Es ist nicht ordentlich das Leben,
doch was immer Dein Bestreben,
es so ordentlich zu machen,
wie mancher seine 7 Sachen,
ist vergebens,
es scheitert doch zeit Lebens,
an der Unordnung des Lebens
(H.Knef)

Rückblickend kann sicher so mancher Leser sein bisheriges Leben mit der Feststellung von Hildegard Knef überschreiben. Da ist es wichtig einen klaren Kopf zu haben zum ordnen - einen Neuanfang zu wagen.
Schon sehr früh in der Pubertät war ich mit der Tatsache konfrontiert anders zu sein - ein Leben ohne klassische, gelebte Vorbilder lag vor mir und verlangte danach mit meiner Handschrift geschrieben werden.
Das Landei vom Niederrhein, aufgewachsen mit sehr traditionellen Familienbildern, durfte nun nicht nur zu Ostern ein anderes, buntes Leben gestalten. Vorbilder für eine selbstbewuste schwule Identität waren weit und breit keine in Sicht und so vergrub ich mich in einschlägige Literatur, die mir das Gefühl suggerierte nicht ganz allein mit diesem Anderssein leben zu müssen.
Anfang 20 war ich, als ich zum Studium in eine nordwestdeutsche Studentenstadt ging. Hier fand ich in schwulen Basisgruppen der damaligen Emanzipationsbewegung andere Männer mit ihren ganz individuellen Lebens- und Beziehungsmodellen.. Auch wenn die Szene in der Westfalenmetropole eher klein war - das Neuland reizte mich ungemein und ich eiferte danach alle Facetten dieser Subkultur kennenzulernen. In Süddeutschland lernte ich, nach einigen kürzeren Beziehungen, während eines Praktikums meine große Liebe kennen. Ähnlich gestrickt war er, ein unerfahrener Dörfler und Sozi-Fuzzi (Pädagoge), wie ich noch einer werden wollte - eben genau das Schloß nach dem mein Gefühl verlangte .
Im Anschluß an mein Studium zogen wir nach Köln in unsere erste gemeinsame Wohnung. Jeder von uns hatte seinen Job in der Arbeit mit Mehrfachbehinderten und wir lebten unseren Traum von der Rama-Familie nur eben andersrum. Die Urlaube mußten in ihrer Vielzahl dem größer-, schneller-, weiter-Prinzip entsprechen, das auch sonst recht typisch für unser damaliges Leben war. zu Weihnachten erreichte die Christbaumspitze regelmäßig die Decke unserer 3,50m hohen Wohnung und der Geschenkeberg vor dem Baum konnte nicht hoch genug gestapelt sein. Eine hübsche Kopie von urbaner Mittelstandsfamilie, eben nur ohne Kids und Trauschein. Mitten hinein in dieses Sahnetortendasein prallte schließlich, ich hatte die 30 gerade um 1 Jahr überschritten, eine geplatzte Ader in meinem Kopf. Ein weiterer Beweis für das Prinzip von der Unordnung des Lebens. Meinen selbst gebastelten Lenkdrachen mit einer riesigen Spannweite hatte ich damals gerade ausprobiert, als der stürmische Wind mich über die Rheinwiese zerrte. Kaum halten konnte ich dieses Ungetüm, doch diesem niederrheinischen Dickschädel kam es auch nicht in den Sinn abzubrechen. Der unerbittliche Kampf gegen die Naturgewalt der Lüfte nahm seinen Lauf. Ein stark stechender Schmerz in der rechten Schläfengegend steigerte sich innerhalb kurzer Zeit unermeßlich. Einpacken mußten wir und mein Freund Matthias fuhr mich zurück in unsere Wohnung im Kölner Westen. Dort angekommen rief er den Notarzt, der mich auch gleich mitnahm in die nächste Klinik. Kurz darauf verlor ich mein Bewustsein - konnte dem Arzt aber zuvor noch sagen, daß Matthias mein Lebenspartner ist und Ansprechpartner für alle notwendigen Behandlungen. In der Beziehung zu meinem Partner wurde wirklich nichts ausgelassen und so hatten wir den eventuellen Notfall bereits ausgiebig diskutiert.
