Megalopolis (c) 2000 by Marcel Sommerick ERSTES KAPITEL Am Tag vor meiner Verhaftung hatte ich mir einen kräftigen Schluck von dem schwarz gebrannten Fusel meines Cousins genehmigt, so dass ich die Streife nicht kommen hörte. Dabei war höchster Smogalarm, und selbst ein Tauber hätte den Polizeiwagen auf zwei Kilometer ausgemacht. Ich lag wie ein Stein im Bett, und mein Kopf dröhnte von dem schlechten Apfelschnaps, der eigentlich für die Nationale Woche gedacht war. Die Klimaanlage brummte, im Fernsehen lief schon das Vormittagsprogramm, und ich vernahm nicht den Türsummer, hörte nicht das scharfe Klopfen, wachte erst auf, als ein schwarz gelackter Lederstiefel mit voller Wucht gegen das Bett krachte. Gleich darauf klickten die Handschellen. Ein Beamter erstattete über das Funkgerät Meldung, und er hatte auch schon die leere Flasche neben dem Bett entdeckt. Das allein hätte ausgereicht, um mich für zwei Jahre in die Psychiatrie zu bringen. Sie waren zu dritt, und sie hatten einen dieser dressierten Rottweiler bei sich, die einen Straftäter auf fünf Kilometer wittern. So wagte ich keinen Widerspruch, als der Hundeführer – ein stämmiger Blonder mit groben Händen – mir meine Rechte mitteilte. Mir wurden Körperverletzung und Alkoholmissbrauch vorgeworfen. Sein Kollege tippte den Strafbestand in den Laptop ein, und per Email kam der Haftbefehl des Zentralcomputers. Das Strafmaß: Vier Jahre geschlossene Abteilung. „Dem Himmel sei Dank“, murmelte der Beamte, „ich suche schon lange ein freies Appartement für meine Tochter.“ „Ich werde euch...“ schrie ich auf, kam aber nicht weiter, da der Rottweiler nach meiner Kehle schnappte und mich zu Boden drückte. Die drei Fahnder hatten alle Hände voll zu tun, den Hund unter Kontrolle zu halten. Sie zerrten mich in den Aufzug und schubsten mich in den Streifenwagen; mir blieb die Luft weg, und das Viertel war totenstill. Seit drei Jahren war kein lautes Wort in diesem Block gefallen. Fünfzig Jahre schon dauerte das Regime des Schreckens, und niemand wusste, wer die Fäden zog. Menschen wurden geklont und von Kindesbeinen an zu gehorsamen Untertanen gepresst. Zeigten sie Leistungsbereitschaft und Fügsamkeit, so durften sie dem Gesetz dienen. Denunzierten sie Gesetzesbrecher, so kamen sie in leitende Positionen. Stieg ihnen der Erfolg nicht zu Kopf, so konnten sie ihr Erbgut weitergeben. Wer sich querstellte, wurde ausgesiebt. Solange ich zurückdenken konnte, lebte ich in einem acht Quadratmeter großen Loch unter der Erde. Wie alle Bewohner von Megalopolis K stand ich unter Videoüberwachung. Wir atmeten schmutzige Luft, aßen Ersatznahrung, und unsere Augen hatten sich längst an das stechende Neonlicht gewöhnt. Die Alten erinnerten sich noch an den Dritten Weltkrieg. Nervengas und Atomexplosionen hatten ganz Europa in eine öde Mondlandschaft verwandelt. Die Generation meiner Eltern hatte ihr Leben dabei ausgehaucht, sich wie Wühlmäuse in den Boden zu graben. Tausende waren gestorben, bevor es den Menschen gelang, unterirdische Plantagen einzurichten. Viele waren erstickt oder verdurstet, weil Luft und Wasser knapp waren. Andere waren während der großen Aufstände ums Leben gekommen, die von Polizei und Militär blutig erstickt wurden. Aber nach und nach war der Widerstand schwächer geworden. Wer rebellierte, wurde abgeholt. Die Suizidrate lag bei zwanzig Prozent. Wer überlebte, lernte zu gehorchen. Jeder arbeitete wie ein Rädchen im Getriebe. Es entstand eine Ordnung des Schreckens, die darauf basierte, dass alle die ihnen zugewiesene Aufgabe gewissenhaft erledigten. Man sprach nicht mehr über die Furcht, die das Leben regierte, und jeder verbotene Gedanke wurde verleugnet und unterdrückt. Der Streifenwagen fuhr durch den 25. Tunnel in Richtung Präsidium. Ich las die Namen der Besatzung am Bildschirm des Bordcomputers ab: Müller, Arenz, Seltz. Der Hund kauerte hinten im Wagen; er trug jetzt einen Maulkorb. Müller, der den Wagen fuhr, klopfte plötzlich auf das Lenkrad und bog nach rechts ab. Wir kamen in einen unbeleuchteten Seitentunnel. Im Licht des Scheinwerfers parkte Müller den Wagen auf dem Standstreifen. Er beugte sich zu dem Hundeführer hinüber. „Die übliche Vorgehensweise, Kollege?“ „Das Standardverfahren.“ Seltz holte den Hund aus dem Wagen und nahm ihm den Maulkorb ab. Er hielt ihn scharf an der Leine; das Tier knurrte wild und versuchte sich loszureißen. Arenz zog seine Lederhandschuhe an, und dann begannen sie mich zu bearbeiten. „Links oder rechts?“ fragte Müller. „Rechts“, schnauzte Arenz. Mit voller Wucht krachte seine Faust auf mein rechtes Auge; er holte erneut aus und traf mich in der Magengrube. Ich röchelte, fand aber keine Zeit, mich zu übergeben, da Müller sein Taschenmesser herauszog und in einem Bogen um mich herumtänzelte. Wieder traf mich ein Fausthieb; ich versuchte der Klinge auszuweichen, aber der Hund versperrte mir den Weg. Das Messer traf mich im Rücken. Es schlitzte den Pullover auf, und warmes Blut rann über meine Haut. Dann brach ich zusammen. Blut und Schweiß mischten sich mit Erbrochenem; ich erinnere mich an gar nichts mehr, spürte nicht die Gewalt der Schläge, das Singen des Messers, hörte nicht das Geheul des Hundes, wurde erst wach, als ich auf dem gekachelten Boden des Präsidiums lag und Müller Meldung erstattete. „Was ist geschehen?“ fragte der Vorgesetzte. „Er ist die Treppe heruntergefallen“, antwortete Müller lapidar. „Als wir sein Appartement unter die Lupe nahmen, leistete er Widerstand.“ „Widerstand?“ „Exakt.“ Arenz wedelte mit dem Computerausdruck. „Hier steht es schwarz auf weiß. Vier Jahre geschlossene Psychiatrie.“ Der Polizeirat, ein unscheinbarer Mann in grauem Anzug und Krawatte, nickte und setzte seine Paraphe unter den Ausdruck. „Holt euch die Bestätigung vom Rechenzentrum und bestellt schon mal den Krankenwagen. Müller soll ihn überführen in die Forensische, aber flott, der blutet ja die ganzen Kacheln voll!“ Sie schoben mich in die Arrestzelle, und ich hatte noch Zeit, eine Kippe zu rauchen. Dann hörte ich das Martinshorn des Krankenwagens. Der Fahrer drängelte vor Ungeduld, mich einzuladen. Es war ein großer, athletischer Mann mit hartem Blick. Auch sein Beifahrer, ein kleiner Dicker in der roten Uniform der Sanitäter, drängte zur Abfahrt. Doch die Bestätigung des Rechenzentrums lag noch nicht vor. Müller nahm mir die Handschellen ab und fesselte meine Hände mit einem Plastikband. Mit letzter Kraft wehrte ich mich gegen die Fessel, doch der Beamte war stärker. Er riss mich herum, drückte mich gegen die Wand und grätschte meine Beine auseinander. Ich brüllte los. „Dieses Vorgehen verstößt gegen die Grundrechte! Ich verlange einen Anwalt!