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Manisch produktiv

Frankreich versteht es, das Gedenken an seine geistigen Heroen angemessen, nämlich mit viel nationalem Pomp zu begehen. Das wichtigste historische Datum des Landes war die Große Revolution von 1789, die ihrerseits durch die Aktivitäten von Philosophen und Literaten vorbereitet wurde, und also weiß man einigermaßen genau, was man seinen Schriftstellern schuldet, und man dokumentiert es mit dem entsprechenden Aufwand. Einige Autoren wurden im Panthéon beigesetzt, der großen nationalen Begräbnisstätte für die bedeutendsten geschichtlichen Figuren. Die meisten anderen liegen auf den beiden wichtigen Friedhöfen der Hauptstadt, dem Père-Lachaise und dem Montparasse.

Derart bleiben auch jenseits runder Erinnerungstage ihr Geist und ihre Spuren auffindbar, im Fall des Schriftstellers Honoré de Balzacs etwa durch das Museum, in das man eines seiner Wohnhäuser verwandelte, und wer das Musée d'Orsay auf dem linken Seine-Ufer betritt, jene große Sammlung Bildender Kunst des 19. Jahrhunderts, trifft bald, inmitten der Plastiken August Rodins, auf die riesige Porträtfigur des Dichters, die im durchaus wörtlichen Sinne das Bild beherrscht. Bereits im vergangenen Jahr, da man Balzacs 200. Geburtstag beging, lief jener sehr aufwendige Fernsehfilm, in dem Gérard Depardieu den Dichter darstellte.

Deutschland hat an den 150. Todestag Balzacs Ende vergangener Woche kaum erinnert. Selbst überregionale Blätter mit sehr ausführlichem Feuilleton übergingen ihn, beim 150. Geburtstag des nicht ganz so bedeutenden Guy de Maupassant geschah das noch ein wenig anders. Dabei wird Balzac selbst im deutschen Sprachraum entschieden mehr gelesen als Maupassant; einer unserer Verlage, Diogenes in Zürich, hat eine sorgfältige Gesamtausgabe ediert; sie trat die Nachfolge jener bibliophilen, in rotes Leder gebundenen Ausgabe an, die der alte Ernst Rowohlt verlegte, mit der berühmt gewordenen Begründung, Balzac gehe immer.

Honoré de Balzac war eine literarische Jahrtausendgestalt, einer vom Zuschnitt der Cervantes, Shakespeare, Goethe und Tolstoi. Der Roman, diese jüngste und inzwischen weitaus populärste Form belletristischen Erzählens, fand in ihm einen frühen Klassiker. Manche der von ihm erfundenen Gestalten, wie Vater Goriot oder Tante Lisbeth, wurden zu Prototypen, darin vergleichbar Hamlet oder Don Juan oder Faust, und sie wurden das nicht nur in Frankreich.

Er ist 51 Jahre alt geworden. In dieser nicht allzu langen Lebenszeit verfasste er 130 Romane, dazu Theaterstücke, Essays und zahllose Briefe. Seine geradezu manische Produktivität war die Folge eines kommerziellen Scheiterns: Als junger Mensch hatte er sich, infiziert vom Geld- und Gründerrausch der nachnapoleonischen Ära, als Verleger und Druckereibesitzer versucht, was 1827 zu einem Konkurs führte. An den von daher rührenden Schulden trug er sein Leben lang. Seine literarische Tätigkeit war der verzweifelte Versuch, sich von jener Last zu befreien.

Er erschwerte sich diese Aufgabe, indem er einen ausgeprägten Hang zum Luxus entwickelte und dem immer wieder nachgab. Seine dafür vorgetragene Begründung, er sei halt ein Spross aus alter aristokratischer Familie und von daher den aufwendigen Lebensstil gewohnt, war falsch; mit dem Geschlecht der Balzac d'Entraguc, auf das er sich berief und dessen Wappen er an seine Kutschen malen ließ, war er mitnichten verwandt.

