Hintertür mir entgegen eilte und mich umfing! Oder, wenn wir abends, wo Vater studierte und Mutter bei den Kindern saß, in der großen Wohnstube allein das einfache und herrlich mundende Abendbrot zusammen einnahmen. Wie oft habe ich sie, bei mir still, Göttermähler genannt! Aber wenn dann der Sonntag-Nachmittag kam, die Dämmerung nahte, sie mich noch eine Strecke hinaus begleitete, und wir dann Abschied nahmen - o, welche Zentnerlast lag dann auf unseren Seelen!

Der Mittwoch brachte dann die erste Tröstung wieder, Briefe auf beiden Seiten. Wie viele Male habe ich sie gelesen! Und dann war der Sonnabend auch nicht mehr so fern, wo ich einen Brief, sie mich selbst erhielt. Am 30. Oktober kam stattdessen sie zu mir, und am 8. November ging sie zu Tante Johanna, um mit der ihre Aussteuer möglichst preiswürdig und möglichst sparsam einzukaufen. Das dauerte bis zum 25. November, wo ich sie endlich in meine Arme schließen durfte und sie mich. Viel Sehnsucht und Herzbeklemmung hatte es mittlerweile gegeben. Nun kam ihr Geburtstag, der 23. November, zu dem mein Hauptgeschenk das Gedicht war, das ich in ihr Album geschrieben habe. Wie wenig hab' ich es wahr gemacht! - Sie blieb bis zum 4. Dezember Wie flogen die Tage! Spät in der Nacht erst pflegten wir uns zu trennen. Es war nicht vernünftig, weder von mir noch von ihr, aber ich trug die Verantwortung als der Mann und als der älteste, der obendrein am andern Morgen nicht bloß da sein, sondern auch frisch sein sollte. Am 11. Dezember, wo ich eigentlich nicht hatte kommen wollen, überraschte ich sie doch. Sie flog mir an der stets mir allein geöffneten Hintertür entgegen und lag - ich sehe sie noch so deutlich - in der ganzen Erregung der Freude in meinen Armen. (Vielleicht verwechsele ich das Bild mit dem vom 22. Januar. Es hat sich mir ganz besonders tief eingeprägt.) Der Höhepunkt aller Besuche war der zu Weihnacht. Als ich am 22. Dezember gleich nach dem Essen zu Thomas Schmidt hinüberging, um mit der Albersdorfer Wochenpost von Eggert Horn zu fahren, war ich so hochgestimmt wie wohl nur je: Heut' ist gute Zeit, sagte ich zu Hans Leicht, einem Primaner, der auch in die Ferien ging. 14 Tage, teils in Albersdorf, teils in Süderrade bei den lieben Ahrens durfte ich bei ihr sein. Unaussprechlich glückliche Zeit! Vom zweiten Weihnachtstage an waren wir in dem gemütlichen Süderrade.

Aber in demselben Maße schwer war dann nach so langer, schöner Zeit das Scheiden, am 5. Januar, dem ein Wiedersehen erst nach 1½ Wochen folgte. Namentlich ihre Briefe aus dieser Zeit sind schwer und bedrückt.

Auch am 22. und 23. Januar war ich wider Erwarten bei ihr und fast ganz mit ihr allein. Am folgenden Sonntag nicht, da sie erst den Freitag oder Sonnabend auf einige Stunden in Meldorf gewesen war, und wir zu Fastnacht in Süderrade 3 volle Tage in Aussicht hatten. Dahin kam ich dann am 5. Februar bei mildestem Winterwetter zu Pferde, und sie kam mir mit Vetter Altmann, der dann das Pferd nahm, mit entgegen. So herrlich diese Tage waren, so schwer war der Abschied, als ich am 8. Februar mit sinkendem Tage in das mittlerweile aufgekommene Schneegestöber hineinritt. Sehr lebhaft steht mir ein Augenblick besonders in Erinnerung, wo ich auf der einsamen Landstraße in lautes Weinen ausbrechen mußte. - Ihr nächster Brief, besonders lieb und zärtlich, unterzeichnet "Deine glückliche Stine" verscheuchte wieder auf Augenblicke allen Druck und alle Schwermut, und wenn wir zusammen waren, wie darauf vom 12.-16., die sie in Meldorf war, schwanden die Schwermutsgefühle wie Nebel vor der Sonne.

Es war dem Wetter nach ein wunderbarer Winter. Bis Weihnacht war es das mildeste Wetter gewesen; erst in den Weihnachtstagen selbst war Frost eingetreten, aber bald wieder gewichen. Am 8. Februar, grade Fastnacht, als ich von Süderrade fortritt, begann der Schnee zu fallen, und zwar von nun tagtäglich, erst nur spärlich und leise, aber ohne Unterbrechung und geradezu tagtäglich, dann auch einige Male - und zwar je weiter gegen den Frühling, desto mehr - reichlich und massenhaft. So schon am 19., wo ich jedoch zu Pferde glücklich hin und herkam. Am 27. aber ward es ein solches Schneetreiben, daß ich, da Gehen eine Unmöglichkeit oder gradezu ein Wagnis gewesen wäre und kein Wagen fahren wollte, in der Tat zu meinem größten Verdruß in Albersdorf einschneite und nicht einmal eine Nachricht an den Rektor gelangen lassen konnte. Erst Montag Abend kam ich wieder in Meldorf an. Das Ausbleiben auch der Post und die von überall her gemeldete, völlige Stockung alles Verkehrs rechtfertigte mich wohl vollständig. Die Schneemassen häuften sich bis gegen Ostern noch mehr, verhinderten jedoch meinen Besuch an dem nächstfolgenden Sonntag nicht, wo ich Marktferien hatte. Am 16. März kam Stine, um das Fest über in Meldorf zu bleiben; auch hatten wir, obwohl bei dem schwankenden Wetter nicht fest, eine Reise zu meiner Mutter und den Geschwistern in Aussicht genommen, die dann auch in der Tat trotz Wetter und Wege ausgeführt wurde.

Das hing zusammen mit den Gemütszuständen, die sich bei mir je länger, desto mehr entwickelt hatten.

Fast vom Tage der Entscheidung an hatte sich meiner, sobald ich allein war und namentlich die Abende, wenn ich zu Bett ging, eine wahre Verbrecher-Angst bemächtigt. Ich glaubte immer deutlicher zu empfinden, daß ich meiner Stine, dieses Bildes einer blühenden Jungfrau, nicht wert, daß sie zum Weibe zu begehren und zu nehmen ein Frevel sei. Vor ihrer Gegenwart wichen diese Gedanken wie weggeblasen. Je mehr aber allmählich die Zeit der Hochzeit herannahte, desto hartnäckiger kehrten sie wieder und wichen auch in ihrer Nähe nicht mehr ganz. Ich sprach endlich immer deutlicher und entschiedener die Überzeugung aus, mein Gewissen verlange, auf das Glück ihres Besitzes zu verzichten. Sie ward namenlos traurig. So stand es hin. Am 28. Februar habe ich ihr in Albersdorf einen Brief hinterlassen, dessen sie vom 1. März erwähnt, in dem eine weitere Beichte enthalten gewesen sein wird. Ihre Antwort vom 1. März zeigt die Liebe, deren sie fähig war. Es half aber nur für kurze Zeit. Ich kam immer wieder mit dem Satze, wir müßten uns trennen, ich dürfte sie nicht heiraten. Dieses immer erneute Drängen machte sie namenlos unglücklich. Sie kämpfte einen schweren Kampf, der ihrer Schwester und Dr. Müller nicht ganz verborgen bleiben konnte. Endlich kam sie so weit, mir zu sagen, wenn es denn nicht anders sein könnte, dann wollten wir uns trennen. Sowie die Trennung Wahrheit zu werden drohte, vermochte ich den Gedanken nicht zu ertragen und zog wieder zurück. So ging es namentlich noch in den ersten Tagen der Osterferien hin und her. O, wie hab' ich sie nutzlos, ergebnislos, wie ein Kind, nicht wie ein Mann, gequält, sie, die ich so liebte, die mir so über alles hoch und teuer war, sie, die sich mir in dem ganzen Vertrauen einer reinen und lauteren Seele völlig und für immer zu eigen gegeben hatte! Was hat sie als Braut mit mir getragen! Und wann hat sie jemals nicht vergeben und nicht vergessen?!

Dieser Qual machte Dr. Müller dadurch zunächst ein Ende, daß er uns trieb und bestimmte, die lange beabsichtigte, aber schon wieder aufgegebene Reise nach Lensahn dennoch anzutreten. In der Nacht des stillen Freitags setzten wir uns in die Post, am andern Tage kamen wir auf Lensahn an.

Hier war es nun am 2. Festtage und entschiedener noch am 31. März, wo ich mich noch einmal gegen meine Braut rückhaltlos aussprach und nur, wie immer, die süßeste Milde und Vergebung, die ungetrübteste, ja wahrhaft himmlische Liebe fand. Zum ersten Mal kam ein voller Friede und eine selige Ruhe über mich. Ich sah und erfuhr obendrein auf's neue mit der Tat, eine Frauenseele von ungewöhnlicher Hoheit und Größe der Gesinnung habe sich mir zu eigen gegeben. O, ich hätte immer vor ihr verehrend auf den Knieen liegen müssen! Wie eine Heilige hätte ich sie verehren, wie einen kostbaren, aber heilig zu haltenden Schatz hätte ich sie mein ganzes Leben lang auf Händen tragen müssen! O, sie war eine seltene Frau! Und ich war ihrer nicht wert und wurde ihrer nicht wert. Nur der Gedanke an ihr nie versagendes, himmlisches Vergeben vermag in etwas die Bitternis zu lindern, die nun dem Schmerze des Verlassenen für immer beigemischt bleibt. Auch nach ihrem Tode ist sie mir eine segnende Macht. Ihr sei ewig Dank!

Am 3. April kamen wir noch auf schneebedeckten Wegen unter hohen Schneemauern zurück.

Der Hochzeitstag nahte. Die Zurüstungen zur Eröffnung des Hausstandes nahmen vielfach die Aufmerksamkeit und Zeit in Anspruch. Am 15. April überbrachte sie mir noch einmal selbst einen Brief, der die ganze Fülle und Stärke ihrer Liebe offenbarte. Sie hat wahr gemacht, was sie darin versprochen hat. Zum Bußtag war ich noch einmal mit ihr drei Tage auf Süderrade. Die letzte Woche brachte sie zum Besuch der Einrichtung in Meldorf zu. Am 7. Mai fuhren wir dann zurück nach Albersdorf. Am 8. Mai - Exaudi-Sonntag![192] - war die Hochzeit.

Sie war richtig still. An Gästen waren nur Dr. Müller, Carsten und Braut und Christiane Thiessen erschienen. Vormittags waren wir nicht zur Kirche. Die Trauung sollte um 3 Uhr sein. Die Kirche war von Neugierigen und Teilnehmenden recht gefüllt. Vater hielt eine erbauliche Traurede, die er uns nachher auch aufgeschrieben hat. Mit tiefer Bewegung und gewiß auch ich mit ernsthaftestem Willen gelobten wir uns Treue und Liebe.

Als wir zurückkehrten und in ihrer nunmehr für immer zu verlassenden Stube allein waren, faßte sie mich um den Nacken und mit einem Ausdruck der Liebe, den ich nie vergessen werde, sagte sie zu mir wie triumphierend über alle Hindernisse und Hemmungen und Kämpfe: "So, nun bist du mein Mann!" In solcher Verklärung habe ich ihr schönes und seelenvolles Gesicht nur noch einmal wiedergesehen: am 11. Mai, als sie nach langem Kampfe unter furchtbaren Qualen unserer ersten Tochter das Leben gegeben hatte und nun nach beendetem Ringen ihren geliebten Mann, der vor Tränen nicht sprechen konnte, umarmen durfte. -

Nach dem einfachen Mittagessen rüsteten wir uns zur Abfahrt. Das Wetter war am Morgen sonnig und freundlich angefangen. Dann hatte es sich bezogen. Als wir über die gestreuten Blumen zur Kirche gingen, war es schon ganz trübe; beim Herausgehen regnete es. Als wir die Fahrt antraten, fielen schon große Schneeflocken, und als wir nach langer und erschwerter Fahrt in Meldorf gegen 10 Uhr eintrafen, lag die Erde unter einer Schneedecke von einem halben Fuß. Ich glaube recht zu erinnern, wenn ich schon damals gleich mich der Auffassung als eines Vorzeichens nicht ganz erwehren konnte.

Unsere Wohnung war von freundlichen Händen lieblich geschmückt. Sie war nur klein, 4 Zimmer und der sogenannte Glasschrank, ein Verschlag, - aber wie Stine sie in einem Briefe nennt, eine Paradieseswohnung. Sie war ganz neu zurecht gebaut und schön tapeziert, namentlich die mattblaue Wohnstube. Dazu die neue, blitzende Einrichtung, für Meldorfer Verhältnisse, vollends für meine Gewöhnung, fein, ja geradezu glänzend und alles, namentlich auch die Mobilien aufs erwünschteste und gediegenste gearbeitet und gelungen. Endlich die Blumen! Meine Stine selbst hatte damit ihr und unser Heim zu schmücken rechtzeitig Sorge getragen und mit dem ihr eigenen Geschmack und künstlerischem Sinn einen wundervollen Flor, geradezu einen Garten im Zimmer hergestellt, dem durch den rankenden Eisenbahn-Efeu an den Fenstergardinen die Laube nicht fehlte. Von dem Augenblick an, wo sie mir mit dem erhaltenen Zettel und Vers ihre Rose brachte, hat sie mir, der ich mich früher um Blumen nie gekümmert, die Liebe zu ihnen wahrhaft eingeimpft. Das Prachtstück nämlich des Ganzen war eine centifolia missima[193], dicht mit einer Fülle der lieblichsten Röslein bedeckt. Sie ging uns leider nachher aus, und wir haben nie vermocht, uns wieder eine zu verschaffen. Bei keinem Gärtner, in keiner Ausstellung habe ich je etwas Ähnliches gesehen.

So sah es äußerlich in unserem Daheim aus - ganz Meldorf war voll davon - und in unserem Innern sah es ähnlich aus. Wie überschwenglich reich hatte der gnädige Gott mich gemacht!

Kiel, 10. März 1894

 

Ein Bild Eurer Mutter,

 

wie es mir sich darstellt und im Laufe eines 38-jährigen, engsten Zusammenlebens eingeprägt hat, in Worten zu zeichnen, wird hier die geeignetste Stelle sein. Denn wenn auch ihr Charakter im Laufe eines langen und nicht leichten Ehestandes seine ganze Reife und Vollendung erhalten hat, so war er begreiflich doch in allen seinen Grundzügen beim Eintritt in die Ehe fest und fertig.

Stine hatte das Glück, das oft über die ganze Natur des Menschen eine entscheidende Bedeutung hat, gute und gesunde Eltern zu haben. Ihr Vater, Johann Paulsen, war der Sohn eines Lehrers in dem bei Welmbüttel unweit Albersdorf gelegenen, zum Kirchspiel Tellingstedt gehörigen Dorfe Gaushorn. Daß er zugleich auch Bauer und zwar in Welmbüttel war, ist sicher, wenn auch befremdlich; Lehrer für die Schule Gaushorn-Welmbüttel war er vielleicht aus Neigung; vielleicht ist es auch aus dem Wunsche, im Winter etwas hinzuzuerwerben - obwohl die Haupteinnahme in dem "Wandeltische"[194] bestanden haben wird - und aus den geringen Ansprüchen an Fähigkeiten und Zeit des Lehrers zu erklären. Seine Frau Gretje Peters gebar ihm zwei Söhne. Der ältere, Franz, starb, als er eben erwachsen war. Der andere, bedeutend später geboren, 1794 am 26. September, Johann Paulsen, erwies sich zur Freude der Eltern und namentlich des Vaters, der es schon bei dem ersten Sohn vergebens gewünscht hatte, zum Studium befähigt und geneigt. Den ersten Sprachunterricht erhielt er von dem damaligen Diakonus Petersen in Tellingstedt, nachherigen Pastor in Nordhastedt, besuchte dann die Meldorfer Schule und die Kieler Universität, wohl gerade in den ersten Jahren der so anregenden und aufregenden Wirksamkeit von Claus Harms, dessen erklärter Anhänger und Verehrer er wurde und auch Zeit seines Lebens geblieben ist.

Nach dem Tode seines Vaters verheiratete sich die Mutter wieder an Hans Thiessen in Welmbüttel, den die älteren Geschwister Stine's noch als liebevollen Großvater gekannt haben. Dann starb die Mutter, und Thiessen freite wieder, eine Groth, "Antje Meller". Als dann auch Thiessen starb, nahm auch Antje Meller einen andern Mann, Peter Thomsen, der immer noch als in einem Verwandschaftsverhältnis stehend von der Familie Paulsen angesehen wurde.