“ Müller lachte trocken. „Auf der Wache gelten andere Gesetze, das sollten Sie wissen.“ Er schnürte meine Hände fest zusammen und klopfte mir zum Abschluss noch einmal kräftig gegen den Hinterkopf. „Gute Reise!“ Mein Schicksal war besiegelt. Sie zerrten mich in den Ambulanzwagen und schnallten mich auf der Krankenbahre fest. Ich sprach kein Wort, als der Motor aufheulte und der Wagen durch das unterirdische Tunnelsystem raste. Die Sanitäter trugen Schusswaffen, eine Flucht schien unmöglich. Durch die Seitenfenster sah ich die Lichter des Straßenlabyrinths vorbeirauschen. In meinem Kopf stauten sich die Gedanken. Das Alltagsleben in Megalopolis K war hart genug, aber die Reedukation in der forensischen Anstalt musste der letzte Alptraum sein. Sicher wäre es einfacher, den Strahlentod auf dem Erdboden zu sterben. Niemand wusste, wie es dort aussah. Einige hatten die Flucht durch die Belüftungsschächte gewagt, doch zurückgekommen war keiner. Es gab Gerüchte von zertrümmerten Städten, in denen die Ratten hausten. Wolfsrudel streiften durch die leeren Straßen und fraßen das, was sie Eis und Schnee abtrotzen konnten. Der ansteigende Meeresspiegel hatte weite Teile des Landes unter Wasser gesetzt. In Afrika sollte es Überlebende geben, doch der Weg dorthin war weit und beschwerlich. Der Freiheit beraubt, ohne Geld auf sich selbst gestellt: Die Lage sah trübe aus. Der dicke Sanitäter, der hinten im Wagen saß, musste meinen lauernden Blick bemerkt haben. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Vergessen Sie es am besten gleich.“ Der Wagen stoppte, beschleunigte dann wieder. Mein Kopf dröhnte von dem Kreischen der Sirene. Wegen des Smogalarms waren nur wenige Autos unterwegs. Durch das Seitenfenster sah ich, wie ein Leichenwagen vorbeirauschte. Bei Smog stieg die Selbstmordquote steil an. Erfasste der Zentralrechner den Tod eines Bürgers, so wurden augenblicklich die nötigen Maßnahmen eingeleitet. Jeder Bewohner von Megalopolis K trug einen kleinen Sender am Handgelenk, der die wichtigsten Daten – Pulsschlag, Schlaf- oder Wachzustand – kontrollierte. Die Bürgersteige waren leergefegt, nur die Schwarzen Sheriffs schoben ihre Patrouille. Von allen Ordnungskräften waren sie die brutalsten. Ihr Verband setzte sich aus Freiwilligen zusammen, denen in Kampfsportschulen die nötige Durchschlagskraft vermittelt wurde. Sie nahmen sich das Recht, bei jedem Zwischenfall einzugreifen, und da ihre Anführer hohe militärische Posten innehatten, waren die Bürger ihnen wehrlos ausgeliefert. Sie vergewaltigten, prügelten und plünderten. Niemand schritt ein. Wen kümmerte es, wenn ein zorniger Sheriff sich eine junge Obdachlose griff? Wer etwas auf sich hielt, fuhr im Auto durch die Tunnel. Nach allgemeiner Ansicht waren die jungen Gammler für ihr Elend selbst verantwortlich. Jeder hatte die Möglichkeit, einen Job und eine Wohnung zu bekommen. Auf allen Plakatwänden stand es geschrieben: „Sei stolz auf deine Leistung!“ Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, parkte der Krankenwagen schon vor der forensischen Anstalt. Vor dem Krieg lag hier ein mächtiger Bunker. Als die Stadt zerbombt wurde, wurden lange Schächte in die Erde getrieben. Die Menschen lebten in Notunterkünften. Zwangsarbeiter schufteten Tag und Nacht, und aus einzelnen Tunneln, U-Bahn-Schächten und Kellern entstand ein weitverzweigtes Labyrinth. Unterirdische Städte schlossen sich zusammen. Kohleflöze wurden zu Wohnsiedlungen und Abwasserkanäle zu Einkaufszentren. So entstand Megalopolis K. Der einstige Bunker büßte nach dem atomaren Overkill seine Funktion ein und wurde zur psychiatrischen Anstalt umgebaut. Dies war die Endstation: die Forensik. Die Sanitäter legten eine Pause ein und hörten Radio. Der Streifenbeamte Müller war im Inneren des Gebäudes verschwunden, um die Formalitäten zu erledigen. Wieder drängte sich der Gedanke zur Flucht auf. Die Handfessel war lose; vielleicht konnte ich sie abstreifen. Neben der Krankenbahre lag ein Feuerlöscher. Wenn ich den Sanitätern das Pulver in die Augen sprühte, wären sie für einen Moment außer Gefecht gesetzt. Vielleicht hatte ich die Möglichkeit, mich bis zum Verteiler durchzuschlagen. Wer wusste von meiner Verhaftung? Mein Cousin? Meine Arbeitskollegen? Die Lage war aussichtslos. Ich war zum Stillhalten verurteilt, und um wenigstens den Hunden eine Spur zu hinterlassen, vergaß ich alle Scham und nässte meine Hose. Müller kam zurück und begann zu lachen. Die Sanitäter stimmten ein. Sie hievten mich aus dem Wagen und schubsten mich durch die gläserne Doppeltür am Eingang der Klinik. Meine Beine zitterten. Der Dienst habende Arzt kam auf uns zu. Müller wedelte mit dem Fax. „Eine Zwangseinweisung. Vier Jahre stationär.“ Der Arzt musterte meine Hose und nickte. Er studierte das Fax. „Timo Lechner, wohnhaft am Kanalgürtel 12, 26 Jahre alt. Alkoholismus, Zwangsvorstellungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt.“ Er überlegte. „Schicken Sie ihn auf Station 20, dort ist er am besten aufgehoben.“ Durch endlose Flure führte der Weg in den Ostflügel. Neonlicht spiegelte sich in dem blank gebohnerten Fußboden. Wieder kam eine Sicherheitsschleuse. Die Stationstür war aus Stahl; in der Mitte war ein Sichtfenster eingelassen. Die Sanitäter klingelten. Eine Schwester öffnete die Tür. „Ein Neuzugang?“ „Einweisung in die Geschlossene.“ Ich protestierte. „Es muss sich hier um einen Justizirrtum handeln. Ich habe nichts verbrochen!“ Der Sanitäter gab mir eine Kopfnuss. „Sei still, du Kretin!“ Ein Arzt kam hinzu. Wieder wurden Papiere ausgetauscht. Ich musste die Taschen leeren. Der Arzt studierte meinen Personalausweis. „Timo Lechner?“ „Ich bin nicht Timo Lechner! Ich bin nur sein Bruder!“ „Sein Bruder?“ „Sein Zwillingsbruder!“ „Ich werde das überprüfen.“ Er wandte sich an einen Pfleger. „Legen Sie ihn in das Beobachtungszimmer. Und stellen Sie ihn erst mal ruhig, bevor es Probleme gibt. Er bekommt 2 ml Radocyl.“ Zwei weitere Pfleger eilten herbei. Gemeinsam schleiften sie mich in ein Zimmer, warfen mich auf das Bett. Mit drei Gurten wurde ich fixiert. Gegenüber lag das Stationszimmer, und die Schwestern konnten durch eine Glasscheibe jede meiner Bewegungen beobachten. Die beiden Sanitäter und der Streifenbeamte schickten sich zum Gehen an. Ich schrie: „Haben Sie Heine gelesen? Sie haben das Brot mir vergiftet, sie gossen mir Gift ins Glas; die einen mit ihrer Liebe, die andern mit ihrem Hass!