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Der Prägehammer der Literatur - Zum 200. Geburtstag von Honoré de Balzac

Bescheiden war er nicht. Richard Wagners Ausspruch und Anspruch "Die Welt ist mir schuldig, was ich brauche" hätte zu ihm gepaßt. Mit dem deutschen Komponisten verband den französischen Schriftsteller Honoré de Balzac auch das Verlangen nach Luxus und Annehmlichkeiten aller Art. Allerdings fand Balzac niemals einen Gönner, der ihm all das verschafft hätte. Was er mit vollen Händen ausgab, hatte er vorher mit ebendiesen Händen erschrieben ­ bis zum Schreibkrampf.

"Niemand ahnt, was es heißt, Tinte in Gold verwandeln zu müssen", schrieb er einmal an seine ferne Geliebte Eveline de Hanska. "Ich lebe in Furcht und Zittern, daß ich vor Ermüdung zusammenbrechen könnte, bevor ich mein Werk aufgebaut habe." Und weiter: "Bei mir muß die Gabe zu schreiben gleichen Schritt mit meinen Zahlungsterminen halten. Aus Stahl müßte ich sein, wie der Prägehammer der Münze, und immerzu prägen, prägen!"

Balzac, der Prägehammer, produzierte tatsächlich Kunstwerke im Rhythmus des Akkordarbeiters. Um die Bücher zu schreiben, die er schon verkauft und für die er schon kassiert hatte, saß er Nacht für Nacht in seiner Arbeitsklause, in eine Mönchskutte gehüllt, vor sich Krähenfedern (niemals Gans!) und Tintenfaß, daneben die Kaffeekanne. Bis zu 50 Tassen trank er in einer Nachtsitzung, eine starke Mischung aus dreierlei Bohnen, die er in drei verschiedenen Geschäften besorgte.

Am nächsten Morgen nahm er ein ausgiebiges Bad, und dann "erholte er sich von der einen Arbeit bei der anderen": Es trafen die Boten von der Druckerei ein mit den Druckfahnen bereits gesetzter Balzac-Seiten. Zur Korrektur. Aber was heißt Korrektur? Wie ein Berserker machte sich der Autor über seinen Text her, als sei es das Produkt eines unfähigen Anfängers, schaufelte neue Sätze zwischen die Zeilen, stellte Wörter und Absätze um, verteilte Ergänzugen, strich und erweiterte, bis das Blatt dem sinnlosen Wirrwarr eines Verrückten glich. Nur wenige Setzer waren in der Lage, mit dieser "Korrektur" umzugehen, und sie bekamen doppelten Stundenlohn.

Drei-, fünf-, ja siebenmal ging eine Seite Balzac durch dieses Fegefeuer, bis sie zum Druck freigegeben wurde. Auf diese Weise hat der Autor jeden Roman mehrfach geschrieben. Die Klein- und Feinarbeit galt einem großen Ziel. "Ich werde eine ganze Welt im meinem Kopf getragen haben", sagte Balzac. Nun, das sagt sich so ­ hat nicht jeder Autor seine Welt im Kopf und trachtet, sie aufs Papier zu bringen? Balzac aber war angetreten, die seine mit der "realexistierenden" in Konkurrenz treten zu lassen. Alles sollte in die "Menschliche Komödie", sein großes Romanprojekt, Eingang finden. 131 Einzelwerke wären es geworden, wenn er länger gelebt hätte, 90 hat er vollenden können. 2472 Personen bevölkern dieses Universum, wie ein eifriger französischer Forscher ausgezählt hat, Pariser und Provinzler, Bürger und Bauern, Beamte und Militärs, Adlige und Bettler, Geistliche und Verbrecher, Huren und Künstler.

Mit anderen Autoren maß er sich nicht; nur einen sah er als ebenbürtig an: den gestürzten Kaiser der Franzosen. "Was er mit dem Schwert nicht erreicht hat, ich werde es mit der Feder vollenden", hatte er auf ein Stück Papier geschrieben und an seine Napoleon-Büste geheftet. Und er hat es eingelöst, auf seine Weise. Die Feldzüge des Korsen stürzten Europa in Aufruhr, aber seine Armee ging verloren, sein Reich in Stücken. Balzacs Welt aber hat überlebt. Sie ist immer noch höchst lebendig, und wer heute "realistisch" schreibt, befindet sich, ob er es weiß oder nicht, in seinem Fahrwasser. Balzac betrieb Literatur wie eine Kampfsportart. Er wollte sie zwingen und unterwerfen, die Welt ­ sowohl die, die in ihm drin war und herauswollte als auch die andere, die äußere, feindliche. Sie sollte ihm huldigen, sie sollte ihn lesen, sie sollte ihn reich machen. Stattdessen zwickte sie ihn mit Zahlungsterminen, geplatzten Wechseln und aufdringlichen Gläubigern.

Kampfartig, antagonistisch ist auch die Konstellation in vielen Romanen. Da ist ein junger Mann aus der Provinz, der nach oben will; dazu muß er die Platzhirsche wegbeißen, die Konkurrenz verscheuchen und die richtigen Gönner finden, vor allem: Gönnerinnen. Am Schluß ist er oben, oder er ist abgestürzt; aber auch wenn er es geschafft hat, ist er nicht mehr derselbe: Die Gesellschaft, die er erobert hat, hat ihn korrumpiert. Deshalb ist auch der Moment des Aufbruchs bei Balzac immer der schönste: Da sind die Illusionen noch nicht verloren.