Seine erste Anstellung fand Vater in Nienstedten als Prädikant des alten Pastors Witt, eines geborenen Sylters und Freundes von dem gleich zu nennenden Carsten Peter Hayken. So wird es sich gemacht haben, daß er die Bekanntschaft der Tochter dieses Kapitän Hayken machte, damals Wittwe eines wohlhabenden, aber wohl sehr wunderlichen Engländers John Smith, von dem sie einen Sohn gleichen Namens hatte, dessen Erziehung ihr zu allen Zeiten schwer aufgelegen zu haben scheint. Als sie Vaters Bekanntschaft gemacht hatte, - er muß, wenn auch von recht kleinem Wuchse, in seiner blühenden Jugend ein sehr hübscher Mann gewesen sein, von blühendem Gesicht, schwarzen Haaren und blauen Augen, mit freundlichstem Ausdruck - soll sie geäußert haben, wenn sie einen solchen Vater für ihren Sohn (ein Bruder von John, der in einem Briefe Onkel Smith's erwähnt wird, muß damals schon gestorben sein) kriegen könnte, so würde sie das als ein Glück ansehen. Das mag ihm hinterbracht sein; sie selbst, des Vaters älteste und Lieblingstochter, dunkel wie alle Geschwister, eine stattliche Gestalt, von sanftem, gewinnendem Wesen, wird ihres Eindruckes nicht verfehlt haben: sie wurden ein Paar, nach einem Briefe Vaters, zu Anfang 1821 und bezogen demnächst das Diakonat in Heide. Nach einigen Jahren, 1825, wurde Vater in Albersdorf zum Diakonus, dann zum Hauptpastor gewählt und hat hier bis zu seinem Tode, am 21. Januar 1867, mit sichtbarstem Erfolge und großem Segen gewirkt und einer allgemeinen Hochschätzung, ja Verehrung genossen.

Vater war eine durchaus reine und lautere Natur, von vollendeter Schlichtheit und Selbstlosigkeit, demütig und bescheiden, bis in sein Alter in größerer und unbekannter Gesellschaft blöde und schweigsam, dabei aber, sobald höhere Interessen in Frage kamen, besonders, wenn sein Amt es forderte, also namentlich auch auf der Kanzel ohne alle Menschenfurcht und von rücksichtslosem Wahrheitsmute. Nur einer Leidenschaft ist er wohl nie ganz Herr geworden, des Jähzornes, der ihn dann für jede ruhige Erwägung und vernünftige Einrede völlig taub zu machen vermochte und ihn der Umgebung als gänzlich ungebärdig erscheinen ließ. Hatte er dann der Erregung in einem fast unverständlichen Worterguß Luft gemacht, so rannte er auf sein Zimmer, um hier dann aber bald genug seine Ruhe und Freundlichkeit wiederzugewinnen. Wie oft hat seine jüngste Tochter, die ihn wohl von allen Kindern am meisten verehrte, je älter sie wurde, desto mehr, mit dankbarem Herzen und kindlicher Verehrung von ihm gerühmt, daß sein über kindliche Vorstellungen einen Augenblick verdüstertes und zürnendes Gesicht, wenn sie ihn um Verzeihung baten und Reue bezeigten, im nächsten Augenblick wieder geglänzt und geleuchtet habe, wie die Sonne. Dennoch konnte es wohl nicht ausbleiben, daß Frau und Kinder vor seinen Ausbrüchen mit einer gewissen Angst erfüllt wurden und das um so mehr, als er nicht bloß überhaupt an die Gewissenhaftigkeit seiner Kinder die strengsten Forderungen stellen zu müssen glaubte, sondern auch von Anfang an ihr Hauslehrer sein wollte, obwohl ihm dazu nicht bloß sehr häufig die Zeit und Ruhe, sondern in der Tat auch die rechten Gaben, vor allem die gerechte und eingehende Beurteilung der Kindesnatur abging. Ganz besonders hohe und geradezu unvernünftige Forderungen stellte er an ihre Fassungskraft und an ihr Gedächtnis in der Religions-Lehre, worin er verlangte, daß sie allen Kindern der Gemeinde weit vorangehen sollten. Mit ihrem neunten Jahre hat meine Frau an den Konfirmationsstunden nicht bloß teilnehmen, sondern auch alle Aufgaben, die nicht ganz gering bemessen wurden, gleich den älteren, 14- und 15-jährigen Mädchen mitlösen müssen. Da nun der Vater gegen seine eigenen Kinder am wenigsten nachsichtig war und von der Fassungskraft des Kindesalters keine rechte Vorstellung hatte, so läßt es sich begreifen, daß sich sein Unterricht für seine Kinder geradezu zu einer Qual gestaltete. Oft pflegte meine Stine, die sich selbst eines ausgezeichneten Gedächtnisses und rascher, leichter Auffassung erfreute, zu erzählen, wie bei ihrer minderbegünstigten nächst älteren Schwester die Vor-Angst vor der nahenden Stunde stetig gewachsen und mit dem Schlage 12 und den Tönen der Betglocke, wo der Unterricht begann, sich in körperlichem Zittern kundgegeben habe. Nie hat der gute Vater von diesem Stande der Dinge eine Ahnung gekriegt: arglos und unbewußt, wie er war, hatte er auch eine merkwürdige Blindheit für die Personen und Vorgänge seiner Umgebung, auch seine eigenen Kinder. Wie sich das auch in ganz gleichgültigen und äußeren Dingen zeigte, beweist der Umstand, daß er auf Spaziergängen seinen eigenen Töchtern als ein Fremder ehrerbietig grüßend vorbeigehen konnte. Vater war, im allerbesten Wortverstande, und blieb bis in sein Alter wie ein Kind.

Etwas weiter hinauf als des Vaters kann ich den Stammbaum der Mutter meiner Stine verfolgen. Was ich auf Sylt teils aus den Kirchenbüchern, teils von den Verwandten erforscht habe, ist im Stammbaum zusammengefaßt.

Über Großvater hinaus reicht meine, auf Stine's Erzählungen aus ihrer Kindheit beruhende Kunde nicht.

Karsten Peter, wie er wohl nach niedersächsischer Sitte genannt wurde, ist noch im Knabenalter, wahrscheinlich gleich nach der Konfirmation, hinausgezogen in die Welt, zur See, wie es die meisten jungen Friesen damals taten, sein Glück oder doch sein Fortkommen zu suchen. 8 Schilling, so heißt es, hatte er in der Tasche. Als er nach längeren Jahren selbstständiger Schiffsführung als Kapitän in Altona sich zur Ruhe setzte, war er ein wohlhabender Mann. Von den Besuchen der Familie Paulsen in Altona bei den Großeltern, auch bei Tante Altmann, die ein Haus mit schönem Garten an der Palmaille bewohnten, pflegte meine Stine mit der ihr zu Gebote stehenden, dichterischen Anschaulichkeit, mit wahrer Begeisterung zu erzählen. Der Großvater führte bei aller Freundlichkeit gegen Kinder und Enkel ein patriarchalisches, strenges Hausregiment. Seine Stimme, in Sturm und Wogengebraus gestählt, vermochte wohl einmal das Haus erzittern lassen. Ein Brudersohn von ihm, Uwe Hayken, der noch lebte, als ich das erste Mal auf Sylt das Geschlecht der Hayken in Morsum aufsuchte, sagte von ihm in seiner Weise: es wäre ein "furchtbarer Kerl" gewesen; da er unter ihm gefahren hatte, wird das der Nachklang seiner schweren Jugenderinnerungen gewesen sein: große, vielleicht in jüngeren Jahren ungebändigte Kraft spricht in der Tat sowohl aus dem Abbilde von ihm, das unsre liebe Mutter aus der Albersdorfer Rumpelkammer gerettet hat, als auch aus der Photographie, die gleichfalls sie den Nachlebenden durch Vervielfältigung zweier Elfenbein-Medaillon-Bilder (im Besitze Tante Luises und der Familie Brunswig) erhalten hat. Seine Lebensführung blieb einfach, er für seine Person sehr haushälterisch, - jedoch, wenn Vater Paulsen oder seine Frau gelegentlich Sparsamkeitsrücksichten nehmen zu müssen glaubten, pflegte er wohl zu ermutigen: "krigst genog von't Schiet". Ging er aus dem Hause, so hieß es: "Attüs Lischen!", "Gah mit God, Karsten!" (sprich: Kassen!). Daß "das Leben hier im Hause nicht zur Aufheiterung" sei, daß man "so manches höre und sehe, was dem Herzen wehe tut", schreibt Gretchen von ihrem Bruder John. Während ihres zweijährigen Aufenthaltes bei dem Großvater waren ihr die Sonntagsbesuche bei Altmann's die erhellenden Lichtblicke. - Auf Großvaters Grabstein, der mit dem alten Altonaer Kirchhofe verschwunden ist, ließ er ein Schiff nachbilden und darunter den bezeichnenden Spruch setzen:

 

                  Auf diesem Schiffe fahr ich hin,

                  Wo ich noch nicht gewesen bin.

 

Weniger deutlich und ausgeprägt, obwohl sie länger lebte als ihr Mann, muß in der Vorstellung der Enkelinnen, besonders auch meiner Stine, das Bild der Großmutter Hayken gewesen sein. Von ihrer Herkunft hat sich garkeine Kunde erhalten; die Mutter hat, nach Tante Gretchen's Erinnerung, als Kuchenbäckerin die Märkte bezogen; eine Schwester von ihr, verheiratete Schröder, hat bei ihrem Sohn, einem Tischler, in ärmlichen Verhältnissen, zuletzt bei Großmutter Hayken im Hause gelebt. Ihr Bild zeigt ein hübsches Gesicht mit dunklem Haar; jüdisches Gepräge läßt sich zwar auf demselben nicht erkennen, und doch möchte ich glauben, daß es vorhanden gewesen ist. In der Überzeugung nämlich, daß keins von Euch, liebe Kinder, den geringsten Anstoß daran nehmen, keins von Euch das teure Bild unserer Heimgegangenen auch nur im allergeringsten sich trüben lassen wird, bringe ich hier Eurer Mutter und meine eigene Ansicht zur Erwähnung, daß in der Nachkommenschaft des Hayken'schen Paares ein kleiner Zusatz semitischen Blutes erkennbar wird, der auf Großmutters Vorfahren zurückzuführen scheint. Zum ersten Mal fiel mir dieser Anflug jüdischen Typus' auf in dem Daguerrotyp, das Mama als Braut in Hamburg, wo sie ihre Aussteuer einkaufte, hatte machen lassen. So brünett sie war, hatte ich in ihrem Gesichte nie etwas derartiges bemerkt, auch nicht bei irgend einem ihrer, bis auf Elisabeth, sämtlich brünetten Geschwister; mir ist es aber bekannt und namentlich durch die Abnahme der Himmelskörper festgestellt, daß die Lichtbild-Platte schärfer aufnimmt, sieht gleichsam und wiedergibt, als das menschliche Auge; und als ich später das Daguerrotyp von Hans und Carsten sah, traten mir in des letzteren Zügen wiederum ganz unverkennbare semitische Linien, ja in den Augen auch auf Stine's oben erwähntem Bilde, ich weiß nicht wie, ein Etwas hervor, das einen ganz besonderen Glanz und eine ganz besondere Kraft des Braunes der Augen widerstrahlte. Obwohl ich nicht leugnen kann, daß Stine's Bild mir nicht so ganz nach Wunsch war, so ähnlich ich es auch fand, weiß ich doch nicht, daß ich damals gegen sie oder andere irgendetwas darüber geäußert hätte. Erst in späteren Jahren, als Tante Altmann älter wurde, fing Stine von der Frage zunächst im Scherz, mehr und mehr im Ernst an zu sprechen, ob nicht Tante Altmann ganz die Mutter Lea sei; ihre Söhne, Karl und Eduard, hätten, selbst im Wesen, unzweifelhaft etwas jüdisches. Ich konnte dem nur beipflichten, namentlich auch in Bezug auf Tante Altmann; bei Tante Brunswig fanden wir nichts der Art, wohl aber Stine bei ihrem mir nicht bekannt gewordenen Vetter George, dem jüngsten Brunswik. Zum letzten Mal trat mir der semitische Zug mit unverkennbarster Deutlichkeit hervor, als ich Henriette Altmann, verwittwete Becker, bei Schwager Otto's Leichenfeier durch die Stube gehen und mir das Profil zuwenden sah: es war mir, als wenn ich altsemitische Umrisse auf ägyptischen Bildwerken vor mir erblickte. Selbstverständlich läßt sich so etwas nicht beweisen; man kann auch nicht angeben, wo das eigentümlich Semitische steckt. Es steckt nicht etwa bloß in der gebogenen Nase, nicht in den sonstigen Umrissen, es steckt auch in der besonderen Nüance der Farbe, des braunen Teints, der Röte der Wangen und der Lippen, die entschieden in das Violette spielte, dem bei Germanen nicht vorkommenden Glanz des braunen Auges, dem Schwarz und der Weichheit, der Fülle und Üppigkeit des Haarwuchses, kurz, in einer Vereinigung verschiedener Kennzeichen, die ein empfängliches und geschärftes Auge, in Völker-Psychologie geübtes Auge sofort erfaßt, die aber einem unempfänglichen Blick nicht mathematisch zu demonstrieren sind. Ein Beweis aber, daß unsere Meinung nicht aus der Luft gegriffen ist, ist der Umstand, daß meine Frau wiederholt auf Freunde den Eindruck gemacht hat, sie müßte eine Südländerin, z.B. eine Spanierin sein. So hat sich mir wie meiner Stine die Meinung zu einer ganz festen und ernsten Überzeugung gestaltet, daß ihrem und ihrer Geschwister und Verwandten germanischem Blute ein semitischer Tropfen beigemischt war. Ja, ich glaube, gewisse geistige und seelische Züge meiner geliebten Frau, z.B. allein schon die seltene Kraft ihres Wollens und Glaubens mögen auf die schönsten und tiefliegendsten Charaktereigenschaften des israelitischen Wesens zurückgehen. Wie fern aber lag ihrem Sinn der Gedanke, eine solche Stammesverwandschaft könne ihr zur Unehre gereichen, wie wenig hat sie mir je ihr liebes, hochverehrtes und heiliges Gesicht und Bild trüben oder entstellen können. Ob unsere Meinung Wahrheit hat oder nicht, ist ja schließlich von keinem Belang; aber ich kann nicht leugnen, daß die Frage doch deshalb ein Interesse für mich hat, weil sie die unverwüstliche Zähigkeit des jüdischen Wesens weiter in's Licht zu setzen geeignet ist. Bemerkenswert ist noch, daß die Augenschwäche, die bei Großmutter zuletzt zum richtigen Star führte, auch bei ihren Enkelinnen wieder hervorgetreten ist; zwei Brunswik, Elise und Jenny, haben sich gleichfalls am Star operieren lassen müssen, Elisabeth und Stine haben ungewöhnlich früh einer Brille bedurft; unsere Christine hat schon jetzt, eben in den dreißigern, eine nehmen müssen.

Das Hayken'sche Paar hatte vier Kinder. Der Sohn, 1832 mit seiner damaligen Braut, Luise von Döhren, Pate seiner jüngsten Nichte, ist nach kurzer Ehe mit Hinterlassung eines Sohnes Andreas, der in Laguaira den spanischen Kosenamen Andressito, Cito, sich geholt hat und jetzt auf Heuerstubben wohnt, gestorben. Tante Luise, reich und schön, lustig und witzig, kehrte aus Amerika mit ihrem Kleinen zurück, eine viel umworbene junge Wittwe; erst in reiferen Jahren gab sie einem Kaufmann Lunschen ihre Hand, mit dem sie auch nur eine kurze Ehe gehabt hat. Meine Stine, ihr Patenkind, hat immer viel Anhänglichkeit und Dankbarkeit für sie gehabt.

Die zweite Tochter von Großvater Hayken, Henriette, heiratete den Erwählten ihres Herzens, den Kaufmann Altmann in Altona, den sie aber früh verlor. Von den Kindern ist Karsten noch als junger Mensch an der Schwindsucht gestorben, Mathilde, verheiratete Eisenblatt, als junge Frau mit Hinterlassung eines Sohnes und einer Tochter, von denen der erste gleichfalls in jugendlichem Alter in Bangkok starb, die letztere als Gouvernante des Inspektors Koyen die Bekanntschaft des Prinzen von Schleswig-Holstein-Noer[195] machte, der sich zum Grafen von Noer herabsetzen ließ, um sie zu heiraten. Auch früh Wittwe geworden, lebt sie mit schon erwachsenen Töchtern auf Noer, das sie mit Grönwohld und Behrensbrook von ihrem Mann geerbt, aber erst gegen die Anfechtung des Prinzen Christian von Schleswig-Holstein-Augustenburg in einem langen Rechtsstreite zu verteidigen hatte. Karl Altmann wollte Landwirt werden, ging dann nach Amerika, wo er sich auch am Kriege beteiligt und später eine reiche Plantage im Süden verwaltet hat. Verheiratet mit einer Amerikanerin, ist auch er früh gestorben. Eduard Altmann, der jüngste, wurde Kaufmann, hatte aber im selbstständigen Geschäft kein Glück, und ist gleichfalls nicht alt geworden. Eine der Töchter heiratete den Bruder von Rike Brunswik's Mann, Kaufmann Behn in Lübeck; Henriette, die allein noch am Leben ist, hat von ihrem verstorbenen Manne, Daniel Becker, ein nach Millionen zählendes Vermögen überkommen, während die sämtlichen übrigen Altmann'schen Kinder trotz der nicht ganz kleinen elterlichen Erbschaft es zu keinem wirtschaftlichen Gedeihen zu bringen gewußt haben.