“ Niemand beachtete mein Geschrei. Ich versuchte die Gurte abzustreifen. Vergebens. Das Zimmer war kahl und trostlos; die Wände waren weiß getüncht. Fahles Licht strahlte von der Decke. Ich erinnerte mich daran, dass ich als kleiner Junge einmal den Himmel gesehen hatte. Ich war bei den Pfadfindern, und im Schutze einer militärischen Expedition waren wir an die Erdoberfläche vorgestoßen. Oft noch träumte ich davon, wie wir einen langen, dunklen Gang hochkletterten, Sprosse um Sprosse einen engen Schacht hochstiegen, bis wir oben einen kreisrunden Lichtfleck erahnen konnten. Die Soldaten hatten das Gelände weiträumig abgesperrt. Als ich den Kopf aus der Schleuse steckte, sah ich als Erstes die khakifarbenen Uniformen und den matten Glanz der Gewehre. Dann der Blick in den Himmel: Eisblau, strahlend und hell, hell schimmerte die Sonne hinter ein paar grauen Wolken, und ein Vogel schwirrte quer über das Firmament; ich vergaß den Geigerzähler und die Soldaten, streckte die Hände gen Himmel und dachte, ich könnte die Wolken einfangen und dem Vogel hinterherfliegen, aber da waren die Hände des Rudelführers, der mich zur Einstiegsluke zurückdrängte, mich an meine Pflichten als Wölfling erinnerte und die todbringende Strahlung nochmals erwähnte. Als wäre das Leben unter der Erde ein Trost für den schmerzlichen Verlust, das raue Land nicht mehr überblicken zu können, den kalten Wind nicht mehr auf der Haut zu spüren, die kahle Erde nicht mehr berühren zu können. Später lernte ich in der Schule, dass Gletscher weite Teile des Landes bedeckten, dass heftige Blizzards tobten und sich nur wenige Pflanzen in Schnee und Eis behaupten konnten. Aber alles, woran ich mich erinnerte, war das klare Blau des Himmels, das flirrende Licht, das die Augen blendete und schmerzte, diese Sehnsucht, direkt in die Sonne hinein zu fliegen. Meine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als die Tür aufflog und ein Rudel Pfleger hereinstürmte. Der Oberpfleger – ein dicker Mann Mitte vierzig – nahm mir die Gurte ab und versuchte mich auf den Rücken zu drehen. Ich wehrte mich schwach und schlug mit den Füßen aus. Der Oberpfleger wurde rot im Gesicht. Er baute sich vor mir auf und brüllte: „Männer! Gebt ihm die Spritze!“ Beflissene Hände griffen zu, zogen mir die Hose herunter, und ein Pfleger rammte mir die Spritze in das Gesäß. Kurz darauf wurde mir schwach; lag es an der Spritze oder an der Gewalt der Pfleger: Ich weiß es nicht. Ich klammerte mich an der Matratze fest, und meine Augen nahmen nichts mehr wahr. Ich stürzte in eine schwarze Finsternis. So musste der Tod sein: Kalt und lauernd, wie ein tiefer Schatten, der sich über das Land senkt. Dann wurde ich bewusstlos, und ich erinnere mich an gar nichts mehr. Als ich erwachte, bemerkte ich, dass ich nicht mehr fixiert war. Die Armbanduhr hatten sie mir weggenommen, so dass ich nicht sagen konnte, ob es frühmorgens oder spät in der Nacht war. Ich stand auf, ging zur Tür. Sie war von außen verriegelt. Durch die Glasscheibe sah ich, dass auch das Stationszimmer leer war. Plötzlich verspürte ich ein drängendes Bedürfnis. Ich hämmerte gegen die Tür, doch niemand kam. In meiner Verzweiflung urinierte ich in eine Zimmerecke. Alles, was ich bei mir hatte, war ein kleiner Bleistift. Die Papiere und das Geld hatten sie mir abgenommen. Im fahlen Licht der Neonlampe kritzelte ich Buchstaben an die Wand. „Ich lebe. Danke. Timo.“ Zwei Stunden später wurde die Tür aufgeschlossen, und eine Krankenschwester scheuchte mich in den Speisesaal. Es gab Frühstück: bitteren Malzkaffee und eine Schale Grieß für jeden. Eine Oma im schwarzen Kleid beschwerte sich: „Früher tranken wir richtigen Kaffee, und jeder konnte so viele Brötchen essen, wie er wollte!“ Die Krankenschwester fuhr ihr über den Mund: „Seien Sie still, Frau Gruber! Sie wissen genau, dass es Versorgungsengpässe gibt. Danken Sie dem Küchenstab dafür, dass es noch etwas anderes zu essen gibt als Pilze.“ „Pilze!“ meckerte die Alte. „Was gäbe ich für einen guten Schirmling, mit Butter in der Pfanne geschmort! Aber nein, immer nur diese wässrigen Champignons! Was tun all die Biologen eigentlich den ganzen Tag?“ Die Krankenschwester kam in Fahrt. „Sie wissen genau, dass die Erhaltung unserer Art die Hauptaufgabe der Wissenschaftler ist. Sie können froh sein, dass Sie als genetisch minderwertige Person überhaupt noch einen Platz in unserem Staat haben. Hätten Sie damals nicht Ihren Fernseher in den Müllschlucker geworfen, so könnten Sie sich heute ihr Frühstück auch selbst zubereiten!“ Die alte Dame wollte etwas entgegnen, doch ihr Nachbar trat ihr unter dem Tisch so heftig gegen das Schienbein, dass ihr die Luft wegblieb. Ich schlürfte meinen Kaffee und verdrückte mich dann in mein Zimmer, um eine Mütze Schlaf zu nehmen. Zu meinem Glück wurde ich nicht weiter beachtet, obwohl ich über den Gang hören konnte, dass die anderen Patienten eine Gymnastikstunde absolvieren mussten. Das Radocyl hatte mich geschwächt; bei jeder Bewegung wurde mir schwarz vor Augen. Ich zog die Decke über den Kopf und stellte mich tot. Vier Jahre Klapsmühle, Spritzen und schlechtes Essen; nie wieder Apfelschnaps und heimliche Feten, vorbei die Streifzüge durch Kinos und Tanzpaläste, nicht mehr mit dem Auto meines Cousins durch den Nordwesttunnel brausen, stattdessen Gymnastik, wenig Schlaf, endlose Gruppentherapie. Die Blüte meines Lebens war vorüber, und nun begann die Reedukation. Ich schlief ein und erwachte erst gegen Mittag. Vor meinem Bett stand eine hübsche Krankenschwester mit einer Luftmanschette in der Hand. Es war, als ob sich ein seltener Lichtstrahl in dieses düstere Krankenhaus verirrt hätte. Ich blickte wohl ziemlich fassungslos drein, denn die beiden Ärzte, die ebenfalls das Zimmer betreten hatten, tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Einer der Ärzte streckte mir die Hand hin. „Doktor Vogel.“ „Timo Lechner.“ Ich war so überrascht, dass mir mein richtiger Name herausrutschte. Jetzt konnte ich das Verwirrspiel mit dem Zwillingsbruder abhaken. Der Arzt räusperte sich. „Sie sind zunächst zwei Wochen auf Entzug, Herr Lechner. Die Depotspritze haben Sie schon bekommen; ich darf Sie darauf hinweisen, dass Sie dem Tagesprogramm folgen müssen.“ „Das Tagesprogramm?