Die Kängurugeschichte

Es war einmal ein Känguru, das wohnte unter einem australischen Eukalyptusbaum. Viele Jahre lang. Es fraß Gras. Es lag in der Sonne. Es spielte mit seinen Geschwistern. Ab und zu machte es einen kleinen Ausflug. Aber es kehrte immer wieder zu seinem Schlafbaum zurück. Eigentlich war es recht zufrieden. Bis eines Tages eine Elster vorbeikam. "Was liegst du hier herum? Weißt du nicht, wie schön die Welt ist?" sagte die Elster. "Du solltest dich ein bisschen umsehen!" Vielleicht hat sie recht, dachte das Känguru. Ich hab' wirklich noch nicht viel von der Welt gesehen. Am nächsten Morgen band es sich eine rot-weiß getupfte Halsschleife um und fuhr mit dem Zug in die Stadt. Das dauerte die ganze Nacht, denn die nächste Stadt hieß Adelaide und war viele Stunden von dem Eukalyptusbaum entfernt. Am nächsten Morgen ging das Känguru in den Zoo, um Verwandte zu besuchen, von denen es ab und zu eine Postkarte bekommen hatte. Aber dort war es längst nicht so schön, wie es gedacht hatte. "Du kannst hier bleiben!" sagte der Wärter. "Dann wirst du täglich gefüttert!" Doch das wollte das Känguru nicht. "Ich will mich nicht füttern lassen. Ich will mich selbst ernähren", sagte das Känguru. "Das ist gar nicht so einfach in einer Stadt. Da braucht man Geld. Und um Geld zu bekommen, muss man arbeiten."  
"Und wie finde ich Arbeit?" erkundigte sich das Känguru. "Du gehst am besten zum Arbeitsamt", sagte der Schimpanse. Das Känguru ging zum Arbeitsamt. "Mit dieser wunderbaren Tasche eignest du dich gut als Fensterputzer!" sagte der Mann am Arbeitsamt. So bekam das Känguru einen Schwamm, einen Scheibenwischer, einen Eimer, eine Leiter und einen Job als Fensterputzer. Aber bald wollte es nicht länger mit einem nassen Schwamm und einem Scheibenwischer in der Tasche herumlaufen. Außerdem kletterte es ungern auf eine wackelige Leiter. Und seine Arme waren viel zu kurz und zu schwach für die anstrengende Arbeit. "Geh zum Zirkus! Dort ist es lustig!" rief eine Giraffe, die Fenster im ersten Stock putzte. Ihr Hals war so lang, dass sie dafür nicht einmal eine Leiter brauchte. "Der Zirkus auf der großen Wiese, gleich hinter den hohen Häusern." "Keine schlechte Idee!" brummte das Känguru. Es packte Schwamm und Scheibenwischer in den Eimer und stellte ihn neben die Leiter an die Wand. Dann hüpfte es zur Zirkuswiese. "Mit deiner wunderbaren Tasche eignest du dich gut als Balljunge!" sagte der Jongleur. So half das Känguru die Bälle aufzusammeln, die dem Jongleur beim Üben herunterfielen. Das Leben im Zirkus machte dem Känguru Spaß.

 
"Wir sind mit der Arbeit fertig. Ruh dich aus und fahr heute ein paar Stunden zum Baden ans Meer!" sagte der Jongleur. "Du kannst mein Fahrrad benutzen." Keine schlechte Idee! dachte das Känguru und fuhr ans Meer. Der Weg zum Meer war weiter, als es gedacht hatte. Und es traf andere Kängurus und spielte mit ihnen Pingpong und Burgenbauen. Es gefiel ihm so gut, dass es ein paar Tage blieb. Als es wieder nach Hause radeln wollte, war das Fahrrad weg. Ich hätte besser aufpassen müssen! dachte das Känguru. Es lief zu Fuß zur Stadt zurück. Als es wieder zur Zirkuswiese kam, war der Zirkus weitergezogen. Da war das Känguru sehr traurig. Betrübt hockte es sich auf eine Bank im Park.
 