Sein Geburtsname lautete Balssa, er kam aus einer proletarischen Familie, sein Vater, zunächst Gelegenheitsarbeiter und ein berüchtigtes Großmaul, brachte es erst im Alter und im Zusammenhang mit den Revolutionswirren zunächst zum Bankangestellten und schließlich zum Coupon schneidenden Bourgeois.

Dieser Vater zwang seinen zu Tours geborenen Sohn Honoré, die Rechte zu studieren. Balzac ließ sich als Anwalt nieder und verfasste nebenher Romane, zunächst unter Pseudonymen wie Viellerglé oder Saint-Aubin; es handelte sich um reine Kolportage und verfolgte einzig den Zweck, rasch zu Geld zu kommen, was freilich missriet. Ein erster Erfolg gelang erst mit dem Buch «Physiologie du mariage», Physiologie der Ehe, einer einigermaßen zynischen Behandlung des Themas, und der Erfolg wurde durch einen öffentlichen Skandal bewirkt.

Dies geschah l829, zwei Jahre nach Honoré de Balzacs geschäftlichem Scheitern. Die Themen Geld, Schulden und Bankrott, Reichtum, Hochstapelei, Verschwendung, Raffgier und Geiz, existenziell und leidvoll erfahren an der eigenen Person, wurden zu den beherrschenden Themen seiner Bücher und auch zu wesentlichen Charakterzügen der darin auftretenden Figuren. Balzac wuchs heran zu einem verlässlichen Chronisten des Kapitalismus in dessen Anfangsphase, die für Frankreich in die Herrschaftsperiode des Bürgerkönigs Louis Philippe fiel.

Er sah, wie das immer mächtiger werdende Finanzkapital alles gesellschaftliche Leben durchdrang und unterwarf. Fasziniert und angeekelt registrierte er die Folgen und bezog daraus den Stoff seiner Romane. Seine persönliche Konsequenz bestand darin, den Zuständen einer untergegangenen Ständegesellschaft nachzutrauern: Er verstand sich als Legitimist, eben deswegen beharrte er auf seinem Adelstitel. Auch die Frauen, zu denen er Beziehungen unterhielt, waren großenteils Adlige: die Herzogin von Abrantès, die Marquise de Castries und vor allem die Gräfin Evelina Hanska-Rzewuska, die er schließlich heiratete.

Sein literarisches Vorhaben war es, die gesamte Gesellschaft seiner Zeit ausführlich und erschöpfend zu porträtieren. Er nannte es «comédie humaine», menschliche Komödie, in deutlicher Anspielung auf Dantes großes Weltanschauungsgedicht «Göttliche Komödie». Er ist über diesem Vorhaben gestorben. 90 Bücher brachte er immerhin in seinem eher kurzen Leben zustande.

Gleich in mehrfacher Hinsicht wurde er zum hochbedeutsamen Anreger künftiger Autorengenerationen in Frankreich: Seine genaue gesellschaftliche Analyse mit belletristischen Mitteln setzten die Naturalisten fort, voran Emile Zola, und sein Verfahren des roman fleuve, des mehrere in sich geschlossene, dabei motivisch wie personell miteinander verflochtene Romanvorhaben umfassenden Zyklus', machte Schule, bei Emile Zola und bei Marcel Proust, bei Martin du Gard und bei Louis Aragon.

Honoré de Balzac starb bald nach seiner Rückkehr aus der Ukraine, wo er die Hanska geehelicht hatte. Zwei Tage nach seinem Ableben fand die Beerdigung statt, auf dem Pariser Prominentenfriedhof Père-Lachaise. Die Trauerrede hielt Victor Hugo. «Sein Leben war kurz, aber erfüllt; es war reicher an Werken als an Tagen», rief er aus. «An ein und demselben Tag geht er ein ins Grab und in den Ruhm . . . Särge wie dieser sind ein Beweis der Unsterblichkeit.»

Rolf Schneider

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