“ „Es steht auf der Tafel am Eingang. In einer halben Stunde gibt es Mittagessen. Den Sport und die Sozialgruppe haben Sie versäumt. Das wird in Ihrer Akte vermerkt.“ Er wandte sich an die Krankenschwester. „Schwester Bianca, der Blutdruck!“ Sie setzte die Luftmanschette an und maß Blutdruck und Puls. Der Puls war in den Wolken. Der Assistenzarzt schüttelte den Kopf. „Bemerkenswert.“ Er nahm eine Handvoll Spritzen von dem Laufwagen und begann mir Blut abzuzapfen. Schwester Bianca lächelte mich an, und ich wagte keinen Protest. Doktor Vogel zückte einen der zahlreichen Kugelschreiber, die aus seinem Arztkittel ragten, und schrieb einige Notizen in die Krankenakte. „Wenn die Werte gut sind, können Sie jeden Monat Blut spenden. Bei guter Führung bekommen Sie zweimal die Woche Ausgang.“ Zweimal die Woche! Ich bekam schon jetzt einen Haftkoller. Ich protestierte, als der Assistenzarzt die siebte Spritze ansetzte. „Aufhören! Ich bin doch keine Kuh, die man nach Belieben schröpfen kann!“ Der Assistenzarzt bekam Muffensausen und zog die Spritze ab. Ich wagte es nicht, die Schwester anzusehen. Doktor Vogel begann eine Kurve anzulegen. Ich wollte noch einige Fragen stellen, doch das Team schickte sich an, den Raum zu verlassen. Im Gehen hörte ich Doktor Vogel flüstern: „Mapagelstudie. Katatonie und schizophrene Symptome. Wir werden das Expertensystem befragen, ob...“ Die Tür klappte zu, und ich atmete tief durch. Mit letzter Kraft schleppte ich mich zur Dusche. Sie war besetzt, und ich hatte die Gelegenheit, eine weibliche Mitpatientin ohne Hüllen zu sehen. Ein lautstarker Protest war die Folge. Also erst in den Aufenthaltsraum, eine Tasse Tee trinken. Drei Patienten saßen an einem Tisch und spielten Skat. Ich wurde nicht weiter beachtet. Mir gegenüber kauerte ein Türke im Rollstuhl; seine Augen waren tot wie Grabsteine. Ein Plastikbeutel mit Urin hing an der Seite des Rollstuhls. Sie mussten ihm einen Katheter gesetzt haben. Er murmelte vor sich hin: „Hey, ich bin der silberne Surfer... Mein Name steht am Horizont... Viva la revolución...“ Sein Discman fiel zu Boden, und er bückte sich danach. Seine Bewegungen waren verkrampft, er hatte die Muskeln nicht unter Kontrolle. Mit zittrigen Fingern zog er ein Feuerzeug hervor und zündete sich eine Zigarette an. Das war verboten, und rasch steckte er das Feuerzeug wieder weg. In diesem Moment kam Schwester Bianca vorbei. „Gib das Feuerzeug her, Mehmet!“ „Ich habe keines.“ „Doch, ich habe es gesehen! Her damit!“ Sie lächelte mich an und kassierte das Feuerzeug ein. Dann verschwand sie im Schwesternzimmer. Mehmet schimpfte vor sich hin, und die Skatrunde grinste. Ich borgte mir eine Zigarette von dem Türken und zündete sie an der Glut seiner Kippe an. Kaum hatte ich den ersten Zug getan, kam meine Bekanntschaft aus der Dusche wütend in den Raucherraum und schnauzte mich an. „Wenn du Sex willst, lass dir eine Tablette geben! Ich lasse mich nicht gerne anstarren. Du hast Glück, wenn ich das nicht melde!“ Körperlicher Sex war im 22. Jahrhundert gesetzlich verboten. Neben diversen Spielarten von Cyberchat war man darauf ausgewichen, Hormontabletten zu nehmen, die stundenlange Hochgefühle bescherten. Kinder wurden in vitro gezeugt; die befruchteten Eizellen wurden ausgewählten Leihmüttern in die Gebärmutter gepflanzt. Die Ärzteschaft achtete peinlich genau darauf, dass keine natürlichen Zeugungen vorkamen. So war sichergestellt, dass nur genetisch hochwertiges Material weitergegeben wurde und das Bevölkerungsprofil den gesetzlichen Anforderungen entsprach. Ich war eines der letzten Kinder, die auf natürlichem Wege gezeugt wurden. Während der großen Unruhen vor 25 Jahren war es zu ungezügeltem Geschlechtsverkehr gekommen, und obwohl die Ordnungskräfte den Aufstand niederknüppelten, war es einigen Müttern gelungen, ihre Kinder auszutragen. Mein Vater starb, als ich noch klein war; angeblich hatte er sich suizidiert, doch Freunde munkelten, es sei eine illegale Hinrichtung der Staatssicherheit gewesen. Ich entschuldigte mich bei der Duscherin. Sie hieß Kathrin und war seit zwei Wochen auf Alkoholentzug. Wie sie erzählte, hatte sie den Stoff unter einem Vorwand in der Apotheke gekauft und sich dann intravenös gespritzt. Ihrer Familie war das zunächst nicht aufgefallen, da sie keine Fahne hatte. In der Klinik hatte sie aus Verzweiflung das Rasierwasser eines Mitpatienten getrunken. Doch der Stoff lag schwer im Magen, und mittlerweile hatte sie sich mit ihrer Lage abgefunden. Da ihr Sohn eine leitende Position innehatte, war das Urteil mild ausgefallen. In sechs Monaten sollte sie die Klinik verlassen. Unter dem Gejohle der Skatrunde beendete sie ihre Geschichte. Es gab Mittagessen. Ich reihte mich in die Schlange vor der Küche ein. Wieder wurde mir schwarz vor Augen, und Kathrin musste mich stützen. Ein Pfleger zerrte die Oma im schwarzen Kleid in den Speisesaal. Lautstark protestierte die alte Dame. „Morgens Grieß, mittags Bohnen, da esse ich schon lieber gar nichts!“ „Klappe halten, Gruber! Die Essen werden hier zugegessen!“ „Wieso bekomme ich vegetarisch? Ich möchte auch diese Wurmfrikadellen haben!“ „Das ist allein die Entscheidung des Oberarztes.“ Kathrin flüsterte mir zu, die Schwestern mischten Chemikalien ins Essen, um die Wirkung der Stoffe auf den Organismus zu prüfen. Mir war der Appetit vergangen, doch ich wagte es nicht, den Pfleger zu provozieren. Lustlos nahm ich mein Tablett entgegen, lustlos stocherte ich in den Bohnen, würgte sogar die Frikadelle herunter. Kathrin aß mit großem Appetit. Sie flirtete ein bisschen mit jedem und bewahrte so ihren Humor. Nach dem Essen beobachtete ich einen Mitpatienten, der Zigaretten drehte. Vor ihm lag ein Haufen Blättchen und mehrere Beutel Tabak. Die fertigen Zigaretten kamen in einen Pappkarton. Hingebungsvoll rollte er den Tabak in das Papier, befeuchtete den Klebestreifen, zwirbelte das Blättchen zusammen und schnipste die überhängenden Tabakkrümel mit dem Finger weg. Ich staunte. „Was machst du mit den vielen Zigaretten?“ „Ich will hier raus. Die Kippen sind für den Pfleger.“ „Du willst ihn bestechen?“ „Ja. Bald komme ich auf die offene Station, und von da ist es ein kurzer Weg nach draußen.“ „Was man so draußen nennt.“ „Ich weiß. Sie kennen mich auch schon in Megalopolis K.“ „Die Polizei?“ „Die auch. Vor einem Jahr war ich mit einem kleinen Flittchen im Bett, das brachte mir die Anzeige. Seitdem sitze ich hier.“ „Du hättest dich besser kastrieren lassen.