Die jüngste Hayken, Christine, tat, wie wenigstens erzählt wurde, eine sog. Vernunftheirat, scheint aber eine sehr glückliche Ehe mit ihrem Brunswig, Kaufmann in Lübeck, geführt zu haben. Erst nach der Feier seiner goldenen Hochzeit starb der Mann; Tante Stine überlebte ihn um mehrere Jahre und hatte selbst noch ihre Schwiegermutter, Urmutter genannt, im Hause. Das alte Brunswig-sche Haus in der Fischerstraße, ziemlich unten, ist noch heute (oder war bis vor kurzem) kenntlich an den buntglasierten Lacksteinen und der Inschrift: Mortalium negotia fortuna nexat.[196] Das Brunswig'sche Geschäft ging vorzugsweise nach Schweden und Finnland, scheint aber je länger, desto mehr zurückgekommen zu sein. Auch die Söhne, sämtlich Geschäftsleute, haben hier wie "drüben" - Fritz war längere Zeit in Lima - keine Seide gesponnen. Von den Töchtern wurde die älteste, Elise, früh verheiratet an einen Landmann Dühring, der das Gut Caden bei Ulzburg pachtete, einige Jahre scheinbar in großem Wohlstande lebte, dann aber die Pachtung aufgeben und ein Wirts- oder Gasthaus in Itzehoe übernehmen mußte. Da er sich dem Trunke ergab, ging auch das nicht, und die Frau mußte es wohl als eine Erlösung betrachten, als er starb. Allgemein geschätzt, hat sie dann das Hotel du Nord noch Jahre lang allein verwaltet und gehalten. Friederike heiratete den wohlhabenden Kaufmann Behn und lebt in glänzenden Umständen. In bescheidenen, aber glücklichen Verhältnissen lebt auch noch die in der Familie und namentlich von unserer lieben Mutter am meisten verehrte Jenny Soltau, Frau eines Kaufmannes, jetzt Buchhalters, jetzt dicht an 80, aber von großer körperlicher und geistiger Rüstigkeit. Emilie allein ist nicht verheiratet.

Nun komme ich zurück auf die Mutter meiner Stine, Johanna. Großvater Hayken, selbst in den ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen und mit den bescheidensten Kenntnissen ausgerüstet, auch, soweit ich sehe, ohne ein ausgesprochenes religiöses Interesse, ließ doch seine sämtlichen Töchter in Christiansfeld[197] in einer derzeit von weither aus Dänemark, Schleswig-Holstein, und Norwegen viel besuchten höheren Mädchenschule erziehen, aus welcher Mutter offenbar dauernde Eindrücke und die ganze fromme Richtung ihres Herzens ins Leben mitgenommen hat. In einem Briefe vom 20. Mai 1835, also etwa 4 Monate nach ihrem Tode, schreibt Vater an seinen Stiefsohn John: "Kein Tag vergeht noch, mein Sohn, an welchem ich nicht Deiner teuren, selig vollendeten, mir ewig unvergeßlichen Mutter, die mir 14 Jahre hindurch die köstlichste Herzensfreundin und treueste Lebensgefährtin war, heiße Tränen der innigsten Liebe nachweine." Ihre erhaltenen Briefe an den Sohn in der Fremde, John, eine offenbar etwas leicht angelegte Natur, bezeugen die zärtlichste Mutterliebe und Sorge sowohl um seinen Seelenzustand als um sein körperliches und äußeres Wohlbefinden, zugleich die sorgsame Wirtschafterin in Haus und Garten, selbst in Scheune und Stall, auch die oft glückliche Heilkünstlerin in den Häusern des Dorfes und der Gemeinde, als welche ich sie auch sonst in den gelegentlichen Erzählungen ihrer Kinder habe nennen hören. Ihre Briefe zeigen, daß sie, wo es angezeigt war, auch entschieden zur Annahme eines Arztes riet. Die Gemeinde verehrte sie auch sonst als Helferin und Trösterin in Not und Leid, die, wie später ihre Tochter, manche Träne getrocknet hat. Auffallend ist es, daß ihre Kinder sie vorwiegend als eine zum Schelten und Verweisen geneigte Richterin, weniger als die liebevolle Mutter in ihrer Erinnerung haben. Bei ihrer zweifellosen Zärtlichkeit läßt es sich wohl nur aus einer übergroßen Sorge um ihr Seelenheil und einer etwas zur Schwermut geneigten, vielleicht auch nervös angegriffenen Natur erklären; daß sie Zeiten wirklichen Trübsinns durchgemacht hat, wissen wir auch sonst. Wunderbar, wie verklärt ihr Bild in dem Herzen ihrer jüngsten Tochter stand, die gerade 2¼ Jahr alt war, als sie ihre Mutter verlor. Natürlich beruhte es vorzugsweise auf den Erzählungen der Geschwister und der näherstehenden Mitglieder der Gemeinde; aber daß sie Recht hatte, wenn sie immer mit vollster Sicherheit erzählte, sie erinnere, wie ihre Mutter vom Bett aus ihre Wiege gerührt und wie sie sie in einem gewissen, genau bezeichneten Kleide auf dem Arm gehabt habe, daran ist bei dem frühreifen Geistesleben meiner Stine nicht der mindeste Zweifel gestattet. Ein Bild von der Mutter ist nicht erhalten; ob es je eins gegeben hat, ist mir zweifelhaft; daß sie eine schöne, stattliche Erscheinung gewesen ist, darin stimmen alle Berichte und Erinnerungen überein. Wenn Gretchen in ihren Erinnerungsbildern sich keines Ausdrucks des Schmerzes bei ihrer kleinen, verwaisten Schwester erinnert, so ist das wohl begreiflich; wie sollte ein 2¼-jähriges Kind sagen können, was es empfinde; aber darum ist es nichtsdestoweniger gewiß genug, daß die Kleine die Mutterliebe auf das schwerste entbehrt hat. Noch als Frau in den schweren Stunden ihrer Wochenbette empfand sie die Sehnsucht nach der nie gekannten mit aller Stärke, und nichts trieb sie 1875 mehr nach Töstrup als der Wunsch, ihrer Tochter zu gewähren, was ihr selbst versagt gewesen war. So leben geliebte Menschen in den Herzen Willensregungen und -richtungen ihrer Lieben auf Erden fort.

In Heide waren meinen Schwiegereltern 2 Kinder geboren, Tante Gretchen und Hans; Elisabeth, meine ich, ist die erste in Albersdorf geborene. Hans und Elisabeth sind die beiden, die Ihr nicht kennen gelernt habt; der erste ging schon 1852, die andere mit ihrem Manne 1854 nach Amerika. Onkel Hans, das einzige der Paulsen'schen Kinder, das man nicht schön nennen konnte; er hatte in der Tat einen leisen Anflug mulattischer Gesichtsbildung, war immer nicht bloß ein äußerst liebevoller und, bei äußerer Keuschheit zärtlicher Bruder, sondern auch eine durch und durch brave, redliche, wahrhafte Natur, dessen briefliche Herzensergüsse an seinen Stiefbruder John Smith oft wahrhaft rührend sind zu lesen. Er sollte und wollte Pastor werden, war sehr fleißig schon bei seinem Vater und erhielt auch auf der Meldorfer Schule die besten Zeugnisse. Michaelis 1843 bezog er die Universität Kiel. In dem Kolleg des Prof. Mau über den Römerbrief fiel mir unter den Hörern einer auf durch sein fremdartiges Gesicht und durch seine gewählte und feine Kleidung. Es fiel mir nicht ein, mich nach ihm zu erkundigen oder seine Bekanntschaft zu suchen;  obwohl er dauernd meine Aufmerksamkeit fesselte, hatte ich doch keine Ahnung, daß ich noch mal die Hand seiner geliebten jüngsten Schwester davontragen sollte. Er ging dann bald nach Königsberg und kam von da als entschiedener Rationalist zurück. Bei seiner großen Offenheit und Wahrhaftigkeit konnte es nicht fehlen, daß das Verhältnis zu dem streng gläubigen Vater darunter litt. 1848 trat er sofort mit den übrigen in das Studentenkorps und wurde bei Bau gefangen. Nach seiner Befreiung verblieb er im Dienst und wurde Unteroffizier im Reserve-Jägerkorps, als welcher er auch im Frühling 1849 mit einexerziert hat. Nach dem Kriege, in dem er zuletzt zum Offizier ernannt war, konnte er sich, 3 Jahre aus dem Studium heraus und mit der Theologie wohl auch ziemlich zerfallen, nicht mehr zur Wiederaufnahme der Studien überhaupt entschließen. Er ging mit einem hübschen Vermögen nach Iowa, verheiratete sich dort mit einer auf der Überfahrt ihm bekannt gewordenen Probsteierin und wurde Farmer. Damals waren es in Amerika für Bemittelte gute Zeiten. So bewog er nicht bloß Ahrens und Elisabeth zu dem lange schwer gebüßten Entschlusse, auch mit ihren Kindern auszuwandern, sondern auch Dr. Müller und mich, ihm Geld hinüber zu schicken, um es dort zu einem Zinsfuß von 20% nutzbar zu machen. Ich wagte 500 * Courant[198], ungefähr mein väterliches Erbteil, daran, meine Mutter auf mein Zureden 2000 *[199]. Einige Jahre ging es gut; wir machten, wenn nicht 20%, doch 10%. Dann kam der Krieg und mit ihm schwere Zeiten für Hans wie für Ahrens. Das dauerte, wenn ich recht erinnere, wohl ungefähr ein Jahrzehnt. Bei der Teilung unseres mütterlichen Erbes 1867 war noch alles unsicher; ich übernahm daher den amerikanischen Posten mit einigen Abzügen für mich allein. Schon in den ersten 70-er Jahren, meine ich, fing Hans, der auch Ahrens' Schuldenteil als den seinigen übernahm, wieder an, Zinsen zu einem ermäßigten Fuß, dann auch Abträge zu zahlen. Eine genaue Berechnung der aufgelaufenen Summe war nicht möglich; Hans aber machte sie nun nach bester Schätzung und Berechnung mit einer Uneigennützigkeit, die weit über meine Ansprüche, vielleicht selbst über die buchstäblich geltend zu machende Berechtigung hinausging und mich mit größter Achtung vor seiner strengen Rechtlichkeit und Ehrenhaftigkeit erfüllte. Als ich gegen Ende des ganzen Geschäfts auf Stine's Drängen weitere Sendungen verbat und mich mit dem Zurückgezahlten für völlig befriedigt erklärte, was ich ja um so mehr sein konnte, als ich nichts mehr zu erhalten gefürchtet hatte, ward er gar aufgebracht und erklärte kurz und gut, er wolle von solchem Erlaß nichts mehr wissen. So hat er denn dies von ihm freilich sittlich zu verantwortende Geldgeschäft in einer Weise erledigt, welche die höchste Anerkennung verdient. Er hatte das ganze Paulsen'sche Feingefühl in Geldsachen in hohem Grade. Um so mehr hätte ich gewünscht, seinen stets festgehaltenen Gedanken der schließlichen Rückkehr nach Europa verwirklicht zu sehen. Er wartete auf einen günstigen Verkauf seiner Farm. Seine wankende Gesundheit, - er war in Amerika mehr und mehr periodischem Trinken verfallen - verschlechterte sich: es kam nicht mehr dazu. Juni 1890 nahm ihn nach längerer Schwäche der Tod dahin. Das war der erste von den Paulsen's, sagte damals meine Frau, wer wird der zweite sein? Ich irre wohl nicht, wenn ich glaube, sie dachte an sich.

Von Elisabeth kann ich kürzer sein. Sie war die Blonde unter den Dunklen, ein edles, dem väterlichen ähnliches Gesicht mit etwas hängendem, schmachtendem Blick. Auch ihre Natur hatte etwas Unbefriedigtes; sie lebte sehr in Idealen und erfuhr dann viele Täuschungen. Von allen Schwestern war ihr weitaus der schönste und stattlichste und zugleich der beste, freundlichste Mann beschieden; aber sie fand sein überaus gleichmäßig gemütliches, etwas zum Phlegma neigendes Temperament, noch mehr freilich die ihr so ganz ungewohnte Arbeit und Stellung einer Bauernfrau zu prosaisch, und diese ihre Unbefriedigtheit mit einem einfachen Lose und schlichtem häuslichen Glück, wie sie es schöner eigentlich nicht fordern durfte, ist es wohl hauptsächlich gewesen, was den romantischen Gedanken, in die Ferne zu wandern, zum Entschluß und zur Tat gereift hat. Sie sowohl wie ihr Mann waren Naturen, für Amerika so ungeeignet wie irgend denkbar. So haben sie Jahre lang mit Nahrungssorgen zu kämpfen gehabt, und Elisabeth hat unter dem harten und meist gottentfremdeten Volke von Anfang an bis zu Ende aus an namenlosem Heimweh gelitten. Erst in den letzten Jahren, nachdem sie mit Hans' Wittwe nach Iowanischem Gesetz den unbeweglichen Nachlaß des Bruders geerbt haben, nachdem auch die Kinder eine Lebensstellung und ihr Auskommen gefunden haben, scheint es, ist das Sehnen der Vereinsamten mehr zur Ruhe gekommen. Sie haben beide ein unschätzbares Gut: sie sind - er in den Achtzigern, sie bald siebzig - beide gesund und dürfen einem längeren Lebensabend mit Ruhe entgegensehen.

Noch muß ich im Sinne meiner Stine und der anderen Geschwister, die ihren Stiefbruder so liebhatten, ein Wort von John Smith hinzufügen. Er war - geboren nach einem Brief von ihm 1816 - eine äußerst gewandte, aber etwas leichtlebige Natur; ich denke mir immer, der Vater ist ein Ire gewesen. Schon in Albersdorf machte er Vater und Mutter manche Sorge und Kummer. Dann kam er von Hause in die Apotheker-Lehre, und die erhaltenen Briefe von Vater und Mutter zeigen, daß es auch hier an Verdruß und Kummer nicht fehlte. Später wurde er dann selbstständig und verheiratete sich mit einer Berlinerin, die aber bald, unbeerbt, gestorben sein muß. Mit seinem Geschäfte, zuerst, wie ich meine, einer Apotheke, dann einer Fabrik - Hasenhaarschneiderei[200] hieß es wohl mehr spottweise - wollte es nicht gehen, vielleicht hat auch der Kompagnon ihn betrogen. ( a) In einem Briefe an Stine, die damals bei Müllers war, vom 23. August 1848 aus Rostock, spricht er die Hoffnung aus, im Examen - er hatte 32 Jahre zurückgelegt - No. 1 zu bekommen, "der erste notwendige Schritt zur Wiedervereinigung mit meiner Mathilde, meiner treu ergebenen Leidensgefährtin." (Der Brief liegt in unserer Mutter Nürnberger Koffer.) b) In einem Briefe von "Onkel Schütt", Vaters liebem langjährigen Kollegen, später in Hemmingstedt, ist von einem Rechtsstreit die Rede, den John wegen Ausschließung von dem mütterlichen Erbe beabsichtigt haben muß. Schütt stellt ihm vor, daß er schon einmal nach dem Tode seines Bruders (?) und seines Vaters Vater und Mutter nach Hamburger Recht beerbt habe und nun nicht zum zweiten Mal Anspruch erheben könne. Von diesem Bruder habe ich nie sonst gehört, und über den Streitgegenstand kann man aus dem Briefe keine Vorstellung gewinnen. Wie es sich erklären läßt, daß er nicht wenigstens mit seinen Stiefgeschwistern gleichen Anteil gehabt hat, verstehe ich nicht.) Er hatte zum zweiten Mal geheiratet - 1841 war es schon - Mathilde Buring, gleichfalls eine Berlinerin. Nicht lange danach entschloß er sich, allein nach Amerika zu gehen, wo er als Apotheker eine Reihe von Jahren in Laguaira sein Auskommen gefunden hat. 1862 kam er nach Europa zurück und besuchte zunächst alle seine Verwandten, war auch bei uns in der Brunswik Wochen lang. Seine Frau war aus Berlin gleichfalls gekommen. Hier erst scheint er den Entschluß gefaßt zu haben, in Europa zu bleiben und das mit einem Kompagnon betriebene Geschäft von hier aus fortzuführen. Sie richteten sich in Hamburg neu ein, mieteten eine Wohnung. Am 15. - ich meine, - November wollte er sein Testament machen, es war der Tag, wo wir ihn auf dem alten Kirchhofe vor dem Dammtor, Matthaei meine ich, in dem Familienbegräbnis seines Onkels Waitz zur letzten Ruhe bestatteten. Die erneute Ehe hatte kurz gedauert; aber er hatte seine Heimat, seine Geschwister wiedergesehen, seine Frau nach langer Entfremdung wiedergefunden, - ein Wiederschein von Glück und Frieden hatte sich über sein plötzliches Ende gelagert. -

Und nun zu meiner Stine!

Aus der Zeit vor ihrem Erscheinen und auch aus der späteren ist Gretchen so freundlich gewesen, die angeschlossenen Erinnerungsbilder aufzuzeichnen. Aus den von John aufbewahrten und in unseren Besitz gelangten Briefen der dreißiger Jahre setze ich über ihre ersten Erdentage und Jahre Folgendes hinzu, was für mich vom höchsten Interesse gewesen ist.