Unvergeßlich etwa die Szene auf dem Friedhof Père-Lachaise, als Rastignac, einer dieser jungen Männer, er hat gerade einen herzensguten, von seinen Töchtern gräßlich ausgeplünderten alten Mann begraben, die Gesellschaft zum Duell fordert ("Vater Goriot"): "Rastignac blieb allein; er ging ein paar Schritte zu der Anhöhe des Friedhofes hinauf und schaute auf Paris; gewunden lag es längs der beiden Seinearme da, in denen sich die Lichter zu spiegeln begannen. Seine Augen blickten fast gierig nach dem Raum zwischen der Säule auf der Place Vendôme und der Kuppel des Invalidendoms, wo die schöne Welt lebte, in die er hatte eindringen wollen. Er warf auf diesen wimmelnden, summenden Bienenstock einen Blick, der schon im voraus all seinen Honig aufzusaugen schien, und sprach die grandiosen Worte: ,Und jetzt zu uns beiden!'"

"A nous deux maintenant": Das war auch Balzacs Schlachtruf. Er war und blieb selbst einer dieser jungen Männer, die von schnellem Reichtum träumten, es den vielen Glücksrittern nachmachen wollten, die Revolution, Kriege und Umwälzungen nach oben gespült hatten. Balzac hatte eine unglückliche Liebe zu Spekulationen und riskanten Wirtschaftsoperationen, aus der richtigen Einschätzung heraus, daß ein "Schreib-Sklave", selbst mit seiner übermenschlichen Arbeitsleistung, nie zu wirklichem Reichtum gelangen werde. Aber alle seine Versuche als Unternehmer endeten mit Bankrott und neuen Schulden: als Verleger, Drucker und Zeitungsherausgeber ist Balzac ebenso gescheitert wie mit seinen Plänen, eine Silbermine auf Sardinien auszubeuten oder Ananas in Sèvres zu kultuvieren.

Wertschöpfung gelang ihm nur in der Literatur. Und, vielleicht, in der Liebe. Denn seine Liaison mit der polnisch-ukrainischen Gräfin Eveline de Hanska, mit dem geheimnisvollen Brief einer "Fremden" begonnen und jahrelang über Tausende von Kilometern Entfernung hinweg fortgeführt, kann man auch als verrückte Spekulation betrachten. Balzac, ein unverbesserlicher Monarchist, träumte davon, die Gräfin zu heiraten (sein eigenes Adels-de war selbstgebastelt) und ächzte unter der selbstgestellten, wie besessen verfolgten Aufgabe, ihr eine "standesgemäße Umgebung" zu verschaffen.

Damit ruinierte er seine prekären Finanzen endgültig ­ und durch die noch gesteigerte nächtliche Fronarbeit auch seine Gesundheit. Er kaufte ein Haus in der Rue Fortun´ee (ausgerechnet) und möblierte es mit kostbaren Teppichen, Kunstwerken und Antiquitäten (meist falschen, die er für echt hielt). Er reiste mehrfach in die Ukraine, zuletzt im Jahre 1850, bereits schwerkrank. Da heiratete ihn seine Eveline endlich und folgte ihm nach Paris. Wenige Wochen darauf war Balzac tot. Seine Schulden haben ihn überlebt; seine Witwe brauchte Jahre, um alle Gläubiger zu befriedigen.

Geld war die Obsession dieses Lebens. Es wurde auch zur Obsession des Werkes. Denn bei Balzac ist, was auch immer er beschreibt, wen immer er auftreten läßt, gewissermaßen das Preisschild dran. Er stellt uns niemanden vor, ohne seine Einkommensverhältnisse en détail aufzuführen: soundsoviel Grundbesitz, Renten, Hypotheken. Der Liebhaber sorgt sich beim ersten Rendezvous, wie er die Droschke bezahlen soll, die die Geliebte heimbringt; der arme Schriftsteller zählt die Sous für Brot und Kerzenlicht; der Vater prellt den Sohn um das Erbe.

Geld ist in der nachrevolutionären Welt, die Balzac beschreibt, der einzige Gott, die einzige Universalie, auch die einzige Moral. Es verwandelt die Menschen: unschuldige Mädchen in Huren, Künstler in korrupte Journalisten, Besitzer in Geizige und Besitzlose in Verbrecher. "Raubmorde auf der Landstraße", hat Balzac einmal geschrieben, "erscheinen mir als karitative Akte verglichen mit manchen Finanztransaktionen." Das hat Brecht nicht schärfer formuliert.

Balzacs Romanwelt ist von kalter Amoralität, und sie ist hochaktuell. Die Umwälzungen, die er in der Bereicherungsgesellschaft der französischen Juli-Monarchie beobachte, waren eine Globalisierung im Kleinen. Jetzt haben wir sie im Weltmaßstab ­ nur den Romancier, der sie uns erzählt, den haben wir nicht. Einer wie Balzac ist nie wieder gekommen.

Martin Ebel

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