“ „Du sagst es. In den Tunneln zeigen sie mit dem Finger auf mich – schau mal der, der hat es gemacht.“ „Und trotzdem willst du raus?“ „Warte es ab. In zwei Wochen wirst du wissen, wie der Laden läuft. Wenn sie dich nicht als medizinisches Versuchskaninchen benutzen oder dein Gehirn mit dem Computer kurzschließen, landest du in der Reedukation. Das bedeutet Psychoterror ohne Ende und entsetzliche körperliche Qualen.“ „Ich halte einiges aus.“ „Glaubst du. In vier Jahren ist deine ganze Vergangenheit ausgelöscht, und alles, woran du dich erinnern kannst, sind die Vorschriften aus dem Bürgerlichen Kodex.“ „Was empfiehlst du mir?“ „Flieh, solange du noch Zeit hast. Geh in den Untergrund.“ „In die Kanalisation?“ „Genau.“ „Du machst Witze. Ich bin doch keine Ratte.“ „Man merkt es. Du hast noch Illusionen.“ In der Kanalisation lebten die Gesetzlosen, die, für die in der Tunnelstadt kein Platz mehr war. Bettler, Punker, Anarchisten und Regimegegner. Kurzum alle, die der Polizei aufgefallen waren und die Möglichkeit zur Flucht genutzt hatten. Sie waren durch einen der zahlreichen Gullies geklettert und lebten von dem, was die rechtschaffenen Bürger durch die Toiletten davonspülten. Es gab keinen anderen Weg, sich dem Gesetz zu entziehen. An der Erdoberfläche war man der Strahlung ausgesetzt, und in Megalopolis K gab es kein Versteck. Manchmal veranstalteten die Schwarzen Sheriffs eine Treibjagd durch die Kanalisation, und die Gestalten, die sie nach oben hetzten, sahen trübe aus. Völlig zerlumpte Gammler, abgemagert bis auf die Knochen, stinkend und halb wahnsinnig durch die lange Isolation, das Leben im Finstern. Es gab Gerüchte, dass auch Fälle von Kannibalismus aufgetreten waren. In der Kanalisation galt das Recht des Stärkeren. Banden hatten sich gebildet, die ihr Revier verteidigten und alle Eindringlinge terrorisierten. So groß das zerstörerische Potenzial der Banden im Untergrund auch war, gegen die Ordnungskräfte hatten sie keine Chance. Sie waren völlig geschwächt, verfügten nicht über eine ausreichende Logistik. Es fehlten Waffen, Nahrungsmittel, Überlebensausrüstung. Das Regime duldete die Banden allein deshalb, weil sie den Müll beseitigten und die Kanäle freihielten. Was noch übrig blieb an organischen Abfällen und Kot, wurde an die Oberfläche gepumpt und sammelte sich in großen Deponien. Nein, in die Kanalisation wollte ich um keinen Preis. Mein Mitpatient hatte die letzte Zigarette gedreht und musterte mich. Er deutete auf mein blaues Auge. „Ein schönes Souvenir hast du da. Und deine Kleider sind auch voller Blut. Warum gehst du nicht erst mal zur Nähstube?“ „Gute Idee.“ Ein weiterer Patient gesellte sich zu uns. Er trug einen Verband um den Schädel, unter dem zwei strenge Augen hervorstachen. Seine steile Nase und das scharfe Kinn gaben ihm das Aussehen eines Fanatikers. Er schüttelte meinem Gesprächspartner die Hand. „Hallo Andreas.“ „Hallo. Was macht die Wunde?“ „Es ist besser geworden.“ Er bemerkte meinen fragenden Blick und nickte mir zu. „Mir ist eine Straßenlaterne auf den Kopf gefallen.“ „Wie das?“ „Ich war mit dem Auto unterwegs im Westtunnel, als das verrostete Ding auf das Verdeck kippte. Ich bin dann 200 Meter über den Randstreifen gebrettert, durchbrach eine Absperrung und knallte schließlich in einen Pkw.“ „Und dann?“ „Kurzer Prozess. Fünf Jahre Reedukation.“ „Wie hältst du das aus?“ Er schnaubte wütend. „Als Erstes haben sie mir einen Chip in den Kopf gepflanzt und ein Interface in den Schädel integriert. Dreimal pro Woche schließen sie mich mit dem Zentralrechner kurz und schicken mich in die Hölle.“ „Wie lange läuft das schon?“ „Zehn Wochen. Ich versuche durchzuhalten, aber langsam verliere ich meine Persönlichkeit. Ich kann schon jetzt alle bürgerlichen Pflichten herunterleiern.“ Er schluckte, und sein Gesicht nahm einen apathischen Ausdruck an. „Pflicht. Jeder tut seine Pflicht. Gehorsam ist das oberste Gebot. Gemeinsam werden wir es richten. Recht ist es, dem Gesetz zu...“ Andreas beugte sich nach vorne und gab ihm eine Ohrfeige. Seine Züge verkrampften sich, und er kippte vornüber auf den Tisch. Andreas seufzte. „Siehst du, so kann es gehen. Wenn er an den Computer angeschlossen wird, bekommt er einen epileptischen Anfall. Er ist der Prototyp des ersten Homuters.“ Er klopfte dem Mitpatienten auf die Schulter. „Hörst du mich, Karl?“ Der Epileptiker hob den Kopf. Seine Augen waren verdreht, aber er konnte schon wieder ein paar Worte stammeln. „Aaaah, dieses Licht! Dieser Schmerz. Oströhre 10, ich wohne in Oströhre 10. Keine Party mehr für mich und die Freunde. Karl Strunk, mein Name ist Karl Strunk in Oströhre 10, ich will meine Pflicht tun, ich will das Tageslicht vergessen, dem Staat dienen...“ Vorsichtig nahm ich einen Teelöffel vom Tisch und schloss damit zwei Klemmen an seinem Interface kurz. Das Resultat war verblüffend. Seine Augen klappten zu, er schüttelte sich, lachte, und sein Blick wurde ruhig. „Lass das! Du kitzelst mich.“ Ich runzelte die Stirn. „Kannst du mich hören?“ Er schüttelte sich vor Lachen. Ich zog den Löffel aus der Schaltstelle an seinem Kopf. „Aha, es geht wieder.“ Andreas staunte. „Wie hast du das gemacht?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Es war nur ein Versuch.“ „Glaubst du, du kannst ihm helfen?“ „Wir werden sehen.“ Ich tippte auf mein blaues Auge. „Vorerst habe ich andere Sorgen.“ Gerade wollte ich mir noch eine Tasse Tee holen, da kamen zwei stämmige Pfleger in das Raucherzimmer gestürmt. Ohne jeden Kommentar fassten sie mich unter den Achseln und schleiften mich aus dem Zimmer. Ich protestierte. „Was soll das?“ „Halten Sie den Rand. Sie haben die Stationsordnung verletzt.“ Sie schubsten mich in das Beobachtungszimmer und hievten mich auf das Bett. „Jetzt kommen Sie in die Packung, da werden Sie lernen, was es heißt, in das Therapieprogramm einzugreifen.“ Ich begriff. Offenbar war im Raucherzimmer eine Kamera installiert, die ich nicht bemerkt hatte, und sie hatten meinen Kunstgriff beobachtet. Bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, hatten sie mich auf dem Bett festgeschnürt. Die Packung war so fest, dass ich nicht einmal mit den Zehen wackeln konnte. Einer der Pfleger zog eine Dose Pillen aus dem Kittel und schob mir eine Tablette in den Mund. Ich wollte sie ausspucken, aber er hielt mir den Mund zu. Dann gab er mir eine Ohrfeige. In dem Reflex schluckte ich die Pille herunter. Jetzt war ich wirklich der Verzweiflung nahe. Ich wollte den Pfleger beißen, aber er zog die Hand zurück. Ohnmächtig vor Wut begann ich zu schreien. Die Pfleger ignorierten mich. Sie gingen aus dem Zimmer und schlossen die Tür ab. Der Raum war schalldicht. Durch die Glasscheibe konnte ich sehen, wie im Team heftig diskutiert wurde. Die Pfleger lachten. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass Schwester Bianca ins Zimmer kam und mir ein Kopfkissen unterschob. Unsere Blicke trafen sich, und für einen Augenblick war mir alles egal. Dann verschwamm ihr Bild vor meinen Augen, und ich wurde ohnmächtig. ZWEITES KAPITEL Am Wochenende war ich auf Streife, und da mein Chef gute Laune hatte, durfte ich anschließend zwei freie Tage einschieben. „Müller“, seufzte der Polizeirat, „ich möchte nicht wissen, wie Sie Ihre Freizeit verbringen, aber tun Sie mir den Gefallen und waschen Sie Ihren Dienstwagen, er schaut aus, als wären Sie damit durch die Kanalisation getaucht.“ Ich nickte und entfernte mich schleunigst aus dem Präsidium. Urlaub war verpönt bei der arbeitenden Bevölkerung im Sektor D. Man konnte es als dringende Mahnung empfinden, wenn der Vorgesetzte die Anweisung erteilte, der Arbeit fernzubleiben. Urlaub gab es für die Streuner, die Bettler, die Tagträumer und die Dissidenten. Lange hatte ich mich bemüht, meinen Hang zur Malerei zu verheimlichen. Ich galt als zuverlässig und gewissenhaft. Doch eines Tages stand das zehnjährige Dienstjubiläum an. Die Kollegen waren bei mir eingeladen. In meiner Wohnung war es eng, wie überall in der Megalopolis, und ein Kollege kam auf die verhängnisvolle Idee, einen Schrank zu verrücken, der dem Büfetttisch im Wege stand. Die Schranktüren schwenkten auf, und sein Blick fiel ungehindert auf die vielen Aquarelle, die Farbtuben, die Pinsel und die große Staffelei, die Ölgemälde, die an der Rückseite des Schrankes gestapelt waren. Das Gelächter war groß. „Müller, du hast den Bock abgeschossen“, grölte Arenz los. Die Kollegen versammelten sich vor dem Schrank und ließen die Aquarelle durch die Finger gleiten. Sie blätterten durch den Stapel der Kohlezeichnungen, und der Polizeirat malte sein Killroy-Gesicht auf den Rand der Skizzen. Es war nicht ausdrücklich verboten, Gemälde zu erstellen. Aber ein Polizist, der sich in seiner Freizeit der Malerei widmete, konnte damit rechnen, zur Kanalpatrouille herangezogen zu werden. Der Dienst in der Kanalisation war extrem. Bislang hatte mich allein die Protektion meines Onkels davor geschützt, auf die schwarze Liste gesetzt zu werden. Meine Familie hatte dem Gesetz gedient, solange ich zurückdenken konnte. Mein Urgroßvater war Ermittlungsbeamter der flämischen Wasserschutzpolizei. Mein Opa diente während des Dritten Weltkrieges bei den Feldjägern, und mein Vater hielt die Tradition aufrecht und ging nach dem Krieg zum Landeskriminalamt. Gemeinsam mit meinem Onkel durchlief er die Grundausbildung. Aufgrund meiner familiären Vorbelastung hatte der Berufsberater mir nahe gelegt, in die Polizeilaufbahn einzuschwenken. Der Computer beim Arbeitsamt hatte mit einem Smiley gratuliert. „Wir beglückwünschen Sie zu Ihrer eindrucksvollen Ahnengalerie und hoffen, dass der Beruf Ihrer Wahl Ihnen Erfolg bringen möge.“ Ich hatte gelacht und gute Miene zum durchtriebenen Spiel gemacht. Mir war nicht ganz klar, wer nun den Berufswunsch formuliert hatte: Der Sachbearbeiter, meine verstorbenen Eltern oder letzten Endes der Computer selbst. Ohnehin hatte ich es mir abgeschminkt, verbotene Gedanken zu hegen. Ich ging den Weg des geringen Widerstandes, mit mäßigen Leistungen, Sitzfleisch und Geduld. Doch in den frühen Morgenstunden, wenn das Flackern der Glühbirnen einen Hauch von Dämmerung versprach und sich der Schäferhund unruhig auf seiner Schlafdecke wälzte, dann bekamen die Konturen meines Appartements einen irrealen, gespenstischen Schein. Die Umrisse der Möbel verschwammen, der Teppich schimmerte ultramarin, und die Wände traten ins Zimmer. Dann musste ich zu Pinsel und Palette greifen und die Farben, wie ich sie mir in der Phantasie ausmalte, anmischen und in groben Strichen über die Leinwand verteilen. Vorhänge vergangener Zeiten bauschten sich sacht in der Zugluft. Menschliche Köpfe färbten sich durchsichtig wie Glas; die Reste meiner kümmerlichen Bildung verschwommen zu einer leuchtenden Vision. Dattelpalmen neigten sich im Wind. Über dem klaren Blau einer engen Bucht gleißte eine unbarmherzige Sonne über dem harten Gestein, das von dornigem Gestrüpp durchsetzt war. Knorrige Kiefern krallten sich in die Felsen, und über den schmalen Eselspfad kam ein einsamer Wanderer geschritten, dem das flammende Spiel der Farben wie ein Hauch von Wahnsinn und bitterer Sinnlosigkeit erscheinen mochte. Beim Malen vergaß ich die Zeit. Meist erinnerte mich erst die Unruhe meines Hundes daran, dass ich zum Dienst musste. Toto war ein dreijähriger reinrassiger Schäferhund. Er hatte die Verspieltheit des Welpen abgelegt und war mit dem harten Polizeieinsatz vertraut. Dennoch hatte der Polizeirat ihn ausgemustert. Bei einer Razzia in den Kanälen hatte Toto einen seelischen Schaden erlitten. Kein Mensch weiß, was er dort sah, fest stand allein, dass er den Kommandos des Hundeführers nicht mehr gehorchte. Er kniff vor gefährlichen Situationen und zeigte grundlose Aggression, wenn kein Einschreiten vonnöten war. Polizeirat Ehlert wollte ihn einschläfern lassen, doch ich sprang in die Bresche und erbot mich, den Hund bis zu seinem natürlichen Tod in Pflege zu nehmen. Die Kollegen schüttelten ihre Köpfe. Auch Arenz, mit dem ich auf Streife ging, seufzte vernehmlich. „Müller“, sagte er missbilligend, „du bist kein richtiger Bulle. Ein echter Polizist“, fuhr er fort und legte die Hände wie Scheuklappen an den Kopf, „sieht die Dinge geradlinig. Er blickt immer geradeaus, weil er genau weiß, was er zu tun hat und das Kommando kennt, dem er Folge leisten muss. Polizisten machen keine Fehler und zeigen keine Anzeichen von Schwäche. Du jedoch lässt dich von deinen Gefühlen treiben wie ein Blatt im Wind.