Der 26. November 1832 war ein Sommertag. Die Mutter schrieb an ihren Sohn in der Fremde. Am 1. Dezember konnte sie ihm schon wieder schreiben mit dem Ausdruck der Dankbarkeit und der Freude über Gottes Durchhilfe und ihr Befinden: "Den 27-sten ½1 Uhr ist die Kleine geboren." Nach Gretchens schon erwähnten Aufzeichnungen muß es 1½ Uhr nachts gewesen sein. "Donnerstag, den 29. November", heißt es vorher, - es war der Mutter Geburtstag - "ist die Kleine getauft und genannt worden Christine Margarethe, die Gevattern: Onkel John, seine Braut und Tante Stine; Christine ist die Kleine genannt, weil Vaters Mutter auch so heißt." Nicht viel später kann der nicht genau datierte Brief von Bruder Hans geschrieben sein: Mutter sei schon wieder den ganzen Tag auf, sei aber erst einmal in der Kirche und einmal in "unsers geliebten Vaters Studierstube" gewesen, "und unsere kleine Schwester Christine hat ebenso dunkles Haar wie du und schickt Dir eine kleine Locke zu Weihnachten, welche mein Brief Dir überreicht". Sie ist von John aufbewahrt und uns, ich glaube, erst 1862 zurückgegeben; (Ein Irrtum: Schon 1850, den 8. November, ist der soeben erwähnte Brief von John geschrieben. Der Nürnberger Koffer, ein Geschenk von meiner Reise 1858, ist samt seinem Inhalt so von ihr hinterlassen, wie er noch jetzt ist.) sie liegt in einem Briefe von John im Nürnberger Koffer.

Am Weihnachtstage 1832 schreibt Elisabeth: "Unsere kleine Christine hat reine, blaue Augen." (Vgl. Rückert, dessen Frau ihm auch sagte, sie habe blaue Augen einst als Kind gehabt.) An demselben Tage "Gredel": "Die kleine Christine wird unserm guten Vater von allen seinen Kindern am ähnlichsten, und wir freuen uns schon auf die Zeit, da wir wieder nach Altona reisen werden, und Du sie sorgen wirst; sie ist ein kleines kräftiges, wohlgebildetes Mädchen!" (Dieser Brief ist gut und fast völlig richtig geschrieben. Dennoch hat es Vater für nötig gehalten, unten am Fuß desselben seine Unzufriedenheit damit auszusprechen.)

Am 18. März 1833 schreibt Gretchen dem lieben Bruder: "Unsere kleine Christine ist ein niedliches Mädchen, das uns sehr viel Freude macht. Wärest Du hier, Du würdest sie auch recht oft an Dein Herz drücken." Und dasselbe Gedeihen des lieben Kindes bezeugt der Auftrag der Mutter an John vom 23. März: "Sage ihr (Großmutter Hayken) daß die kleine Christine, wenn der liebe Gott sie gesund erhält, mit 3/4 Jahren gehen wird; sie setzt ihre kleinen Beine so fest an, welches sie schon immer von Anfang an getan, daß ich sie ungern aus der Hand gebe. Dabei ist sie kugelrund und ganz lieblich, John, Du würdest sie oft an Dein Herz gedrückt haben.... Vater freut sich auch recht sehr zu der Kleinen." Am 26. März kam sie zum ersten Mal in den Garten. Den 11. Dezember 1834 schreibt Hans: "... Christine ist ein kluges Mädchen. Sie ist am 27. November 2 Jahre gewesen und kann alles sprechen. Mutter sagt: sie ist die klügste von uns allen gewesen." Die Mutter beurteilte ihre Kinder richtig: vergl. den von Gretchen berichteten, so überaus bezeichnenden Zug von ihr.

Am 21. Februar 1837 schloß Vater seine zweite Ehe mit seiner bisherigen Mamsell, Ida Engeholm aus Preetz, den älteren Kindern, namentlich Gretchen und Hans ein "unfaßbares" Ereignis, ein schweres Ereignis! Stine war 4¼ Jahre alt; daß sie dennoch von den Geschwistern, die ihre übervollen Herzen oft genug gegeneinander ausgeschüttet haben werden, das Wesentliche aufgefangen und verstanden hat, ist mir nicht zweifelhaft. Ebenso begreiflich ist es auf der andern Seite, daß sie sich von der neuen Mutter leichter als die andern bis zu einem gewissen Grade hat gewinnen lassen. Je länger, je mehr stand sie mit ihren Empfindungen auf der Seite ihrer Geschwister und trug mit großer, kindlicher Treue das Bild ihrer leiblichen Mutter im Herzen.

Schon im fünften Lebensjahr konnte sie, wie ich von ihr weiß, lesen und schreiben; zu diesem Unterricht muß die Stiefmutter eine gewisse Begabung gehabt haben. Sehr früh nahm sie dann an den Stunden der älteren teil, von denen Gretchen 1837 in das Haus der Großeltern gekommen war, um einige Sprach- und Musikstunden zu nehmen. Die übrigen wurden nicht in die Dorfschule geschickt, erhielten auch keinen Hauslehrer, von dem die Mutter nichts wissen wollte, sondern wurden, außer in einzelnen Stunden von einem Seminaristen, nur von Vater unterrichtet. An Regelmäßigkeit des Unterrichts war bei der wenig strengen Hausordnung und bei den vielen Störungen, die dem Prediger und Seelsorger nicht erspart werden können, garnicht zu denken; auch nicht an Musik, Zeichnen, Singen, fremde Sprachen, in denen sonst doch Töchter von Pastoren wenigstens nicht ganz fremd zu bleiben pflegen. Teils legte wohl Vater auf diesen Schmuck weiblicher Bildung neben dem einen Hauptgegenstand all seines Lehrens, der Religion, zu wenig Wert, andrerseits wird die Mutter die Kosten eines Aufenthaltes in einer städtischen Mädchenschule oder Erziehungsanstalt für viel zu groß angesehen haben. Es kam hinzu, daß die Seminaristen meist der nötigen Autorität entbehrten, daß Vater selbst für Geschichte, Geographie, deutsche Literatur und Dichtung wenig Verständnis und Empfänglichkeit besaß, daß er auch durch seine Heftigkeit und mangelndes Verständnis der kindlichen Natur und Fassungskraft die Wirkung seiner Lehrstunden beeinträchtigte, daß er Zeit und Kraft unter den Knaben und Mädchen, zumal, als Hans Griechisch und Lateinisch lernen sollte, unter Größeren und Kleineren teilen mußte. Wenn man bedenkt, daß Vater selbst Schulinspektor war, so begreift man es kaum, daß er sich selbst einen so ungenügenden, gänzlich zerstückten Unterricht für seine Kinder gestaltet hat. Seine Tochter Stine hatte nun zum Glück ein seltenes Gedächtnis und eine überaus rasche und glückliche Auffassung. Dieser hervorragenden Begabung dankt sie, daß sie einmal aus dem häuslichen Unterricht eine sichere Herrschaft über die deutsche Grammatik und ein wahrhaft eindringendes Verständnis der evangelisch-lutherischen Glaubenslehre samt einem sicheren und unerschöpflichen Schatz an Bibelsprüchen und Gesängen mitgenommen hat und imstande gewesen ist, einen Teil der Lücken ihrer Schulbildung durch Lesen und im Wege der Unterhaltung und des mündlichen Verkehrs mehr und mehr auszufüllen. Nach ihrer Konfirmation, Gründonnerstag 1848, kam sie auf ein Jahr nach Meldorf, um hier Sprachen und Musik zu treiben. Da die Kosten dafür in den 300 M Kostgeld, die ihr Schwager Müller erhielt, eingeschlossen sein sollten, da die Lehrerin des Französischen eine zimperliche Dame war, da der Musikunterricht dem Bruder des Schwagers, Advokat Müller, einem alten Hagestolzen, anvertraut war, so läßt sich denken, was in dem Alter noch aus Musik- und Sprachunterricht herauskommen konnte. Und doch hatte sie gerade auch für Musik soviel Sinn und Begabung, Gehör und Stimme! Es ist kein Zweifel, daß sie später, als sie die Frau eines Gelehrten wurde, als sie in Kiel hin und wieder auch mit hochgebildeten Frauen zusammenkam, als ihre heranwachsenden Töchter z.T. recht bedeutende Fertigkeiten im Englischen und Französischen erwarben, öfter unter dem Gefühl des ihr Abgehenden und einmal Versäumten gelitten hat. Zwar hat sie versucht, es nachzuholen noch als Frau, noch zu der Zeit, wo ihre Kinder schon nicht mehr soviel persönliche Aufmerksamkeit und Dienste bedurften; es konnte aber nicht anders sein: es blieb Stückwerk. Und dennoch - süßer ist mir keine Musik gewesen, als wenn sie die beiden Lieder sang und begleitete: "Heil'ge Liebe"[201] und "Laßt mich gehen"[202]. Es hatte für mich etwas von himmlischem Klang.

Je weniger die Kinder durch den Schulzwang an das Zimmer gebannt waren, desto freier konnten sie sich in Garten und Feld, in Wald und Wiese ergehen und tummeln. Und obwohl sich zwischen der Stiefmutter und den Kindern, namentlich auch den Mädchen, je mehr sie heranwuchsen und aufblühten, kein gedeihliches Verhältnis gestalten wollte, obwohl ihnen durch die "Fremde" selbst die väterliche Liebe abgewendet zu werden drohte, war dennoch ihre Kindheit und Jugend freudlos mitnichten; dazu waren sie zu gesund und kräftig und bot auch die freie Natur und das wechselnde Leben des Jahres zu viele köstliche Freuden, Genüsse und Abwechselungen dar. Dazu kam, daß sie, von den Dorfkindern zu ihrem Schmerze geflissentlich ferngehalten, in zwei Familien einen reichen Ersatz fanden. Die eine war die Familie des Kirchspielvogtes Thiessen, wo drei Söhne und zwei Töchter von passendem Alter waren. Sie bewohnte ein großes, unweit vom Pfarrhaus gelegenes Haus mit großem, schönen Obstgarten. Der Kirchspielvogt starb früh; die Mutter, eine einfache Frau, ließ die Kinder völlig gewähren; mehrere derselben zeichneten sich durch Mutterwitz und Laune aus. Die Familie zählte, obwohl der Vater kein Studierter war, doch im Dorfe zu den Honoratioren; die Kinder des Pastors durften nicht bloß hier verkehren, sondern sie waren gesuchte, geehrte und fast verzogene Gäste;  was Keller und Speisekammer, was namentlich der Garten zu seiner Zeit an Köstlichkeiten lieferte, stand alles zu ihrer freien Verfügung. Wurde nach Meldorf zu bloßem Besuch oder zu Markte gefahren, so mußten die Paulsen's mit, soviel der Wagen faßte. Wie wußte meine Stine die Besuche bei "Großmutter Thiessen" in der Süderstraße zu beschreiben! Es war eine Lust, es zu hören. Dies schöne Verhältnis dauerte ungestört fort, und der verschwiegenen Liebe zu mir war von Anfang an Christiane Thiessen die einzige treue Vertraute. Keine aber auch von allen Geschwistern hat die Freudenquelle, die ihrer Kindheit in dem Thiessen'schen Hause strömte, mit so lebhafter und tatbewährter Dankbarkeit Zeit ihres Lebens anerkannt als meine Frau. (Elisabeth in einem Briefe aus Amerika meint, was sie (die Kinder) in Albersdorf an Freude genossen, verdankten sie dem Thiessenschen Haus.)

Das andere liebe Haus war das Diakonat, das 1837 ein Sohn von dem berühmten Claus Harms bezog, zu großer Freude des ganzen Pastorates, 1837 als Nachfolger von dem allerseits schmerzlich vermißten "Onkel Schütt" gewählt. Kinder waren hier damals noch nicht; aber der Pastor Harms und seine Frau waren beide außerordentlich kinderlieb. Er, mit Vater in vielen Dingen in bestem Einvernehmen, bewies den Kindern des Amtsbruders unendlich viel Freundlichkeit, auch unter anderm dadurch nicht selten, daß er seine Besuche bei Vater in die Schulzeit legte, um ihnen einen freien Tag zu machen. Seine Liebkosungen wurden der kleinen Stine, obwohl sie erst 5 Jahre alt war, doch oft zu viel oder wurden von der früh Feinfühligen als unzart empfunden. Mit innigster, wenngleich verschwiegener Verehrung und Liebe sah sie dagegen in der Pastorin, geborene Tiedemann aus Glückstadt, ihr ganzes Ideal der Schönheit, der Herzensgüte und Liebenswürdigkeit. In ihrem ganzen Leben ist das Gefühl der Dankbarkeit und kindlichen Verehrung gegen diese früh abgerufene Frau und alles, was irgend mit ihr zusammenhing, nicht erloschen. Und es ist eigen, daß dies Verhältnis bewundernder Liebe sich später, als die mutterlosen Töchter der Pastorin Harms mit der verschwägerten Familie Lucht nach Kiel kamen, zwischen einer derselben und meiner Frau wiederholt hat.

Gar schön waren die Zeiten, wo aus dem weiten Verwandtenkreise der Familie Harms Kinder gleichen Alters zum Besuche kamen.

Dieser fröhliche und unschuldige Verkehr der Paulsen'schen Kinder mit ihren Vettern und Cousinen in Altona und Hamburg, mit deren Bekannten und Verwandten, mit dem Besitzer des Hofes Riese, Dr. Berkhahn und dessen Kindern, mit den Petersen's aus Nordhastedt, dessen Sohn Adolf - jetzt Urvater einer großen Familie im fernen Westen - die zweite Hausdame Vaters, Auguste Stockfleth, geheiratet hatte, mit den lieben Gerlings in Süderrade u.a.m. erfuhr desto mehr allmählig eine Ausdehnung, als Hans auf die Meldorfer Gelehrtenschule kam, und nun seine Kommilitonen sich nur gar zu gern in das zwar nicht eben gastliche, aber vier heranwachsende, blühende, durch Liebreiz und Anmut, die meisten auch durch Schönheit ausgezeichnete Töchter bergende Pfarrhaus mitbringen ließen. Mit jugendlicher und ländlicher Unbefangenheit wurden dann in Haus, Feld und Garten allerlei Spiele, auch lebende Bilder, Rätsel, kleine Lustspiele aufgeführt, in denen meine Stine durch ein ganz ungewöhnliches Talent der Nachahmung, der Deklamation und des Vortrags hervorgeragt haben muß. Wie fesselnd wußte sie von diesen Spielen zu erzählen! Das soll niemand sagen, pflegte sie dann wohl zu schließen, daß im Albersdorfer Pastorat keine Poesie geherrscht habe.

1847 wurden erst Elisabeth, dann Gretchen Braut und am 15. (?), bezüglich am 1. September verheiratet. Johanna kam auf ein Jahr nach Sarau zu Pastor Steffensen - Sarau, wo sie bei dem Pächter Classen und seinen Töchtern, namentlich der späteren Pastorin Axt, ein zweites Thiessen'sches Haus fand. Auch dieser Familie hat meine Stine allezeit ein warmes Dankgefühl im Namen ihrer Schwester bewahrt. Den Winter 1847/48 fühlte sie sich, da auch Karsten und Hans schon länger das Vaterhaus verlassen hatten und ohne der Mutter Verdruß zu bereiten, auch nicht besuchsweise betreten konnten, unendlich vereinsamt. Ostern 1848 kam sie dann ja auf ein Jahr nach Müllers in Meldorf. Noch heute ist es mir unerklärlich, daß ich sie von Ende Oktober bis Anfang März, wo ich doch da war, nie zu sehen Gelegenheit gefunden habe. Freilich war ich damals noch zu sehr mit mir selbst beschäftigt und lebte zu sehr in meiner Klause und meinem Schwersinn dahin. Wie ich dann sie zum ersten Male sah und sehr allmählig ihr näher trat, ist oben erzählt. Jetzt will ich versuchen, ihre äußere Erscheinung und besonders ihr inneres Wesen zu zeichnen, soweit es in Worten möglich ist und so, wie es mir lebendig und leuchtend vor der Seele steht.