Ein Parkwächter kam vorbei. "Suchst du vielleicht Arbeit?" erkundigte er sich. "Schon. Wenn du eine Idee hast, was ich tun kann?" "Mit deiner wunderbaren Tasche eignest du dich gut dafür, Papier aufzusammeln!" sagte der Parkwächter. Er gab dem Känguru seinen Stock und zeigte ihm, wie man damit Papierstückchen aufpickte. Außerdem sollte es Papierkörbe leeren und Abfall aufsammeln. Bald tat ihm der Rücken weh vom vielen Bücken. Denn viele unordentliche Leute hatten ihre Dosen und Pappteller auf die Wiese geworfen. Es ließ sich seinen Tageslohn geben und ging in die Innenstadt. Es bummelte ein wenig durch die Fußgängerzone und sah sich Schaufenster an. Was war das für ein Gedrängel! Kein Mensch achtete auf das Känguru, obwohl es doch eine so hübsche rot-weiß-getupfte Halsschleife hatte. Alle Leute dachten nur an sich und ihre Besorgungen. Auf einmal fühlte sich das Känguru ganz einsam, obwohl es von tausend Leuten umgeben war. Aus den Lokalen roch es nach Abendessen. Das Känguru bekam Hunger und Heimweh. Es wollte nach Hause. Aber erst will ich für mein Geld leckere Sachen einkaufen und soviel nach Hause tragen wie ich kann! Dann werde ich meine Familie und meine Freunde zu einem großen Festessen einladen, überlegte das Känguru.
Es ging in den Supermarkt. Neugierig schlenderte es durch die Regalreihen. Was es da nicht alles gab! Es fand Kekse für Papa, Mohren für Mama, Schokolade für die Geschwister. Es fand Obst und Gemüse für alle Freunde, an die es sich plötzlich erinnerte. Als das Känguru an der Kasse bezahlte, hatte es viel mehr gekauft, als es eigentlich wollte. Der Beutel war voll, aber der Geldbeutel war leer. Kein Pfennig war übriggeblieben. Als es zum Bahnhof kam, konnte es sich keine Fahrkarte kaufen. Da musste es den Rückweg zu Fuß antreten. Unterwegs bekam das Känguru Hunger. Es knabberte am Obst und an den Mohren. Es aß die Schokolade und die Kekse. Probierte hier ein bisschen, da ein bisschen. Schließlich aß es auch noch den Rest. Nach ein paar Tagen kam das Känguru genauso wieder nach Hause, wie es weggegangen war: mit leerem Beutel. "Hier ist die Geschichte aus", sagte die Maus. "Und das Känguru ist zu Haus", sagte die Katze und leckte die Tatze. "Aber ganz so arm, wie es weggegangen ist, kam es nicht nach Hause!" "Wie meinst du das?" erkundigte sich die Maus. "Es war um viele Erfahrungen reicher!" "Das hab' ich mir gar nicht überlegt", sagte die Maus. "Wie außerordentlich klug du bist!" "Danke", sagte die Katze. "Das ist mir nur so nebenbei eingefallen."

"Es macht wirklich Spaß, einem gescheiten Tier wie dir Geschichten zu erzählen", sagte die Maus. "Hast du schon mal ein echtes Känguru gesehen?" "Natürlich", sagte die Katze. "Warst du in Australien?" "Nein, im Zoo", sagte die Katze. "Kann ein Känguru wirklich so große Sprünge machen, wie man sich erzählt?" wollte die Maus wissen. "Nun, es springt nicht so elegant, wie unsereiner", sagte die Katze. "Aber doch ganz beachtlich." "Ich denke, jetzt ist wieder ein kleines Tier an der Reihe", sagte die Maus. "Wünsch dir was." "Meinetwegen", sagte die Katze und legte sich auf die Matratze. Sie kniff die Augen zusammen, dass man nur noch ganz kleine Schlitze sehen konnte, und sagte: "Kennst du eine Geschichte, von einem kleinen Tier, das noch schneller ist als ein Känguru?" "Kleinigkeit", sagte die Maus. "Zum Beispiel eine Laus!" Und dann erzählte sie die Geschichte von der schnellen Hinterhauslaus.



© Ursel Scheffler "Geschichten von der Maus für die Katz", Herder, ISBN 3-451-22667-7