“ Ich nahm mir seine Predigt zu Herzen und war für zwei Wochen außerstande, die Pinsel anzufassen. Dennoch brachte ich es nicht über mich, den Hund wegzugeben. Er hatte diesen traurigen Blick, als er das Präsidium für immer verließ, und eine ganze Woche lang gab er keinen Ton von sich, bellte nicht, knurrte nicht, lag nur reglos auf seiner Wolldecke und bewegte sich lediglich, um ein wenig Wasser aus seinem Trinknapf zu schlabbern; der Tierarzt diagnostizierte eine Verhaltensstörung. Ich ließ ihm seinen Weg, und mit der Zeit genas Toto von seinem Leiden. Er nahm wieder etwas Nahrung zu sich, weckte mich morgens mit einem feuchten Kuss und tollte abends neben mir her, wenn ich im Stollengürtel laufen ging. Sport wurde groß geschrieben auf der Wache, und wenngleich niemand das Training überwachte, war es selbstverständlich, dass man sich fit hielt. Viele Kollegen gingen nach dem Dienst ins Sportstudio, wo sie Gewichte stemmten und ihre Muskulatur auf dem Laufband stählten. Ich selbst zog es vor, draußen zu laufen. So hatte Toto seinen Spaß, und ich konnte mich an den kümmerlichen Ilexbüschen erfreuen, die im schwachen Licht der Straßenlaternen rechts und links entlang des Stollens aus dem harten Boden sprossen. Toto schnupperte im Gebüsch und setzte seine Marken, während ich den Trimm-dich-Pfad entlangkeuchte, weiter durch den Nordwesttunnel und am Worringer Friedhof vorbei, bis zum Klärwerk, wo das Abwasser an die Erdoberfläche gepumpt wurde und der Gestank meine Schritte beschleunigte, der Wendepunkt meiner Laufroute erreicht war. Wenn ich dort ankam, strich ich mit der Hand über den rauen Fels am Rande des Stollens, spürte den Schweiß über die Stirn rinnen und griff instinktiv nach der Dienstwaffe, die im Achselhalfter unter der dünnen Trainingsjacke baumelte. Es war gefährlich, spät abends allein durch die Stollen zu laufen, selbst wenn man einen treuen Hund bei sich hatte und das Gesetz auf seiner Seite wusste. Am Klärwerk trieben sich viele Obdachlose herum. Sie versteckten sich dort vor den Behörden und raubten gelegentlich auch Spaziergänger aus, die einfältig genug waren, den Schutz ihres Appartements zu später Stunde zu verlassen. Während Toto sich des Öfteren mit anderen Hunden balgte, wurde ich niemals belästigt. Die Obdachlosen mieden mich; vielleicht kannten sie mein Gesicht von den Streifengängen her. Als Polizist hatte ich ein überspitztes Verhältnis zu meiner Dienstwaffe entwickelt. Sie begleitete mich während der Arbeit und in der Freizeit; ich ließ sie niemals aus den Augen, schlief neben ihr, lebte mit ihr, putzte und pflegte sie sorgsam. Plagten mich nachts die Alpträume, so wusste ich die Waffe stets neben mir. Im Schlaf stammelte ich oft wirre Sätze, die niemand verstand. Schreckte ich aus dem Traum hoch, so tastete ich als Erstes nach der Pistole, entsicherte sie und lud sie durch. Der Griff nach dem Lichtschalter, der zögernde Blick in die Wohnung: Es drohte keine Gefahr, die Dämonen entsprangen allein meiner Phantasie. Die Pistole hatte ich gegen Ende meiner Ausbildung von meinem Vorgesetzten erhalten. Es war die Weiterentwicklung einer Walther P 88, Kaliber 9 mm, mit Acht-Schuss Trommelmagazin und seitenverstellbarer Kimme. Die Waffe hatte Tradition. Einige Kollegen empfanden sie als altmodisch, da sie nicht über Laseroptik und automatische Zielerfassung verfügte. Ich fühlte mich jedoch der Familientradition verpflichtet und hatte mich daher für das altbewährte Modell entschieden. Die Waffe war eine ständige Erinnerung an die Verpflichtungen, die der Polizeieinsatz mit sich brachte. Ich hatte mich entschieden, dem Gesetz zu dienen und konnte mich in keinem Moment meines Lebens von den Vorschriften lösen, die mich zwangen, die Walther stets bei mir zu tragen. Meine Bekannten hatten den Kopf geschüttelt, als sie mich auf festlichen Veranstaltungen mit der Waffe auftauchen sahen. Doch mit der Zeit war der Freundeskreis zusammengeschrumpft, und nach zehnjähriger Polizeikarriere konnte ich mit Stolz behaupten, nur noch in Staatskreisen zu verkehren. Im Präsidium war ich ein Einzelgänger. Zwar hielt ich mich an die Vorschriften und führte alle Routineeinsätze zur Zufriedenheit der Kollegen durch. Doch insgeheim musste ich feststellen, dass ich trotz aller Liebe zur Polizei, trotz meiner Prinzipien von Recht und Ordnung eine tiefe Irritation verspürte. Wer befahl uns den nächsten Einsatz, wer plante die nächste Verhaftung und stellte die Weichen für eine bevorstehende Razzia? War es das Sicherheitspersonal an den Überwachungsmonitoren, das bestimmte, welche Bürger zur Rechenschaft gezogen wurden? War es der Polizeirat, der die Entscheidungen traf? Waren es die Programmierer des Rechenzentrums, die die Fäden zogen? Der militärische Abschirmdienst oder die Parteizentrale? Nach all den Jahren im Streifendienst musste ich eingestehen, dass ich nichts als ein ahnungsloses Rädchen im Getriebe war, gehorsam und kritiklos, dienstbeflissen, unwissend und zuverlässig. Und so kam es dazu, dass ich nach Dienstschluss private Ermittlungen ausführte. Da sämtliche Haushalte in Megalopolis K vernetzt waren, begann ich meine Recherchen am Computer. Es war nicht verboten, sich ins Hypernet einzuloggen. Jeder konnte Informationen abspeichern, die anderen zugänglich waren. Die großen Chatforen stellten einen der wenigen Freiräume dar, die den Menschen im Sektor D noch blieben. Natürlich wurde jedes Gespräch protokolliert und auf regimefeindliche Äußerungen überprüft. Das erledigten automatische KI-Scanner, die bei Übertretung der Gesetze Anzeige erstatteten. Doch die Intelligenz dieser Computerprogramme war begrenzt, und findige Geister waren darauf ausgewichen, sich in Metaphern, Anspielungen und Doppeldeutigkeiten zu verständigen. Im Laufe der Zeit begegnete mir manche Allegorie, hinter der sich systemkritische Gedanken verbargen. Wer sich hinter den Phantasienamen versteckte, die im Hypernet kursierten, das wusste ich nicht. Doch ich vermutete, dass es regelrechte Geheimbünde gab, die ihre Verschwörungen hinter verschlossenen Türen abhielten. Als Polizist hielt ich mich mit Kritik zurück, denn es war gut möglich, dass ich selbst längst in das Fadenkreuz des Abschirmdienstes geraten war. Doch eines Abends konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und loggte mich in das Cybercafe einer Frauenzeitschrift ein. Der Schwindel flog nicht auf, da ich einen harmlosen Spitznamen wählte und meine Identität hinter einigen nichts sagenden Phrasen versteckte. Nach den üblichen Fragen – Alter, Beruf und Interessen – verließ ich den Chatroom und gedachte den Abend bei einigen Zigaretten und flüchtigen Kohleskizzen zu beschließen. Als ich das Gespräch aus bloßer Routine durch ein uraltes militärisches Dechiffrierprogramm jagte, stockte mir der Atem. Hinter den banalen Äußerungen einer Gruppe von Teilnehmerinnen verbarg sich eine verschlüsselte Nachricht. Das Dechiffrierprogramm brauchte eine volle halbe Stunde, um den Text zu entschlüsseln. Die Botschaft lautete im Klartext: „Konspiratives Treffen zum üblichen Zeitpunkt bei Schreibwaren Schmidt, Schilderpassage 15.