Stine war klein -, und Unrecht will ich dem Kanzleirat Wagner nicht geben, der ausgesprochen haben soll, wenn sie größer wäre, so wäre sie eine vollendete Schönheit gewesen. Der Eindruck dieser Kleinheit wich aber völlig vor dem ihrer ganzen Erscheinung. Denn, obwohl auch etwas gedrungen von Wuchs, war sie doch zugleich von großem Ebenmaß und selbst in der Zeit ihrer ganzen jugendlichen Blüte und Fülle von den anmutigsten Formen, die zumal in der Bewegung, im Gange, im Tanze aufs lieblichste hervortraten. Die Rundung und Elastizität ihrer Glieder, das kompakte Gewebe der Muskeln und Fleischteile, ganz wie bei dem Vater, hat sie bis an ihr Lebensende behalten; nur ein einziges Mal, in ihrer langen Krankheit von ihrem Geburtstag 1876 an bis zu ihrer allmählichen Genesung im Frühjahr 1877, war sie mager geworden, sodaß die Knöchel ihrer Hände hervorragten, die sonst kaum zu fühlen waren. Das Gesicht zeigt im Ganzen wie in seinen Teilen die edelsten Linien: das volle Haar, von großer Fülle - als jungem Mädchen reichten ihr die Zöpfe bis gegen den Saum ihres Kleides - und von dem angenehmsten Schwarz, in den Schläfen mit einem Stich ins Kastanienbraun, von seidenartiger Weichheit, die dunklen, glänzenden Augen vom kräftigsten und wohltuendsten Braun, der liebliche Spiegel ihres liebevollen Inneren, darüber die scharf und fein gezeichneten schwarzen Brauen, die roten Wangen oft mit einer Schattierung ins Violette, das auch an den Lippen sichtbar werden konnte, die mit Stirn und Untergesicht harmonisch in Einklang stehende Nase, das alles bildete ein Ganzes, das an Schönheit der Formen, wie an Lieblichkeit des seelischen Ausdrucks nicht leicht überboten werden konnte. Mit Recht sagt man, ein richtiges, gesundes Kindergesicht zeige noch etwas von der Lieblichkeit und dem Glanze des Ewigen, aus dem es hervorgegangen: diesen Hauch und Duft der Unschuld, diesen Abglanz des Göttlichen, wie ihn nur die unberührte Frucht des Pfirsich versinnbildlicht, - Stine hatte ihn sich zu bewahren gewußt. In Augenblicken freudiger Bewegung und gehobener Stimmung, verklärt von der inneren Seligkeit und Wonne, bot dies Antlitz, zumal seitdem es als junge Frau eine Milderung der Farben und eine leise Ermäßigung der Fülle erfahren hatte, ein wahrhaft ideales Bild. Ein schöneres und zugleich lieblicheres, von dem inneren Wesen durchgeistigtes habe ich in meinem Leben nicht gesehen. Die schönen Zöpfe, um die Stirn geschlungen, wie sie sie hin und wieder noch als Braut trug, hoben durch eine kleine Erhöhung der ganzen Gestalt den Eindruck ihres Bildes nach Form und Farbe zu wahrhaft königlicher Wirkung, und ich müßte mich sehr irren, wenn es nicht gerade diese auch von ihr selbst gemachte Wahrnehmung gewesen sein sollte, die sie zur Gegnerin dieser Haartracht gemacht hat: sie fürchtete, für eitel angesehen werden zu können. Das Abbild von 1868 gibt ihr Obergesicht völlig, ihren Mund mit Umgebung nur mangelhaft wieder. Das schönste und verklärteste Bild von ihr ist das mit dem bebänderten Haarputz, obwohl der Ausdruck etwas schwermütig ist - es stammt aus der Zeit von 1860 bis 1861, wo sie am 22. Mai 1860 Christine geboren, im Sommer das Nervenfieber durchgemacht und am 19. Juli 1861 Martin unter furchtbaren Kämpfen zur Welt gebracht hatte und sich recht angegriffen fühlte. Dennoch ist es mir ein wahres Madonnengesicht, vor dem ich in meinem Schmerze oft mit gefalteten Händen gestanden habe.

Denn was der körperlichen Schönheit erst den Zauber verlieh, der über ihrem Wesen lag, das war ihr geistiges und seelisches Innere, ein Ganzes, das sich aus einer seltenen Fülle von Gaben zur harmonischen Einheit zusammenfügte.

Ihr Temperament müßte man als sanguinisch bezeichnen. Zum Frohsinn und zur Freude angelegt, wie konnte sie sich entzücken über alles, was der liebe Gott den Erdenkindern Liebliches hienieden bietet! Vor allen Dingen an der freien Natur, am Garten, an Wald und Feld, an dem Gesange der Vögel, an dem Duft und der Form der Blumen, ihrer ganz besonderen Lieblinge, die unter ihren für alles geschickten und sorgenden Händen ein unvergleichliches Gedeihen zu haben pflegten. Sie erschienen ihrer kindlichen Einbildungskraft als belebte Wesen, und namentlich aus dem Kelche der Narzisse, hat sie mir oft erzählt, habe das Bild ihrer verewigten Mutter ihr zugelächelt.

Von den Künsten waren es vorzugsweise Musik und Gesang, die ihr Herz erfreuten, und wenn sie durch Gehör und Stimme völlig imstande war, sich selbst und den Hörer zu befriedigen nicht bloß, sondern zu erfreuen, so hatte sie ja leider ein Instrument dazu zu spielen nicht gelernt.

Auch die Freuden an der Geselligkeit genoß sie so gern, am liebsten mit Verwandten und näheren Bekannten, für die sie eine ungemein starke und treue Anhänglichkeit bewies. In solchem vertrauten und lieben Kreise traten alle ihre reichen Gaben in die lebhafteste Tätigkeit, und ihre seltene Unterhaltungsgabe kam zur wirksamsten Geltung. Was immer auch im Leben ihr geboten wurde, selbst die kleinste Freundlichkeit der Menschen oder ihres Gottes, sie hatte für alles die höchste Empfänglichkeit, die dankbarste Anerkennung, und wenn sie in ihrem täglichen Manna[203] den Spruch ihres Todestages, des 21. Februars,:

 

                  "Ich hab' ein töricht Herze,

                  Geneigt so oft zum Schmerze,

                  Ich bin so undankbar.

                  Ach, laß mich Dank Dir bringen,

                  Von Deiner Güte singen

                  In meinem Herzen immerdar!"

 

mit einem dicken Strich eingefaßt hat, so ist das ein Beweis nicht gegen, sondern für ihre kindliche Empfänglichkeit und Dankbarkeit für alle Lebensfreuden, die irgend an ihrem Wege sich boten. Zugleich ein Beweis, wie strenge sie sich selbst beurteilte und richtete.

Denn das ist richtig: so empfänglich sie war für alle Freude, so leicht erregbar waren auch die zarten Saiten ihrer Seele von jedem Schmerze und besonders von dem Schmerze über ihre Sünden, für welche von Kindheit an ihr Sinn durch eine strenge Erziehung geschärft worden war. Daher denn der wohl schon im mütterlichen Blute liegende Hang zur Schwermut, der neben dem natürlichen Frohsinn herging, wohl auch länger oder kürzer, aber immer auch wieder bereit war, hervorzutreten und die sonst hellen Tage zu überschatten. Nur was man Verstimmung und üble Laune nennt, hat sie nie gekannt; die kleinen Widerwärtigkeiten des täglichen Lebens hatten keine Macht über sie. Aber freilich, so gesund sie war, ihre Nerven waren zart: ein Mangel, der mit ihren Vorzügen und Gaben in tiefem und notwendigem Zusammenhange stand.

Diese aber, und zunächst die künstlerischen, waren mit freigiebiger Hand über sie ausgeschüttet: was eine Tochter, eine Freundin, eine Lebensgefährtin, eine Mutter den Eltern, der Freundin, dem Manne, den Kindern und Kindeskindern wert, lieb, tröstend, erquickend, fesselnd, beglückend machen kann, sie hatte es in wahrhaft seltener Fülle von ihrem himmlischen Vater zum freundlichen Geschenk erhalten:

Zunächst erfreute sie sich eines Gedächtnisses, das durch seine Treue wie durch seinen Umfang oft mein wahres Staunen erregt hat. Der reiche Schatz an Bibelsprüchen und Gesängen, den sie dem väterlichen Unterricht verdankte, ist ihr Zeit ihres Lebens unverloren geblieben. Dazu kam aber - und das ist um so wunderbarer, weil kein Zwang sie dazu getrieben hatte - ein noch größerer Schatz an Gedichten und Sprüchen unsrer besten Lieder-Dichter und zu diesem wiederum noch eine endlose, schier unerschöpfliche Zahl von Gelegenheits-Poesien, wie ich sie nennen möchte, und Haussprüchen, wie man sie bei den mannigfaltigsten Vorkommnissen, Erfahrungen, Widerwärtigkeiten des täglichen Lebens zu Trost, Lehre, Warnung und Mahnung brauchen kann. Nicht etwa bloß, wenn durch eigene Schuld oder wenigstens Sorglosigkeit ein Unfall geschehen war, sondern auch irgendeiner der vielen Zufälle des gewöhnlichen Lebens sich wiederholte, wenn du dein Messer verloren, deinen Schirm vergessen, deinen Schlüssel stecken lassen solltest, wenn Besuch kam, wo wir ausgehen wollten, wenn der Apfelbaum leer war, den wir pflücken wollten, wenn die Suppe uns brannte, die wir essen wollten, kurzum bei jedem noch so kleinen und unbedeutenden Vorkommniß wußte sie irgend einen einschlagenden Spruch oder Vers aus dem Gedächtnis herzusagen und beizubringen, der irgend für diese Gelegenheit gedichtet zu sein schien. Und wenn ich sie fragte, wo sie das her hätte, wußte sie es meist selbst nicht zu sagen: es war ihr sozusagen im Vorbeigehen angeflogen und haften geblieben. Wie oft habe ich Anlaß gehabt, über diesen unerschöpflichen Vorrat an Haus-Poesie meine lebhafteste Bewunderung auszusprechen, um so mehr, als die Quellen sich meiner Kunde, ja auch meiner Vermutung völlig entzogen. Oft genug habe ich nachher bedauert, daß ich mir nicht eine Sammlung dieser Spruchweisheit angelegt hatte; jetzt weiß ich auch garnichts mehr davon; denn sie wiederholten sich nicht, es kamen immer neue, sie hätten eine stattliche und interessante Sammlung gebildet.

Mit solchem Gedächtnis stand eine ungemein lebhafte und geschäftige Phantasie im engsten Zusammenhang. Die Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend, die mancherlei Vorgänge des Hauses, die bunten Geschichten des Dorfes, die in ihnen handelnden Personen, alles stand vor ihrem inneren Auge wie ein eben sich vollziehendes und gegenwärtiges Bild. Aber auch aus der bloßen Vorstellung heraus konnte sie Bilder der Zukunft, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, gehoffte und erwartete Ereignisse in Worten vor den Augen der Hörer entrollen, die dem größten Dichter nicht zur Unehre gereicht hätten. Mir ist namentlich ein Fall in Erinnerung, wo sie zwei Schwestern unter der Form des Kartenlegens eine grade spielende, etwas ins Romantische fallende Geschichte mit solcher Lebenswahrheit und Anschaulichkeit in ihrer Vergangenheit wie in ihrer weiteren Entwicklung vorführte, daß sie aufs tiefste betroffen ihr Dinge eingestanden und offenbarten, von denen sie keine Ahnung gehabt hatte und es ihr selbst bei der wunderbaren Wirkung ihrer Gabe unheimlich wurde. Sie hat seitdem die Übung dieser unterhaltenden Kunst aufgegeben. Ein zweiter Fall, wo sie bei einem Besuch in Meldorf ihrer jetzt auch schon verewigten Freundin Dora Hansen mit einem wunderbaren Phantasiegebilde zu umspinnen wußte, ist mir leider in seinen Einzelheiten völlig entschwunden; nur soviel weiß ich noch, es war geradezu zauberhaft. Dazu kam nun die Gabe einer Wohlredenheit, die ich meinerseits auch aus dem semitischen Blute herleite, das in ihren Adern wirksam war. Sie sprach nicht nur etwa fließend und ohne jede Schwierigkeit oder Hemmung, sondern sie fand auch für jeden Gedanken und jede Sache, für alles, was sie sagen und ausdrücken wollte, mit Leichtigkeit jedesmal den gewünschtesten und den entsprechendsten Ausdruck. Auch die Sprechweise ihrer ältesten Schwester ist von nicht germanischer Leichtigkeit, Anmut und Glätte.

Endlich verfügte sie über ein Darstellungs-Nachahmungs-Talent, sie von allen ihren Geschwistern allein, John vielleicht ausgenommen, das geradezu einzig war: Ausdruck, Gang, Behaben, vor allen aber den Ton der Stimme von Personen, die irgendetwas Besonderes und Auffallendes hatten, ihr Lachen, ihre Bewegungen konnte sie mit so täuschender Ähnlichkeit zur Darstellung bringen, daß ich, wie alle anderen, denen sie es überhaupt zu sehen und zu hören gab, aufs äußerste davon betroffen waren. Nur selten aber und unter besonderen Bedingungen gewann sie es über sich, etwas davon zum Besten zu geben. Ihr Bruder Hans, der endlich mit Mühe sie einmal soweit gebracht hatte, Vaters wenig kunstgerechtes Singen am Altar wiederzugeben, war von dem Talent seiner kleinen Schwester dermaßen hingerissen und entzückt, daß er in laute Bewunderung ausbrach und nicht umhin konnte, ihr auch einen klingenden Lohn in die Hand zu drücken.

Diese vereinten Gaben hätten sie zur Dichterin machen müssen, wie ihre Schwester Gretchen es war, wenn sie nicht, - was soll ich sagen? - zu stolz dazu gewesen wäre. Nur ganz einzelne Male hat sie kleine Gelegenheitsgedichte gemacht, so eins zu Weihnacht nach Töstrup zur Erklärung der übersendeten Gaben; es sprudelte von Witz und Laune; als sie es eben fertig und mir vorgelesen hatte, und ich meinen lebhaftesten Beifall und Entzücken darüber aussprach, vernichtete sie es, und warum? es könnte jemand verletzen! Diese unschuldigen, harmlosen Scherze von ihr! Ein kurzes, aber mir unendlich teures Sprüchlein ist übrig, der Vers, mit dem sie mir (15. April 1853) die oben erwähnte, unvergleichliche Zwergrose schickte:

 

                  Dem Geliebten fand ich dich,

                  Er soll, Rose, dich nun pflegen.

                  Geh' ihm liebevoll entgegen,

                  Daß ihm ist, als säh' er mich.

 

Richtige Urform; und neu noch schöner!

 

                  Meinem Liebsten fand ich dich,

                  Er wird, Röslein, dich nun pflegen.

                  Lächle freundlich ihm entgegen,

                  Daß ihm sei, als säh' er mich.

 

Oft genug aber kamen die erwähnten, von ihr mit soviel Gewissenhaftigkeit, so ohne alle Eitelkeit und Gefallsucht geübten Gaben zur Anwendung und Geltung; zunächst in ihrer jungen Mädchen-Zeit bei Aufführung kleiner Lustspiele, z.B. der Rosen des Herrn von Malesherbes[204], beim Vortrag einzelner Gedichte und später in der Unterhaltung und Schilderung. Sehr wohl kann ich mir denken, daß sie auf der Albersdorfer Hausbühne die reizendste Erscheinung gewesen ist. Über ihre Kunst aber der Deklamation kann ich aus eigener Erfahrung urteilen. Als ich sie schon länger kannte, es wird schon 1852 gewesen sein, wurde sie eines Abends ganz unvorbereitet von ihrer Schwester Gretchen aufgefordert, das Lied von "der Kleinen" vorzutragen, das auf sie in der Tat wie gemacht war. Man hätte denken können, daß ihr dieser Titel, den sie unter den Geschwistern wirklich lange geführt hatte, und dieser Gegenstand vor dem Manne, dem sie damals schon sich zugewandt hatte, nicht grade der angenehmste sein mochte; aber es übel zu vermerken, dazu dachte sie zu groß; vielleicht mag sie sich auch damit getröstet haben, was sie einst ihrer Schwester Gretchen antwortete: Klein, mein Gretchen, aber niedlich. Einerlei, ohne sich im allergeringsten zu zieren, begann sie alsbald: "Es hat mich oft so sehr verdrossen, daß man mich nur die Kleine hieß; viel Tränen hab' ich drum vergossen u.s.w.". Dann kamen die Trostgründe, und das Lied schloß: Denn in dem kleinen, kleinen Herzen Ist nur für Einen Raum genug![205] dies alles, auch wieder ohne alle Ziererei oder Übertreibung, falsches Pathos oder Gestikulation, wurde mit solcher fehllosen Sicherheit des Gedächtnisses, mit so richtiger und schöner Aussprache, mit solchem Verständnis der Betonung und Modulation der Stimme vorgetragen, daß ich wahrhaft überrascht und in einem Erstaunen war. Soviel ich erinnere, brachte ich es dennoch nicht soweit, ihr ein anerkennendes Wort darüber zu sagen, das sie in so hohem Maße verdient hatte. Wer ohne alle einschlagende Schulbildung, ohne Vorbilder, allein auf Grund eines natürlichen Schönheitsgefühls ein dichterisches Erzeugnis so vortragen konnte, das mochte wohl ein reich begabtes Talent sein. Wenn sie später ihren Kindern oder ihren Enkeln die Speckter'schen Fabeln, wie sie gewöhnlich statt Hey'sche[206] genannt werden, vortrug, habe ich diesem Vortrag nie anders als mit Freude folgen können.

Daß solche Talente sie zu einer Meisterin in der Unterhaltung machen mußten, kann jeder sich selbst sagen. Schon als junges Mädchen in dem Kreise ihrer Freundinnen war sie die belebende und erfreuende Seele der Gesellschaft. Nicht anders war es später schon in Meldorf, wenn sie als junge Frau es an jugendlicher Lieblichkeit allen Frauen und allen jungen Mädchen zuvortat. Als sie dann mit mir nach Kiel kam, erregte sie geradezu Aufsehen, und Familien, die mich von meiner Studentenzeit her kannten, konnten bei allem sonstigen Wohlwollen für den fleißigen Studenten, aber blöden Schäfer, doch garnicht begreifen, wie ich dazu gelangt war, eine solche Rose zu pflücken. Frau Conferenzrat Ratjen, die mir sehr wohlgesinnt war, wie auch ihr Mann, der alte Bibliothekar, obwohl ich ihnen nicht mal einen Besuch gemacht hatte, luden uns offenbar hauptsächlich ihretwegen nicht bloß einmal zu einer Gesellschaft ein, sondern Frau Ratjen konnte nicht umhin, meine Frau über das Rätsel meines Erfolges und meiner Kühnheit auszuforschen. Meine Stine war auch in diesen sonst ziemlich ausschließlichen Professorenkreisen mit nichten auf den Mund geschlagen; Witz und Schlagfertigkeit, Anmut und Wohlredenheit machten sie allen noch so hochgebildeten und selbst gelehrten Damen ebenbürtig, und mehr als einem Professor hat sie durch die Gaben und die Wirkung ihres Wesens Achtung und Wohlgefallen abgewonnen. Unvergleichlich gelangen ihr Erzählungen und Schilderungen des Selbsterlebten. Wie oft hab ich zu ihr gesagt: mein' Mutter, dies kann sofort gedruckt werden! Wie oft habe ich ernstlich daran gedacht, eine kleine Sammlung ihrer Erinnerungen schriftlich festzuhalten! Wer denkt dann, umfangen von dem herrlichen Genuß der Gegenwart, daß das Leben verrinnt, daß der Augenblick nie wiederkehrt, daß das Morgen so ungewiß ist, daß, wenn einmal der beredte Mund sich schließt, er auf immer geschlossen ist.

