Realität im Rollenspiel

von Peter Nomigkeit

 

Viele, die an Liverollenspielen teilgenommen haben, werden festgestellt haben, daß sie dabei Erfahrungen gemacht haben, welche sie ihr Verhalten am herkömmlichen Tischrollenspiel überdenken läßt. Sobald man erlebt hat, wie sich ein Kettenhemd wirklich anfühlt, wieviel Verwirrung ein einzelner Ork bereits stiften kann oder wie die Durchquerung eines Waldstückes bei Nacht zum Abenteuer wird, wird man nicht mehr so bereitwillig "in Rüstung schlafen", "den Ork mit links totwürfeln" oder "dem Irrlicht hinterherstürmen".

Wird einerseits das Tischrollenspiel realistischer, so gehen einige Spieler das Liverollenspiel mit den Einstellungen eines Würflers an, der im heimischen Wohnzimmer sitzt, und verkennen dabei, daß es gerade beim rollenspielerischen Verhalten auf andere Dinge ankommt als gewohnt.

 

Einer dieser Punkte ist der Verlust an Information.

Sitzt man in einer AD&D-(Rolemaster, Midgard etc.)-Runde, bekommt man gewöhnlich all das mit, was die anderen Gruppenmitglieder anstellen, auch wenn man gerade auf dem Markt einkauft, während der Zauberer in der Gilde nachforscht und der Zwerg mit dem Schmied diskutiert. Der Meister spielt jeden NSC und wird mit einzelnen Spielern nur selten unter vier Augen reden. Treffen sich die Papierhelden am Abend in der Taverne wieder, genügt oft der Hinweis "Ich erzähle den anderen, was ich beim Schmied / in der Gilde erfahren habe," da die Spieler es ja mit angehört haben und die Charaktere nun auch informiert sein sollen.

Beim Liverollenspiel ist das erschreckend anders, da man weder als Spieler noch als Charakter darüber bescheid weiß, was die anderen Leute nun wirklich gemacht haben, während man selber mit Dingen beschäftigt war, über die nur diejenigen etwas wissen, die halt dabei waren. So entstehen mit der Zeit immer mehr Bruchstücke an Information. Durch Unwissenheit, Gerüchte und Halbwahrheiten kann schließlich sogar der Plot in den Augen der Spieler verzerrt werden - oder unsichtbar bleiben.

Es wäre müßig, darauf hinzuweisen, daß gerade hier ein enormes Betätigungspotential für gutes Rollenspiel liegt, wenn einer derartigen Tendenz entgegengewirkt werden soll. Wer sich mit niemandem unterhält, wird auch nichts erfahren. Daneben entsteht ohnehin die Schwierigkeit, daß unter vielen Charakteren ein erhebliches Mißtrauen besteht, welche einem Informationsaustausch entgegensteht. Um die Sache auf die Spitze zu treiben, erwies sich dieses Mißtrauen in manchen Fällen sogar als berechtigt, und jemand, der verdächtig erschien, war (natürlich nur als Charakter) tatsächlich nicht vertrauenswürdig.

Andererseits geht ein Teil der Spieler an wertvollen Informationsquellen vorbei und beschwert sich hinterher auch noch, es sei zu wenig Nebenhandlung da gewesen.

Zum Beispiel gab es während der Belagerung der Burg Kirson eine Zigeunerin und einen Barden, die mancherlei zu berichten gewußt hätten, wenn...ja, wenn man sie nur gefragt hätte.

Gerade diese beiden Charakterklassen sind mehr als typisch für Informationsverteilung. Die einzige Steigerung bestünde darin, jemanden mit einem Schild "Ich bin NSC - ich weiß was!" herumzuschicken.

Um die Zigeunerin hat sich niemand gekümmert, und hätte der Barde nicht begonnen, laut und falsch auf der Laute herumzuzupfen, wäre auch ihm kein müder Blick zuteil geworden. Daß ein Barde, der schon nicht musizieren kann ("Aufhören!" war immerhin eine Reaktion der Spieler), vielleicht aber etwas zu erzählen hat - darauf ist keiner gekommen, auch nicht in den vier Stunden, in denen er abends in der Taverne war. Bei den über hundert Jahren (Tisch-) Rollenspielerfahrung, die sich dort geballt hat, ein allzu schwaches Bild.

Ich bin sicher, in der oben genannten AD&D-Runde wäre jeder auf ihn zugestürzt: "Ihr seid Barde? Woher kommt Ihr? Was führt Euch hierher? Was gibt es Neues im Lande?"

 

Das führt unsere Betrachtung zum zweiten Punkt, dem der Auswahl.

Wie im ´normalen´ Leben muß man sich auch im Liverollenspiel ständig entscheiden, ohne sämtliche Hintergrundinformationen zu haben, also aufgrund seines Wissens und seiner Meinung eine Auswahl zwischen mehreren Möglichkeiten treffen. Sind die Nebenhandlungen ordentlich aufgebaut, kann man als Spieler nicht leicht unterscheiden, wohin es geht oder ob man gar einen Aspekt der Haupthandlung entdeckt hat.

Es ist aber klar, daß die richtige Auswahl entscheidend sein kann, wenn es um die Lösung von Aufgaben, Rätseln, Problemen aller Art geht. Um dies zu erleichtern, setzen wir ja bestimmte Gestalten ein, damit jene Aufgaben grundsätzlich lösbar sind. Durch die Anzahl der "Halb-NSC", die ihre Unterstützung für beschränkte Zeit anbieten, kann ohnehin im Prinzip jeder eine relevante Information auf Lager haben.