Erst Tage später kamen die ersten Bilder und kurze Episoden realer Wahrnehmung zurück. Eine starke intracerebrale Hirnblutung, unbekannter Ursache, im rechten Temporallappen des Hirns hatte mich lahmgelegt. Nach Schädelöffnung wurde die Ader geklippt - moderne Klemptnerei, wie ich die Neurochirurgie auch gerne mal bezeichne. Als ich wieder aufwachte nahm ich meine linke Körperhälfte kaum war und hatte weder zu mir noch zu dem Geschehenen reale Einschätzungen. Kurz nach der Hirn-OP lief ich ziemlich über der Spur und war ein recht schwieriger Patient, der unterschwellig aggressiv und fordernd allem gegenüber auftrat, wobwei ich wahrnehmungstechnisch oft daneben lag. Kein Wunder war das, denn ich hatte eine schwache linksseitige Lähnmung, eine komplette beidseitige Sehfeldeinschränkung, sowie starke Defizite im Kurzzeitgedächtnis. Ein halbes Jahr nach der Operation kamen schließlich epileptische Krampfattacken hinzu, die Körpergefühl und Psyche vollständig in den Keller katapultierten. Als Pädagoge im Behindertenbereich hatte ich mitunter ein Selbstbild entwickelt irgendwie alles händeln zu können.
Eine Einschätzung, in der Defizite, zumal solche bleibender Natur, keinen Platz hatten. Meine Erziehung war vom Vertrauen und der Erwartung getragen "mit dem nötigen Willen geht alles ".
Anfänglich blendete ich meine Einschränkungen deshalb auch konsequent aus. Defizite sind neue Rahmenbedingungen, die irgendwann zur Normalität reifen werden. Die Anpassung daran dauert seine Zeit, ist aber machbar.
Der Wolfgang von damals ist mit dem Ereignis vor 12 Jahren auf der Rheinwiese ein in vielerlei Hinsicht anderer geworden. Nach einer langen Zeit der Trauer bei mir und meinem Partner wuchs mit der schwer erkämpften Feststellung "ja, es ist so!!!!!!!!!!!!" unsere neue Normalität heran.
Wie jedes einschneidende Ereignis, hat auch uns dieser Schicksalschlag verändert. Gleichzeitig sind viele Teile unserer Persönlichkeit unfreiwillig schnell gereift, aber nicht zertrümmert.
Matthias ich danke Dir dafür, daß unsere langjährige Beziehung auch diese Probe bestanden hat, so daß wir beide heute dazu in der Lage sind einen Teil von dem Gewonnenen mit anderen Betroffenen und Angehörigen solidarisch und hoffnungsvoll zu teilen. Für mich resultierte daraus die Gründung einer Selbsthilfegemeinschaft für Betroffene, Angehörige und Interessierte, die ich weiterhin begleite.
Viele Freundschaften und Beziehungen Hirnverletzter brechen über die Erkrankung auseinander, da der alte Mensch nicht mehr erkannt wird und der neu Gewordene als zu schwierig, komisch erachtet wird. Weit verbreitet ist der Anspruch:" Bleibe wer Du bist und erfülle die an Dich gestellten Erwartungen". In unserer modernen, technisierten Gesellschaft ist es weniger der Mensch der zählt, als vielmehr seine Anpassungsmöglichkeiten bei Arbeitskapazität, Spaß- und Unterhaltungsfaktor. "The show must go on".
Dir lieber Matthias waren "Mainstream" und und der "Run" auf jede sich bietende Fortbildung schon immer ein Graus. Im Herzen bist Du das Blumenkind von damals geblieben, dem die Gänseblümchenwiese ebenso wichtig ist, wie der Rosengarten. Beides hegst und pflegst Du gleichermaßen sorgsam. So wie Du Acht gibst auf jedes Pflänzchen, das am Wegrand steht, lebst Du Beziehungen zu Deinen Mitmenschen.
Nach fast 20 gemeinsamen Jahren in unserem Entwurf von Familie begegnen wir uns täglich in dem tragenden Gefühl: Danke!