Obwohl ich lebhaft fühle, daß sie den bei weitem besten Teil ihrer Wirkung verlieren müssen, wenn sie nicht aus dem beredten Munde mit dramatischer Verkörperung hervorkommen, will ich doch zur Probe wenigstens den Inhalt einiger dieser Albersdorfer Dorfgeschichten hier angeben. Eine große Zahl bildeten die, welche sich um Liebe und Heirat drehten und natürlich in einem Pastorenhause besonders bekannt werden mußten.

Eine Wittwe will sich wieder verheiraten. Es geschieht Einsage. "Ach Gott", sagt sie, "ist Peter So und So dat wull? Ja, den heff ick dat all' verspraken op't Grafbier[207]."

Das sogenannte "Freiwarben"[208] spielte in Dithmarschen seit Alters eine große Rolle. Ein Fall wurde im Pastorat bekannt, wo die Ehestiftung eine englischlederne Hose eingetragen hatte. Auch der Einfluß und das Zureden von Vater und Mutter, Verwandten und Freunden, meist von Vermögensrücksichten bestimmt, wurde vielfach wirksam. Als einmal Vater am Altar schon die heilige Handlung begonnen hatte und im nächsten Augenblick das entscheidende Ja gesprochen werden sollte, kommt ein Mädchen aus Arkebeck in die Kirche gestürzt, atemlos und in voller Erregung und tut Einspruch: sie wisse es ganz gut, daß sie seine Wahl sei; nur durch Zureden hätte er sich ihr abspenstig machen lassen. Die Handlung mußte unterbrochen werden, die Sache ward untersucht und klargestellt; die mutige Braut holte sich ihren Verlobten heraus.

Geschichtlichen Wert finde ich in zwei Erlebnissen aus ihrer Kindheit, die sich ihrem Gedächtnis eingeprägt hatten. Ein kleines Mädchen aus dem Dorfe, das ihr wehe tun will, rückt ihr vor, daß sie garnicht mal ein eigenes Haus habe; "'t is 'n Kaspels-Hus"[209]. Einmal hatte Vater mit dem durch seine ungewöhnlichen Körperkräfte bekannten Klas Andres, der unter der Überschrift "Dres" auch im Quickborn[210] vorkommt, übrigens einem rohen und gottlosen Menschen, einen Streit im Pastorat über Ansprüche an die amtliche Tätigkeit des Pastors, die Vater zurückweisen zu müssen glaubte. Vater ward sehr lebhaft, aber ohne Furcht, wie David neben dem Goliath war er seiner Tochter vorgekommen. Es kam so weit, daß Vater ihm die Tür wies. "Fallt mi garni in; 't is 'n Kaspelshus." Das republikanische, urgermanische Gesamteigentumsbewußtsein hat in Dithmarschen das Gemeinwesen, "die Freiheit" lange überlebt. In Lensahn, wo die Kirche den Patronen gehörte, waren auch solche Anschauungen unbekannt.

Ein bettelndes kleines Mädchen wird ein wenig examiniert und vermahnt. "Wat deit Dien Vatter denn?" - "Sit inne Stu-uf." "Wat deit Dien Mutter denn?" - "Sit uk inne Stu-uf." "Worüm geihst Du denn nich to School?" - "Is keen School." -

Lise Thiessen und Stine sitzen auf der großen Diele im Thiessen'schen Hause. Da kommt die Frau Kirchspielvögtin die Diele hergegangen, langsamen, schleppenden Schrittes, etwas dick und schwerfällig, wie sie war. Stine, die sie offenbar auffällig langsam findet, fragt: "Du, wo old is Din Mutter eegentlich all?" - "Söben un dörtig; is se dor nich noch mal krall för?"

Ein wahres Meisterstück niederdeutscher Volksberedsamkeit, das allen Ansprüchen der Logik und Rhetorik gerecht wird und in einem höheren Sinne als dem von der Rednerin zunächst gemeinten die weltenerhaltende Macht des ****[211] unbewußt aufdeckt, ist die folgende Antwort einer Magd im Nordhastedter Pastorat an ihre verwarnende Herrin:

 

                        "Ach, wat, Mamsell:

                        Friet is dor wor'n,

                        un Friet ward dor,

                        un Friet mut dor wor'n,

                        un Friet schall dor wor'n."

 

Ich wüßte nicht, welcher Philosoph das Thema anders anfassen, auch nicht, wie man dem bekannten Luther'schen Rate an den Redner besser gerecht werden wollte.

In dem heißen Sommer 1868 waren wir in der Schweiz, und ich ließ mich vom Bädeker bestimmen, statt vom Furka-Gletscher ins Berner Oberland zu gehen, die lange, anstrengende und keineswegs genugsam lohnende Tour nach Vispach und von dort nach Zermatt und den Riffel hinauf zu machen. Die Hitze hatte die Gletscher in eine wahre Auflösung versetzt; die obere Visp war in den schäumenden Wellen voll von einer sich stoßenden Masse von Eis-Quadern; an dem Ufer selbst konnte man vor dem Brausen des hochgehenden Stromes sein eigenes Wort nicht hören; weite Strecken des Tales standen unter Wasser; über die niedrigeren Enden der gewölbten Brücken brauste die Visp in weißem Schaume dahin. Ortseinwohner rieten ab: Sie mögen nicht auf den Riffel gehen; die Wasser sind zu groß. Selbst der Führer ward bedenklich. Aber auf der anderen Seite winkten schon zwei bisherige Reisegefährten. Ich fragte Mama, ob sie es wagen wollte. Mit dem Ausdruck der Resignation, aber Angst im Gesicht, antwortete sie: Nur zu. Es ging dann gut. Wir gelangten auf den Riffel, ich zu Fuß, den Schweif des Pferdes um meine Hand geschlungen, in einem Zustand der Erhitzung, daß ich eine Lungenentzündung für unausbleiblich hielt. Das Bett und ein tüchtiger Grog stellte mich in einer Stunde wieder her. Am andern Morgen bestieg ich auch den Gorner Grat; aber meine Stine hatte genug. Am andern Tage kamen wir nicht ohne ein unfreiwilliges Fußbad über den brausenden Strom. Diese Fahrt, erinnere ich, schilderte mal meine Stine der Familie Lucht mit wahrhaft künstlerischer Vergegenwärtigung; die Lebhaftigkeit ihrer Empfindung und ihrer Phantasie, der Fluß und die dichterische Kraft ihrer Beredsamkeit, das schöne und belebte Gesicht, die ungesucht folgende Gestikulation machten zusammen auf die Zuhörenden einen solchen Eindruck, daß der alte, wortkarge, träumerische Etatsrat nachher zu seiner Frau gesagt hat: "Die versteht's!" - Es war eine Lust, ihr zuzuhören.

Ihre künstlerische Begabung trat auch in der Fertigkeit des Ausschneidens von Figuren, menschlichen und tierischen, selbst im Entwerfen von Zeichnungen hervor. Es muß geradezu als ein Jammer bezeichnet werden, daß sie nicht im Zeichnen, nicht in Musik und Gesang eine Ausbildung ihrer Talente hat erhalten sollen.

Mit der künstlerischen stand ihre intellektuelle Begabung auf gleicher Höhe. Das Urteil der Mutter über ihre zweijährige Kleine eigne ich mir in ganzem Unfange an: sie hatte eine ebenso richtige wie gesunde und zugleich auch rasche und klare Auffassung. Es ist aber hinzuzusetzen: vorwiegend auf dem ganzen Gebiet des praktischen Lebens; denn sie war auf das Können gerichtet, das Wissen schien ihr weniger begehrenswert. Ohne jemals eine einigermaßen genügende Anleitung oder Übung im Kochen und Wirtschaften gehabt zu haben, wurde sie mit den Aufgaben ihres kleinen Hausstandes von Anfang an spielend fertig. So wie sie unser Heim vom ersten Tage an bis zum letzten durch Blumen und allerlei einfachen Schmuck zum behaglichen Aufenthalt zu gestalten wußte, so verstand sie auch alle so mannigfaltigen kleinen Aufgaben der Hausfrau lächelnd zu lösen; gastfrei im höchsten Maße und "gerne herbergend"[212], wurde sie mit allen Schwierigkeiten schon in der ersten Zeit unserer Ehe fertig, wenn ihre Schwester Gretchen noch sorgte, sie möchte sich zuviel aufgeladen haben. - Eine kleine Landoldenburgerin, die mal bei uns zu Mittag ißt, meinte, so schönes Essen hätte sie noch nie geschmeckt. Wie oft haben Wilhelm und die anderen Verwandten sich's nicht bloß etwa an ihrem Tisch, sondern in ihrem ganzen Hause schmecken und wohl sein lassen. Alle Fragen des täglichen Lebens, von denen so oft Stimmung und Wohlbefinden der ganzen Familie abhängt, entschied sie mit ruhigem Blick und sicherem Urteil. Auch in wichtigeren und entscheidenden Dingen traf sie meist von Anfang an das Richtige und fand sofort den beherrschenden Punkt.

Noch viel höher anzuschlagen aber ist die Gesundheit und Hoheit ihres sittlichen Urteils, das Ergebnis ihrer tiefen, religiösen Durchbildung und ihrer empfänglichen und eindringenden Auffassung. Wie fern zunächst lag ihr trotz alles Angenehmen, was ihr gesagt wurde, und was auch der Spiegel ihr zeigte, jede Eitelkeit! Wohl wußte sie und liebte es auch, sich ordentlich, sauber, geschmackvoll zu kleiden; es wurde ihr auch nicht grade schwer gemacht; denn was stand ihr nicht? Aber gesucht hat sie nie etwas darin und ein Gegenstand der Sorge ist es ihr nie gewesen; ihr Herz hat nie daran gehangen. Wie gänzlich unbekannt war ihr die Sucht nach eitler Ehre, nach Rang oder Titel oder irgend einer Stellung in der Gesellschaft, wie gleichgültig, ob sie Frau Jansen oder Frau Dr. oder Frau Prof. hieß! Wie richtig war ihre Stellung dem irdischen Besitz, dem Gelde, dem ungerechten Mammon gegenüber, wie sie ihn gern zu nennen pflegte. Obwohl sie ja ihrem Manne ein für seine Verhältnisse recht ansehnliches Vermögen zugebracht hatte, ist ihr doch ihr Leben lang nie das leiseste Wort entfallen, das auch nur entfernt darauf gedeutet hätte, sie lege irgendeinen Wert darauf, sie glaube, damit dem Manne irgend etwas besonderes geleistet zu haben oder sie erwarte, sich dafür irgend etwas zu Gute getan zu sehen. Wohl sah sie es an als ein freundliches Geschenk ihres Gottes, das sie mit Danksagung genießen, dessen sie sich im Interesse ihrer Kinder freuen dürfe. Meine vorsichtige und haushälterische Verwaltung hatte ihre Billigung; Verschwendung oder Aufwand hätte sie beunruhigt; noch viel ferner war sie vom Geiz, besonders wenn es galt, Hilfe zu leisten oder Freude zu machen. Sie war richtig die Herrin des Mammons, nicht sein Sklave! Und weil sie überhaupt die Bedingungen irdischen Glückes nicht in äußerlichen Gütern und Vorzügen sah, war sie auch frei von jeglichem Neide und jeglichem Scheelsehen, so volständig frei, so vollständig geneigt und fähig, sich zu freuen mit den Glücklichen, wie ich nie einen Menschen getroffen habe. Alles Irdische, alles Nichtige und Eitle, aller Schein und Flitter war ihr nichts, hoch stand ihr edler Sinn über allem Niedrigen und Gemeinen.

Rasch und klar wie ihr Urteil war auch ihr Wille, unbeirrt von Zweifeln und Schwankungen faßte sie ihre Entscheidungen. Sie wußte alsbald, was sie zu tun hatte, und fand die Kraft in sich, zu tun, was sie mußte. Zögern und Zaudern, Bedenken und Besinnen, Umsatteln und Übergehen von einem zum andern, Stehenbleiben auf halbem Wege, alles derartige war ihr zuwider. Aufschieben, zumal Unangenehmes, konnte sie nicht. Hatte sie ihren Entschluß gefaßt, so führte sie ihn aus mit dem Gebet und in dem Vertrauen, Gott möge ihn segnen, - und dabei war sie getrost und unerschüttert. Wie oft hat sie in ihrem Leben sich in bittere Notwendigkeiten fügen müssen! Immer tat sie es ohne Murren, ohne Bitterkeit, ohne Klage, mit einer rührenden und bewunderungswürdigen Ergebung in ihres himmlischen Vaters heiligen Willen, mit einer Stärke und Festigkeit, ja, ich darf sagen, mit einem weiblichen Heldenmute, wie er nicht oft gefunden wird. Damit in engstem Zusammenhang stand die Offenheit und Wahrhaftigkeit, die Geradheit und Tapferkeit ihres ganzen Wesens, geübt und bewährt unterschiedlos gegen Arm und Reich, Vornehm und Gering, aber nie verletzend, nie bitter oder hämisch, nie hochmütig oder tugendstolz, sondern im tiefsten Grunde verbunden mit der Liebe und Demut. Nur auf das Gute war ihr Wille gerichtet.

Denn der letzte Grund und Kern ihres Wesens war die Lauterkeit und Reinheit ihres schuldlosen Herzens, das, von sittlich und leiblich gesunden Eltern entstammt, durch Vorbild, Erziehung und Lehre vor dem Bösen behütet, mit seltener, ja ängstlicher Gewissenhaftigkeit über sich wachte und jede Sünde und Unreinigkeit von sich auszustoßen stark genug war; immerhin oft unter schweren Seelenkämpfen. In diesem lauteren Herzen wohnte ein Schatz von Güte und Menschenfreundlichkeit, der sich nie verleugnete und gegen keinen versagte. Ein Beweis davon und von ihrem frühen sittlichen Feingefühl ist, daß sie schon als Kind, obwohl eine große Freundin der gefiederten Sänger, keinen Vogel ohne Mitleidschmerz in der Gefangenschaft schmachten sehen konnte. Wenn ich bedenke, wie es mir als Knaben doch auch nie in den Sinn gekommen ist, wie sehr ich die Vögel und andere Tiere, die ich jeden Frühling und Sommer zu fangen wußte und einsperrte, damit quälte, daß es meinen Gesellen, soweit ich weiß, nicht anders ging, so kann ich nicht anders als mit tiefer Beschämung an meine Stine in ihrer Kindheit denken, der es doch auch niemand anders klargemacht hatte, als ihr liebevolles Herz.

Wenn sie so fühlte gegen die Tiere, wie hätte sie nicht Freundlichkeit und Güte üben sollen gegen die Menschen! Insonderheit gegen alle Mühseligen und Beladenen, gegen die Armen und Kranken, gegen die Alten und gegen die Kinder. Nie ist ein Beschwerter und Trauriger von ihr gegangen ohne Zuspruch und Erquickung, nie hat ein Kind sie verlassen, ohne mit irgendetwas erfreut zu sein. Was mußte sie vollends, zumal noch mit ihrer unerschöpflichen Phantasie dazu, ihren eigenen Kindern und Enkeln werden! Wenn Karl als kleiner Junge einmal in die Worte ausbrach: "Mama, Du bist süß, Du bist süß wie Zucker, morgen wollen wir dich essen", so sprach er wohl nur den Eindruck aller ihrer Kinder aus. Ja, liebe Kinder, ihr habt eine unvergleichliche Mutter gehabt!

Aber lieb und freundlich war sie auch gegen alle anderen Menschen, sie mochten hoch oder niedrig im Leben stehen, gebildet oder ungebildet sein. Es ist wohl ein schöner Zug, daß sie des einfältigen und treuen Mädchens, das in den letzten Jahren vor ihrer Verheiratung in ihrem Vaterhause diente, Dorthe Schüler aus Meldorf, so sich angenommen hatte, daß diese für ihre "Mamsell" durchs Feuer gegangen wäre. Eine andere ganz einfache Albersdorferin, Wiebke Wagner, hat sie bis zuletzt als ihre Freundin behandelt, durch Briefe und kleine Geschenke, durch gelegentliche Besuche erfreut. Keinen Albersdorfer, mit dem sie je als Kind gespielt, ist es ihr eingefallen zu verleugnen; nie hat sie sich durch das einfältige Du, wenn es ihr entgegengebracht wurde, verletzt oder abgestoßen gefühlt. Und von wem sie gar Freundlichkeiten und Liebe genossen hatte, gegen den war ihre Dankbarkeit unbegrenzt und unauslöschlich. Dankbarkeit und Demut schmückten sie in ganz besonderem Maße. Oft genug hat sie noch in ihren letzten Lebensjahren, wo sie aus langem Trübsinn zur Lebensfreude wieder erwacht war, ihr Dankgefühl gegen ihren himmlischen Vater ausgesprochen; so Schweres sie auch erfahren, konnte sie dennoch sagen: Er ist uns ja so gnädig gewesen! Einen stärkeren Beweis ihres wahrhaft frommen und demutsvollen Kinderherzens kann es wohl nicht geben.