Auch hier ist wieder rollenspielerisches Verhalten gefordert; schließlich geht es um "Live-Rollen-Spiel" und nicht um "Live-Action-Slay-the-Ork".

 

Ein weiteres Extrem neben den informationslosen Spielern sind jedoch die ergebnisorientierten Spieler. Sie sind unglaublich effektiv, wenn es darum geht, ein Ziel zu erreichen, rein rollenspielerisch aber unergiebig (welch eine höfliche Umschreibung). Man trifft sie gleichermaßen am Tisch und im Walde an. Um sie zu beschreiben, am besten ein Beispiel; einen fiktiven, aber typischen Dialog:

 

(Grundsituation: Drei Charaktere haben von einer naheliegenden Schatzhöhle gehört und begegnen einem NSC)

Spieler 1: "Guten Tag. Wo ist die Höhle?"

NSC: "Ich grüße Euch. Was für ein schönes Wetter heute. Da sag´ ich doch zu mir..."

Spieler 2 (ungeduldig): "Hast Du nicht gehört? Wir suchen eine Höhle!"

NSC: "Warum das denn? Ist das nicht gefährlich? Meine Mutter sagte immer..."

Spieler 3 (zu Spieler 1): "Hat er Geld dabei?"

Spieler 1 (zum NSC): "Hast Du Geld dabei?"

NSC: "Nein, ich bin ein armer Wanderer. Habt ihr denn Geld dabei?"

Spieler 2: "Weißt Du jetzt was von der Höhle?"

NSC: "Von welcher Höhle?"

Spieler 1 (zu Spieler 3): "Vielleicht hat er doch Geld dabei. Los, bringen wir ihn um."

Spieler 3 (zu Spieler 1): "Der Kerl weiß nichts."

Spieler 1: "Na eben!"

Spieler 2: "Kannst Du uns sonst noch was sagen?"

NSC (sieht sich unsicher um): "Was wollt ihr eigentlich von mir? Ich komme aus Ghand, bin drei Tage gereist..." (versucht verzweifelt, Informationen rüberzubringen) "...und jetzt habe ich mich hier im Wald verirrt. Könnt ihr mir sagen, wo es hier zum Fluß geht?"

Spieler 1: "Jetzt reicht´s."

(Sie erschlagen ihn. Die Durchsuchung erbringt drei Kupfermünzen und ein Amulett.)

Spieler 3: "Aha, ein Amulett. Könnt ihr was damit anfangen?"

Spieler 1 und Spieler 2: "Nein."

Spieler 3: "Vielleicht ist es magisch. Hm. Am besten fragen wir jemanden."

(Ein NSC kommt vorbei.)

Spieler 1: "Guten Tag. Was wißt Ihr über dieses Amulett?"

...

Es sollte bei diesem zugegebenerweise platten Beispiel - das ich selber allerdings am Tisch schon in ähnlicher Form erlebt habe - klar geworden sein, um was es geht. Einerseits sind NSC kein Freiwild (auch wenn es sich oft um Charaktere handelt, die nur einmal gespielt werden), andererseits ist das sture Streben nach dem gerade scheinbar wichtigen Ziel nicht das, was gutes Rollenspiel ausmacht. Auch wenn es ein Spiel ist, liegt der "Gewinn" eben nicht im "gewinnen", sondern im Spiel selber. Und daß nicht immer der direkte Weg zum Ziel führt, kann man schon in Märchen nachlesen.

Natürlich bist Du mit diesem Artikel nicht gemeint - Dir ist ein schöner Dialog wichtiger, und gutes Rollenspiel geht Dir ja ohnehin über alles. Klar.

 

Oder bist Du der Meinung, die drei hätten ja bloß ihre Rollen ausgespielt?

Damit kämen wir in den Bereich eines anderen Extrems, für das mir keine höfliche Umschreibung einfällt. Kurz gesagt, geht es um Spieler, die ihre Rolle dazu verwenden, negative Charaktereigenschaften auszuleben. Oder so zu tun. Psychologen hätten hier ihre helle Freude. Nicht nur mir ist immer wieder aufgefallen, wie wenig manchen das Leben eines anderen Charakters wert ist (siehe oben, ebenfalls: unnötige Todesstöße etc.), und wie sich einige bereits in der Charakterbeschreibung bei der Anmeldung als arroganter oder roher Gewaltmensch darstellen, den sie dann auch "toll" verkörpern. [Über den Trend zu Übercharakteren mit allerlei Superfähigkeiten und -artefakten möchte ich an dieser Stelle nichts mehr sagen (höchstens: spielt doch das Marvel Hero System, wenn ihr mit Extra-Trefferpunkten, magischer Rüstung und der Fähigkeit der Gestaltwandlung ausgestattet sein wollt!)]

Sicher, es handelt sich hierbei um Ausnahmen. Nur habe ich die Phrase "Ich habe doch nur meine Rolle gespielt" zu oft gehört, wobei es mir bisweilen als universelle Rechtfertigung für jede Schandtat vorkommt.

Als Spieler sollte man überdenken, ob eine Charakterdarstellung, die sich auf Kosten anderer profiliert, erstrebenswert ist. Gerade ein Neuling (und, das wollen wir nicht ganz außer acht lassen, auch die Öffentlichkeit) kann durch derartiges Verhalten abgeschreckt werden.

Liverollenspiel, so wie ich es verstehe, soll allen Beteiligten Spaß machen. Das kann aber nur funktionieren, wenn sich jeder ein wenig selbst beobachtet und anderen durch sein Verhalten nicht zu sehr auf die Füße tritt.

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