Ja, nach dem höchsten Maßstab, dem der heiligen Schrift gemessen, erhält sie auf der Stufenleiter menschlichen Wertes ungesucht und unbeansprucht einen der allerersten Plätze. Nun aber bleiben, sagt der Apostel, diese drei: Glaube, Hoffnung, Liebe[213]. Was Christenglaube sei und wirke, das habe ich in meinem ganzen Leben, weder bei Geistlichen noch bei Laien, weder bei Männern noch bei Frauen auch nur annähernd ein so schönes und erbauliches Beispiel gesehn als bei ihr. Felsenfest stand ihr insonderheit ihres Gottes Wort, das der gläubige Vater seinen Kindern bei der Konfirmation mit ins Leben hinaus gab: Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen; aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen[214]. Mit der ganzen Kraft und Treue ihres Wesens hatte sie vor allem den ersten und obersten Satz des evangelischen Christentums erfaßt und sich zu eigen gemacht: Aus Gnaden sollst du selig werden[215]. Ihr Heiland und Erlöser war ihr unentbehrlicher, aber auch ihr vollgenügender Trost und Halt in allen schweren Anfechtungen ihres Lebens. Ja, dieser Glaube ist es auch in erster Linie gewesen, an dem sie sich auch aus der Nacht des Trübsinns wieder emporgearbeitet hat. Das war auch ihres verehrten Arztes, Rüppels, Meinung. So kann man von ihr, wenn von einer sagen: sie hat Glauben gehalten, im Glauben hat sie den Lauf vollendet, fortan ist ihr beigelegt die Krone der Gerechtigkeit[216].

Und die Hoffnung gehörte tief zu ihrer Natur in kleinen, wie in großen Dingen. Von jedem Menschen, in allen Lebenslagen hoffte sie immer das Beste. Mißtrauen, Argwohn war ihr fremd. Wie oft hab' ich still für mich in Bezug auf sie und ihr kindlich vertrauensvolles Herz den wahren Ausspruch des Euripides mir wiederholt, den unser verehrter Lehrer Nitzsch, eine sehr ähnliche tapfere und treue Natur wie meine Frau, unter sein Bild gesetzt hat: ***** ***** *******, ***** ****** ***** *** *** ** *********, ****** *****[217]. Gegenüber einem zweifelhaften Ausgange hoffte sie immer die glücklichere Möglichkeit; sie wußte auch mit gleicher Hoffnung andere zu erfüllen. Dankbar namentlich hat Frau Pastor Fürsen ihr nachgerühmt, wie sie ihr auf ihrem Krankenlager Trost und Hoffnung zugesprochen und einzuflößen gewußt habe, sodaß sie ganz getrost geworden und auch ihrerseits Hoffnung wieder gefaßt habe. Ähnlich hat sie viele andere aufgerichtet, niemand öfter als ihren Mann.

"Aber die Liebe ist die größeste unter ihnen."[218] Wie hat sie ihre Mitmenschen, ihre Freundinnen und Verwandten, ihre Eltern und Geschwister, wie hat sie ihren Mann und ihre Kinder, ihre Schwiegersöhne und Enkel geliebt! Nur ein reines und starkes Herz war solcher Fülle und Kraft der Liebe fähig, vermochte eine solche Hingabe und Selbstverleugnung zu üben, so zu vergeben und zu vergessen, zu heilen und zu erheben, zu trösten und zu erquicken. Alles, was der Apostel als Kennzeichen der Liebe aufzählt, traf bei ihr zu: Die Liebe ist langmütig und freundlich; die Liebe eifert nicht; die Liebe treibt nicht Mutwillen (Hoffart!); sie blähet sich nicht; sie stellt sich nicht ungebärdig, sie sucht nicht das ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu; sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit. Sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hoffet alles, sie duldet alles[219]. Es ist wie von ihr abgeschrieben. Und dennoch war sie nicht etwa eine träge, phlegmatische, gleichgültige Natur, die alles über sich ergehen ließ aus Unempfindlichkeit. Im Gegenteil kräftig, feinfühlig, elastisch. Wie viel größer mußte also bei ihr die Macht der Liebe sein, um solche Wirkungen zu üben.

Am Ende meiner Charakteristik fühle ich erst recht, wie gänzlich unzulänglich Worte und zumal meine Worte sind, um das ganze Wesen Eurer seligen Mutter nach ihrer leiblichen Erscheinung und ihrer geistigen Begabung zu vergegenwärtigen. Nur eines kann ich wiederholen: es lag auf ihrer Person, es lag, um einen Goethischen Ausdruck zu gebrauchen, in ihrer "Gegenwart" ein Zauber, - ich kann es nicht anders nennen - der sich mit nichts vergleichen läßt, was mir sonst vorgekommen ist, und der mich gefangen genommen hatte, als ihn nur noch das körperliche Auge wahrzunehmen Gelegenheit gehabt hatte. Eine wunderbare Kraft des Erfreuens und der Anmut, der Erheiterung und Erhellung, des Trostes und der Erquickung strömte von ihr aus. Wo sie erschien, ging mir die Sonne auf; wo sie ging und stand, sproßten mir Rosen, ihre Nähe beseligte mich, nahm mir alle Last vom Herzen. Ich kann es immer nur wiederholen: sie hat mir auf Erden ein unaussprechliches Glück bereitet. Nehmt Ihr die einzelnen Züge zusammen, wie ich sie nach einander vorzuführen versucht habe, so wird Euch auch die Quelle dieser Wirkungen nicht entgehen können: irdischer Liebreiz und himmlische Verklärung. -

Mit tiefer Beschämung, mit reuevollem und dankbarem Herzen wüßte ich ihr, was sie mir gewesen ist, nicht besser nachzurufen als mit dem Wort des Herrn: "Wer an mich glaubt, von des Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen."[220] -

21. März 1894

 

 

ANMERKUNGEN



[1] Vgl. Mensing: Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch II, 863 ff unter "Holland"

[2] Lücke im Manuskript

[3] Tagelöhnerhaus, steht hier für Verarmung

[4] Niederdeutsch Dracht: hölzernes Schulterjoch zum Tragen von Eimern

[5] Diabetes

[6] Fideikommiß war eine Erbschaftsregelung des älteren deutschen Rechts zur Erhaltung des adeligen Grundbesitzes, nach der z.B. das Gut in der Hand eines Familienmitglieds verblieb und nur die Erträge zur freien Verfügung standen

[7] Altes, auf die einzelne Bauernfamilie bezogenes Ackerflächenmaß um 7,5 ha, bezeichnete etwa das, was eine Familie als Existenzgrundlage benötigte; später in ganz Holstein gebräuchliches Wort für Bauernhof bestimmter, aber sehr unterschiedlicher Größe; der Hufner war demnach Besitzer einer Hufe, also Bauer

[8] Kruppsche Krankheit (Diphterie)

[9]  Als Zeichen so nicht nachweisbar: nach dem Kontext handelt es sich um Kuranttaler

[10] Bankrott

[11] Genosse, Freund

[12] "Dienen lerne beizeiten das Weib nach ihrer Bestimmung..."; "Hermann und Dorothea", 7. Gesang, 114-116

[13] Lücke im Manuskript

[14] Lübeck hatte zahlreiche Stiftungen mit zugehörigen Ortschaften und Gütern innerhalb und außerhalb des Stadtgebietes; so gehörte z.B. Heringsdorf zum Jungfrauenstift St. Johannis (St. Johanniskloster)

[15] Niederdeutsch Regel (= Riegel): eingefriedeter Melkplatz auf der Weide

[16] Die maskuline Form von Weihnacht ist bei Mensing: Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch V, 626 nachgewiesen

[17] Klüterklas: als Ereignis nicht nachweisbar; möglicherweise handelt es sich um so etwas wie Julklapp

[18] Miliaria (harmloser fieberhafter Hautausschlag)

[19] Niederdeutsch Trallen (= Traljen): Gitter

[20] Cannabich, Johann Günther Friedrich: Lehrbuch der Geographie nach den neuesten Friedensbestimmungen. Sondershausen 1816 u.ö.

[21] "Der beste Tabak unter der Sonne" (damals stark verbreitete billige Tabaksorte); "Petum" ist der aus dem Indianischen stammende, ursprüngliche Ausdruck für Tabak

[22] Vgl. Mensing: Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch I, 113 f

[23] Krämer, Kleinhändler

[24] (= Insasse) Tagelöhner, Landarbeiter

[25] Ackerknecht

[26] Vgl. Anm. 51

[27] Niederdeutsch "Vaagt": Aufseher

[28] Landpolizist des Gutsherrn

[29] Kuranttaler

[30] Fürstliches Privatgut (im Gegensatz zum Lehen)

[31] Kartenspiel mit dem französischen Blatt ohne die 8, 9 und 10

[32] Niederdeutsch Keesbieter, Keesknieper: Spottnamen für Holländer

[33] wodurch täglich die größten Einberufungen (oder) Versammlungen stattfinden

[34] Lossius, Kaspar Friedrich (1768-1817): Gumal und Lina, eine Geschichte für Kinder. Gotha 1795-1800

[35] Dassel, Christian Konrad Jakob (1768-1845): Merkwürdige Reisen der Gutmannschen Familie. Hannover 1794-1798

[36] Campe, Joachim Heinrich (1746-1818): Geschichte der Entdeckung von Amerika. Hamburg 1780-1781

[37] Liederbuch für deutsche Studenten. Leipzig, 5. neubearb. Aufl. 1892 (frühere Auflagen nicht nachweisbar)

[38] Der preußische Offizier F.v. Schill fiel 1809 in Stralsund, nachdem er eigenmächtig in der Folge der Kriegserklärung Österreichs an Frankreich und angesichts der zögernden preußischen Haltung in die Kämpfe gegen Napoleon eingegriffen hatte; Gegener war der dänische General Johann von Ewald

[39] Niederdeutsch Arndbeer: Erntefest am letzten Erntetag

[40] Kohlrausch, Heinrich Friedrich Theodor: Die deutschen Freiheitskriege von 1813, 1814 und 1815. Elberfeld 1824 u.ö.

[41] Ein Maler Delfi ist nicht nachweisbar: mutmaßlich handelt es sich um den in Segeberg geborenen Moritz Delfs

[42] Kuranttaler

[43] Je mehr sich jemand versagt hat, desto mehr wird er von den Göttern getragen

[44] Agesilaos (II.), um 444-um 360 v. Chr., König von Sparta

[45] Aus: Friedrich Justin Bertuch (1747-1822): Das Lämmchen ("Wiegenliederchen", 1772)

[46] Niederdeutsch Kreet, Kretel, Kretelie: Zank, Streit; Kunstausdruck deshalb, weil er wohl auf "Kritik" (vgl. kritteln, bekritteln) zurückzuführen ist

[47] Vgl. Mensing: Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch I, 919 unter "dunsen"

[48] Vgl. a.a.O.: I, 98 unter "Akree"

[49] Vgl. a.a.O.: II, 80 f unter "Fiefsteen"

[50] Vgl. a.a.O.: II, 809 f unter "Hinkepott"

[51] Wagrien, die Landschaft im Südosten Holsteins um die Lübecker Bucht, war von etwa 800 bis 1139 von den wendischen (slawischen) Obotriten besiedelt

[52] Dünen

[53] Vgl. z.B. "Der Eislauf", Ode (1764) von Friedrich Gottlieb Klopstock

[54] 13. Juli

[55] Niederdeutsch Sünnring: Sonnenuhr einfachster Bauart

[56] Zungenbändchen (frenulum linguae), das, bei Vögeln gelöst, das Sprechenlernen fördern sollte

[57] 48 Schilling lübisch entsprachen auch einem Kuranttaler

[58] Megaron: im altgriechischen Haus der Männersaal

[59] Niederdeutsch Kenater bezeichnete die Schlafkammer des Dienstmädchens, die Kemenate, also das Frauenzimmer

[60] Lukas 16, 19

[61] Niederdeutsch Kürwagen, Kürwaag: der frühere Staatswagen der Bauern für besondere Anlässe

[62] Niederdeutsch Stohlwagen, Stöhlwagen: Korbwagen mit aufgesetzten Stühlen; Fuhrwerk des Bauern für besondere Anlässe wie der Kürwagen

[63] Stadttheater, heute Hamburger Staatsoper

[64] Noch bestehendes Lokal an der Binnenalster

[65] Calderón de la Barca, Pedro: "Das Leben ein Traum" (1636)

[66] "Guido und Ginevra oder Die Pest in Florenz" (1838), Oper in 5 Akten von Jacques Fromental Halévy, Text von Eugène Scribe (Premiere im Hamburger Stadttheater am 16.1.1839)

[67] Kleines norwegisches Pferd

[68] Altes Hohl- und Flächenmaß, aufgefaßt als das Stück Land, das mit einer Tonne Korn besät werden konnte

[69] Kuranttaler

[70] Hilfslehrer an Gymnasien

[71] In dem in einer Abschrift im Schleswiger Landesarchiv liegenden Tagebuch 1839-42 von Jansen heißt dieser Schulfreund Hesse (Blatt 17), so daß dieser Name angesichts der zeitlichen Nähe als korrekt zu unterstellen ist

[72] Sonntag vor Ostern

[73] Aufsicht führende obere Kirchenbehörde

[74] 1831: erste große, über Rußland eingedrungene Epidemie der sog. asiatischen Cholera in Europa

[75] denn, nun, jawohl, gewiß

[76] Werke und Jahre, Seele und Geist

[77] Kleist, Ewald Christian von: Der Frühling. Idyll in Hexametern (1749)

[78] Gemeint ist hier der Hexameter

[79] Chateaubriand, François René de: Itinéraire de Paris à Jérusalem et de Jérusalem à Paris, en allant par la Grèce, et revenant par l'Égypte, la Barbarie et l'Espagne (1811)

[80] Newman-Sherwood, Samuel: Englisches Lesebuch nach dem Natursystem des Sprachunterrichts, oder leichte Einleitung in die praktische Kenntniß der englischen Sprache. Lübeck 1832 u.ö.

[81] Gemeint ist wohl: "fossil" im Sinne von "versteinert"

[82] Schlosser, Friedrich Christoph: Geschichte des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum Sturze des französischen Kaiserreichs. Heidelberg 1836-43 u.ö.

[83] Reform der gymnasialen Lehrordnung auf Veranlassung Wilhelms II 1890/91

[84] Hollenberg, Wilhelm Adolf: Hülfsbuch für den evangelischen Religionsunterricht in Gymnasien. Berlin 1854 u.ö.

[85] Ritual in studentischen Verbindungen mit dem Lied "Alles schweige! Jeder neige ernsten Tönen nun sein Ohr!", gesungen bei feierlichen Kommersen, verfaßt nach älteren Liedern von August Niemann, benannt nach dem Beginn einer der älteren Strophen ("Landes-Vater! Schutz und Rater")

[86] 29. September

[87] Ich habe mit Vergnügen gelesen

[88] Ich habe mehreres mit Vergnügen gelesen

[89] Du gefällst (im Sinne von: es gefällt mir)

[90] Ich habe mit Vergnügen gelesen und würde Dir sogar sagen, daß du gefällst, wenn ich nicht etliche sphalmata sähe, auf deren baldige Beseitigung ich vertraue

[91] Fehler im Sinne von Schönheitsfehler

[92] Niederdeutsch Smack: Geschmack

[93] Mutmaßlich: Observationes ad Taciti Annales criticae. Lübeck 1839-42. Gymnasial-Programm.

[94] Jacob, Johann Friedrich: Horaz und seine Freunde. Berlin 1852

[95] Horaz, Oden, Buch 2, 16: "Otium divos rogat in patenti prensus Aegaeo..." (Ruhe von den Göttern erfleht, wer in der offenen Ägäis überrascht wird...)

[96] Horaz, Oden, Buch 2, 3: "Aequam memento rebus in arduis servare mentem..." (Gelassen gedenke in Lagen voll Härte zu bewahren den Sinn...)

[97] Aus der Ballade "Bertran de Born" (1829) von Ludwig Uhland

[98] Glücklich sind die, denen die Beschwerden des Alters erspart bleiben

[99] Jacob, Johann Friedrich: Lübische Spiele. Hamburg 1844

[100] Erst später als Gruppe aufgefaßte Reihe oppositioneller, fortschrittlich-liberaler Schriftsteller (Namen: Gutzkow, Laube, Wienbarg, Mundt; nahestehend auch Heine, Börne), die eine Plattform in den linkshegelianischen "Hallischen Jahrbüchern" fanden

[101] Kotzebue, August von: Die Hussiten vor Naumburg im Jahr 1432 oder Der triumphierende Viertelsmeister (1803)

[102] 24. Juni

[103] De coniuratione Catilinae (Die Verschwörung des Catilina)

[104] Kuranttaler

[105] Wie das in einer Abschrift im Schleswiger Landesarchiv liegende Tagebuch 1839-42 von Jansen beweist (Blatt 46), handelt es sich hier tatsächlich um Hamfelde

[106] In Einträgen des in einer Abschrift im Schleswiger Landesarchiv liegenden Tagebuchs 1839-42 von Jansen heißt es unter dem 7.5.1842: "Schwarz der Himmel, sturmbewegt die Luft, dunkel die Nacht - schaurig - und in Hamburg vollends, da wütet entfesselt und ungezähmt von Menschenhand das Feuer mit all seinen Schrecken. Schon gestern kam die Nachricht her, die unglückselige, doch heute ist sie immer trauriger und gräßlicher geworden. Kourire über Kourire kamen an und baten um Hilfe, die Hamburger Posten waren immer überlaufen von Hunderten von Menschen, eine riesige Bewegung, - die selbst, wie sich erwiesen hat, unheildrohend auch in Lübeck war, - es haben nämlich 3 Kerle unseren Teerhof anzünden wollen, sind aber ergriffen - herrschte überall; deshalb wurden auch die Brandwachen verstärkt und waren selbst des Tages auf ihrem Posten. - Heut Abend konnte man vom Walle aus nach Hamburg eine weite Strecke am Horizont, hoch hinauf den Himmel rot sehen, bald aufflammend, bald mehr niedergehend." (Blatt 45); und unter dem 14./15.7.1842 heißt es: "Nachmittags waren wir im Tivoli und nachdem besahen wir die Brandstelle und die neue Börse. Die Brandstelle hatte ich mir noch schrecklicher gedacht, obwohl sie einem noch schrecklich genug war und man das Wüten des schrecklichen Elementes sich deutlich vorstellen konnte; eine ungeheure Strecke lag in Trümmern, teils gesprengt, teils niedergebrannt. Die Straßen lagen voll Holz und Stein, auf weiteren Stellen brannte es noch ganz hell, namentlich der große Kornspeicher, wo das Korn, was noch nicht ganz verbrannt war, gesichtet wurde. Unter all den Trümmern ragten zwei eingestürzte Türme hervor als trauriger Beweis, was der Menschen ohnmächtige Kunst sei! - Ein wenig ist durch diesen Schlag der Mut und die Geldwut der stolzen Hamburger gebrochen; aber im Allgemeinen ist es schon wieder vergessen, man ging spazierend mit sonntäglichem Gleichmut unter den Trümmern umher." (Blatt 48)

[107] Classen, Johannes: Friedrich Jacob, Director des Catharineums in Lübeck in seinem Leben und Wirken dargestellt. Nebst Mittheilungen aus s. ungedruckten poetischen u. prosaischen Nachlaß. Jena 1855

[108] Von der Billigkeit des Urteils

[109] Feierliche Begleitung eines von der Universität Abgehenden durch die Kommilitonen

[110] Landständige Vertretung der adeligen, später auch bürgerlichen Rittergutsbesitzer

[111] Der beste Mann ist der, der immer seinen Hoffnungen traute, der schlechte aber der, der immer an ihnen zweifelt

[112] Präraffaelitische Malerschule unter Führung von Friedrich Overbeck, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts im verlassenen römischen Kloster San Isidoro wirkte

[113] Der Zweck heiligt die Mittel

[114] An verschiedenen deutschen Universitäten durch Stiftungen vermittelte Nahrungsmittelgaben (unentgeltlich oder zu einem geringen Preis)

[115] 1675 von dem reichen Holländer Samuel Schass der Universität Kiel gestiftetes Stipendium

[116] Schilling

[117] Kuranttaler

[118] Studentendemonstration 26.11.1844 zur Unterstützung der vier Professoren, die eine Petition an die in Itzehoe tagende Holsteinische Ständeversammlung gerichtet hatten mit der Forderung, sich gegen den Antrag des Kopenhagener Bürgermeisters Tage Algreen-Ussing in der Ständeversammlung von Roskilde 22.10.1844 auf Durchsetzung des dänischen Königsgesetzes auch bei weiblicher Erbfolge zu verwahren

[119] Auf breiten Protest deutscherseits stoßende Verlautbarung des dänischen Königs Christian VIII 8.7.1846, in der (angesichts der Erben-Probleme in der königlichen Familie) die weibliche Erbfolge für den "dänischen Gesamtstaat" einschließlich der Herzogtümer proklamiert wurde

[120] Forchhammer faßte das Wasser als Substrat der griechischen Mythologie auf

[121] al-Hariri, Abu Muhammad al-Qasim (1054-1122): Maqamat (Stehkonvente); entstanden etwa 1101-1110

[122] Während seiner Zeit als Professor an der Dresdener Militärakademie verfaßte er: Historische Entwickelung der speculativen Philosophie von Kant bis Hegel. Zu näherer Verständigung des wissenschaftlichen Publicums mit der neuesten Schule dargestellt. Dresden 1837 u.ö.

[123] Eine Quellensammlung ist nicht nachweisbar; möglicherweise handelt es sich um: Erdmann, Johann Eduard: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie. Leipzig 1834-53

[124] Mit Scherk wurden am 4.6.1852 nach der Restitution der dänischen Herrschaft acht weitere Professoren der Kieler Universität ihrer Ämter enthoben

[125] Pelt erhielt schon 3.8.1852 die Patronatspfarre Kemnitz der Greifswalder Universität

[126] Napoleons I letzte Herrschaftsperiode nach dem Putsch im März bis 22.6.1815

[127] Zitat aus Friedrich Schlegel: "Lucinde" (1799), wo es heißt, in der Natur des Mannes liege "ein gewisser tölpelhafter Enthusiasmus, der gern mit allem Zarten und Heiligen herausplatzt, nicht selten über seinen eigenen treuherzigen Eifer hinstürzt und mit einem Wort leicht bis zur Grobheit göttlich ist"

[128] Erklärung der Frankfurter Nationalversammlung 17.9.1846 gegen die im Offenen Brief des dänischen Königs ausgebreiteten erbfolgerechtlichen Vorstellungen

[129] Staats- und Erbrecht des Herzogthums Schleswig. Kritik des Commissionsbedenkens über die Successionsverhältnisse des Herzogthums Schleswig. Von N. Falck, M. Tönsen, E. Herrmann, Joh. Christiansen, C.O. Madai, Joh. Gust. Droysen, Georg Waitz, Joh. Chr. Ravit, L. Stein. Hamburg 1846; eine Schrift gegen das Gutachten einer vom dänischen König eingesetzten Kommission zur Erbfolgefrage

[130] Sog. Plöner Bekanntmachung des dänischen Königs 18.9.1846 mit dem Versuch einer Abschwächung der erbfolgerechtlichen Einlassungen seines Offenen Briefes

[131] Vgl. Anmerkung 115

[132] telos: Ziel, Zweck

[133] eudaimonia: Glückseligkeit

[134] Erfahrung

[135] offerre: entgegenbringen, bieten, darstellen, zeigen; die partizipiale Form ist oblatus

[136] entflammt von vaterländischer Sorge und Liebe für Deutschland... die freudigsten Hoffnungen zu schöpfen

[137] Das Bonmot vom Schweiger in sieben Sprachen stammt von Friedrich August Wolf oder Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (vgl. Büchmann: Geflügelte Worte)

[138] Kuranttaler

[139] Kuranttaler

[140] Eine Schauspielerin Stuhr ist nicht nachweisbar: mutmaßlich handelt es sich um die Tochter von Auguste Crelinger, Klara Stich

[141] "Die Hugenotten", Oper in 5 Akten von Giacomo Meyerbeer, Text von Eugène Scribe und Emile Deschamps (1836)

[142] Die halbherzigen Zugeständnisse an die wachsenden konstitutionellen Forderungen, gipfelnd in dem königlichen Patent vom 3.2.1847, das die Landstände mit sehr beschränkten Kompetenzen in den Vereinigten Landtag brachte

[143] Beginn der revolutionären Ereignisse von 1848 mit Straßenkämpfen in Berlin, wenige Tage vorher in Wien

[144] Aufsehenerregender, da erstmals öffentlicher Prozeß März 2.8.-2.12. 1847 gegen 254 Beteiligte der sog. Polnischen Verschwörung 17.-21.2.1846 unter der Führung von Ludvik Mieroslawski

[145] Horaz, Oden, Buch 4, 5: "Divis orte bonis, optume Romulae custos gentis..." (Durch der Götter Gunst kamst du in die Welt, bester du als des Romulusvolks Hüter...)

[146] Zeile 5: Licht schenke wieder, gütiger Herrscher, der Heimat!

[147] Der Frieden von Teschen 13.5.1779 beendete den Bayerischen Erbfolgekrieg

[148] Bildung einer Provisorischen Regierung in Kiel 24.3.1848; selbständige Tagung von 70 Abgeordneten der Ständeversammlungen der Herzogtümer 18.3.1848 in Rendsburg mit Bildung einer Gesandschaft nach Kopenhagen, die dem dänischen König ihre Forderungen unterbreiten sollte

[149] Erstes Gefecht gegen die Dänen mit einer Niederlage der Herzogtümer bei Bau (Bov) 9.4.1848; Zurückschlagung der Dänen 23.4.1848 bei Schleswig

[150] Zweiter Spruch des Konfuzius

[151] Der Kommandeur des Lauenburger Jägerbataillons Sören Johann Diedrich Michelsen wurde April 1848 in Flensburg verwundet, geriet in dänische Gefangenschaft, wurde gegen ärztliches Verbot transportiert und starb an seinen Verletzungen 25.4.1848 in Augustenburg

[152] Das aufsehenerregende Landungsunternehmen des dänischen Kapitänleutnants Friderich Rudolph Edwin Maria Dirckinck, Freiherr von Holmfeld, 13.-15.4.1848, dessen Zweck die Verlesung einer Aufforderung des dänischen Königs an die Fehmarner Bevölkerung war, ihm die Treue zu halten, endete mit der Intervention des Befehlshabers der Küstenmiliz und der Gefangennahme des dänischen Kapitäns

[153] Mutmaßlich das in den Wagrisch-Fehmarnschen Blättern Nr. 16 vom 21.4.1848 angezeigte "Lied von Dircking-Holmfeldt", verlegt bei C. Fränckel in Oldenburg

[154] Verhandlungen (ein Briefwechsel ist nicht nachweisbar) des preußischen Majors von Wildenbruch ab 2.4.1848 in Kopenhagen mit dem Ziel, Dänemark von einer militärischen Intervention in Schleswig-Holstein abzuhalten

[155] Niederdeutsch Haafdag, Hofdag: Arbeitstag auf dem Hof

[156] Am 26.8.1848 auf Druck der europäischen Großmächte unter schwedischer Vermittlung zustandegekommener Waffenstillstand zwischen Dänemark und Preußen

[157] Die beiden Vertreter der Rechten in der Nationalversammlung wurden am 18.9.1848 im Verlauf eines Aufstandes in Frankfurt aufgrund der Annahme des Malmöer Waffenstillstandes durch das Frankfurter Parlament 16.9.1848 ermordet

[158] Mutmaßlich: "Aufruf an die Wähler Schleswig-Holsteins". In: Wagrisch-Fehmarnsche Blätter Nr. 40 vom 6.10.1848

[159] Endgültige Unterwerfung Dithmarschens 1559 durch den dänischen König Friedrich II und die Herzöge Johann und Adolf 

[160] Staatsangehörigkeit

[161] 1884 verstaatlichte, 1842 von der dänischen Regierung genehmigte, am 18.8.1844 eröffnete Privatbahn mit der Verbindung Altona-Neumünster-Kiel

[162] Bezeichnet die beginnende Diversifizierung der Gymnasialbildung (altsprachlicher, naturwissenschaftlicher Zweig)

[163] Niederdeutsch Penningmeister: in Dithmarschen Steuereinnehmer für die Landschaftskasse

[164] Gerichtsschreiber

[165] Wahrscheinlich abgeleitet von "Partie" im Sinne von Spielpartie

[166] Kartenspiel zu viert mit dem vollständigen französischen Blatt

[167] Kündigung des Waffenstillstandes von Malmö 26.2.1849 durch Dänemark ungeachtet des vehementen Einspruchs der europäischen Westmächte

[168] Werg

[169] Das Manuskript der im Winter 1851 verfertigten Aufzeichnungen über die Schlacht bei Idstedt 25.7.1850 ist nicht erhalten

[170] Niederlage gegen die weit überlegenen Dänen bei Fredericia 6.7.1849

[171] Nach dem Kontext kann eigentlich nur das Tal der Vejle Å gemeint sein

[172] Nordjütland, ursprüngliches Siedlungsgebiet der Cimbern

[173] Zapfenstreich

[174] Umstrittener, auch diplomatisch und schriftstellerisch tätiger Feldherr, übernahm am 8.4.1850 den Oberbefehl der schleswig-holsteinischen Armee; stand verbreitet im Ruf der Unentschlossenheit und einer bloß theoretischen Kompetenz; wurde allgemein auch des Versagens in der Schlacht von Idstedt am 25.7.1850 bezichtigt

[175] Am 2.7.1850 unter russischem Druck und britischer Vermittlung geschlossener Frieden zwischen Preußen und Dänemark

[176] Vgl. Anm. 169

[177] Kolloff, Eduard: Paris. Reisehandbuch. Paris 1849

[178] Pfennige

[179] Aufweichung des französischen ll durch einen j-ähnlichen Laut

[180] Kuranttaler

[181] gewährend

[182] Gegründet 1745 in Vincennes, 1751 nach Sèvres verlegt, 1760 in Staatshand übergegangen

[183] Französisch "savoir-faire"

[184] Häufung dicht beieinanderliegender Furunkel

[185] Kuranttaler

[186] Gerstenkorn (Chalazion)

[187] Niederdeutsch Holtschool: öffentliche Versammlung, vor allem in Dithmarschen, zur Unterrichtung über Fragen der Forstnutzung, insbesondere des Schutzes vor Raub

[188] Niederdeutsch Vullmacht: in Dithmarschen Landesbevollmächtigter aus dem Bauernstand für die Landschaftsversammlung, hier also eigentlich die Vullmachtsche, die Frau des Vollmachts

[189] Alter französischer Gesellschaftstanz mit Austausch von kleinen Geschenken

[190] Immermann, Karl Leberecht: Die Ideale. Erstdruck: Deutscher Musenalmanach für das Jahr 1833. Leipzig 1832

[191] Vgl. Anm. 187

[192] Der 6. Sonntag nach Ostern, so genannt nach seinem mit Psalm 27,7 beginnenden Introitus: "Vernimm, o Herr, mein lautes Rufen, sei mir gnädig und erhöre mich!"

[193] Rosenart (hundertblättrige Rose)

[194] Bezogen auf Geistliche: Mittagstisch bei wechselnden mildtätigen Familien der Gemeinde, also gegen geringes Entgelt zur Verfügung gestelltes Mittagessen

[195] Friedrich, Prinz von Schleswig-Holstein-Noer, erhielt 1870 vom preußischen König den Titel des Grafen von Noer

[196] Das Schicksal bindet die Geschäfte der Sterblichen

[197] Gründung der Herrnhuter Brüdergemeine (1732): weithin geschätzte Schule für eine entsprechend fromme Erziehung

[198] Kuranttaler

[199] Kuranttaler

[200] Hasenhaarschneiderei (für die Herstellung von Filzhüten); steht hier für "kleiner Laden, Klitsche"

[201] Lied von Otto Schulze (1823-1884)

[202] Lied von Gustav Knak (1806-1878)

[203] Z.B.: Tägliches Manna. Worte Gottes mit ihrem Widerhall aus dem Herzen gläubiger Sänger. Hamburg 1855

[204] Kotzebue, August von: Die Rosen des Herrn Malesherbes. Verslustspiel (1813)

[205] Castelli, Ignaz Franz (1781-1862): Trostlied für die Kleinen (1816)

[206] Hey, Wilhelm: Fünfzig Fabeln für Kinder. In Bildern, gezeichnet von Otto Speckter. Nebst e. ernsthaften Anhange. Gotha 1833 u.ö. - Noch fünfzig Fabeln. In Bildern, gezeichnet von Otto Speckter. Nebst e. ernsthaften Anhange. Hamburg 1837 u.ö.

[207] Niederdeutsch Graffbeer, Gräffbeer: Leichenschmaus

[208] Vornehmlich dithmarscher Sitte der Brautwerbung, Heiratsvermittlung

[209] Niederdeutsch Kaspelhus, Karkspeelhus: Kirchspielhaus, Pastorenhaus (in Dithmarschen Gemeindeeigentum)

[210] "Drees" aus Groth, Klaus: Quickborn. Volksleben in plattdeutschen      Gedichten dithmarscher Mundart. Hamburg 1853 (Drees ist Groths Freund Andreas Stammer)

[211] Eros

[212] Römerbrief 12, 13

[213] 1. Korintherbrief 13, 13

[214] Jesaja 54, 10

[215] Epheserbrief 2, 5-8

[216] 2. Timotheusbrief 4, 7-8 *

[217] Der beste Mann ist der, der seinen Hoffnungen immer getraut hat, Zweifeln gehört einem schlechten Manne

[218] 1. Korintherbrief 13, 13

[219] 1. Korintherbrief 13, 4-7

[220] Johannes-Evangelium 7, 38