“ Ich kannte das Geschäft; es war ein unscheinbarer Laden für Bleistifte, Papier und Schulbedarf, in dem einige junge Studentinnen arbeiteten. Unter dem Vorwand, einen Ladendieb dingfest zu machen, betrat ich am folgenden Tag das Geschäft. Ich überprüfte die Sicherheitselektronik und ließ mir von der Ladenbesitzerin die Schlüssel aushändigen. Die Kunden hielten das Personal in Schach, so dass ich unbemerkt einen Videospion im Lagerraum installieren konnte. Dann nahm ich die Personalien eines harmlosen Schülers auf, der sich Rechenpapier besorgen wollte, und verhaftete ihn unter dem Verdacht des Ladendiebstahls. Arenz lachte aus vollem Hals, als er mich mit dem mutmaßlichen Delinquenten auf das Revier kommen sah. „Was bringst du uns da, Müller? Der hat ja noch nicht einmal das ABC gelernt!“ Ich schluckte und schob den Schüler in die Arrestzelle. „Er wollte Rechenpapier stehlen.“ Arenz kollerte vor Lachen. „Müller, du wirst immer krasser. Warum legst du ihn nicht gleich in den Sicherheitstrakt, dann kann er sich heute noch die Rosette vergolden lassen?“ Ich ließ Arenz mit seinen Späßen allein und meldete die Verhaftung dem Rechenzentrum. Dann beschloß ich, Feierabend zu machen. Der Videospion in der Schreibwarenhandlung war mit meinem Computer daheim gekoppelt, so dass die empfindliche Überwachungselektronik mir jedes Anzeichen von Aktivität im Lagerraum mitteilte. Zwei Nächte lang stand der Lagerraum leer. Alles, was sich tat, war, dass dann und wann eine Maus durch das Blickfeld huschte. In der dritten Nacht ließen die beiden Verkäuferinnen das Licht brennen und stellten einen runden Tisch in die Mitte des Lagers. Sie waren noch jung: Ein blasser Rotschopf und eine hübsche Blonde, die jedoch schon von den ersten Anzeichen von AAIC gezeichnet war. AAIC – Auto-aggressive infectious Cancer – war eine Hinterlassenschaft des Dritten Weltkrieges, ein mutiertes Virus, das durch Speichel übertragen wurde und innerhalb weniger Jahre unweigerlich zum Tod führte. Die Blonde hatte viel Schminke aufgelegt, doch ihre dürren Glieder sprachen ein deutliche Sprache. Sie stellte einen Krug mit Traubensaft auf den Tisch und platzierte einen siebenarmigen Kandelaber daneben. Kreisförmig um den Leuchter gruppierten die beiden Mädchen ein Dutzend Teelichter. Die Deckenbeleuchtung wurde ausgeschaltet, und im flackernden Licht der Kerzen konnte ich beobachten, wie sich der Raum mit weiteren Personen füllte. Die Teilnehmerinnen schienen sich gut zu kennen und verloren kein überflüssiges Wort. Sie nippten an dem Traubensaft und fassten sich dann an den Händen. Die Rothaarige begann einen unverständlichen Gesang zu intonieren, der für mein ungeübtes Ohr wie eine Mischung aus Türkisch und Polnisch klang. Ich holte tief Luft und beherrschte mich mühsam, denn allein der Gebrauch einer historischen Sprache war in unserem Staat mit dreijähriger Gefängnisstrafe geahndet. Vorerst schien ich jedoch der Einzige zu sein, der sich für diese Séance interessierte. Die Videoaufnahme war auch kein brauchbares Beweismittel, da ich nicht in offiziellem Auftrag ermittelte. Die Geisterbeschwörung nahm ihren Lauf. Die Gläser wurden umgekehrt und im Kreis um den siebenarmigen Leuchter geschoben. Die Teilnehmerinnen fassten sich bei den Händen und bewegten stumm ihre Lippen. Die Lichter begannen gespenstisch zu flackern; die Mädchen hoben ihre Hände über die Gläser, und im Dämmerlicht sah ich, wie die Trinkgefäße langsam über den Tisch wanderten. Die Blonde erhob das Wort. „Seit wir zum letzten Mal den Geist der erhabenen Hildegard Hippler beschworen, kamen unsere Kräfte zum Erlahmen. Wie die Erhabene uns kundtun möchte, liegt die Ursache für unsere Schwäche in dem Wirken eines Störenfriedes begründet. Unter den Augen des Gesetzes stört er die Macht des Feministischen Kampfkorps. Es handelt sich um einen jungen Strolch namens Timo Lechner. Er ist frauenfeindlich eingestellt, systemkritisch und hat durch seine durchtriebenen Aktivitäten ein Ausmaß von spiritueller Autorität erreicht, das unser Zirkel nicht dulden kann. Wir haben uns daher dazu entschlossen, seinen bösartigen Einfluss zu brechen. Minou, das Handy.“ Die Angesprochene – eine magere Brünette im grauen Kleid – zog ein Handy aus der Handtasche hervor und tippte eine Nummer in die Tasten. Das Handy summte, und aus dem Lautsprecher der angeschlossenen Raumschaltung meldete sich eine kratzige Männerstimme. „Hallo, wer spricht dort?“ „Hallo Timo, hier ist Minou. Wie geht es dir?“ „Gut, wieso?“ „Vielleicht können wir uns heute treffen. Was machst du gerade?“ „Ich sehe fern.“ Im Hintergrund war das erste Programm zu hören. Das Mädchen sprach noch einige nichts sagende Worte und vereinbarte dann ein Rendezvous mit dem ahnungslosen Opfer. Die Blonde spendete Beifall. „Sehr gut. Du lässt ihn natürlich sitzen. Und jetzt, wenn ich bitten darf, die Anzeige.“ Ungläubig schaute ich zu, wie eine weitere Teilnehmerin der Séance das Handy entgegennahm und mit einem elektronischen Stimmverzerrer koppelte. Aus der Leitung knackte die Stimme eines Kollegen. „Präsidium Blautunnel, was ist Ihr Anliegen?“ Das Mädchen gab eine Anzeige auf. „Timo Lechner, Kanalgürtel 12. Er veranstaltet eine illegale Freudenfeier, bei der schwarz gebrannte Alkoholika serviert werden. Bitte klären Sie die Angelegenheit.“ Der Beamte stutzte. „Mit wem spreche ich?“ Es rauschte in der Leitung, und die Anruferin hängte ein. Die Blonde sah auf die Uhr und klatschte in die Hände. „Sehr gut, Agnes. Das Gespräch war zu kurz für eine Fangschaltung. Wir haben den Fisch an der Angel, und die Polizei holt ihn morgen aus dem Sumpf.“ Die Frauen fassten sich bei den Händen und stimmten einen Dankesgesang an. Dann wurde das Geschirr weggeräumt, der Tisch zur Seite geschoben, und der Lagerraum leerte sich. Die Blonde schloss die Tür hinter sich ab. Nichts ließ darauf schließen, dass hier eine Séance stattgefunden hatte. Der folgende Tag begann mit dem obligatorischen Judotraining. Ich war schwach auf den Beinen, da ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Seltz nutzte die Gelegenheit, um mich beim Randori mit einem Kata Goruma aufs Kreuz zu legen. Ich knallte auf die Matte, und schon hatte er mich im Schwitzkasten. Als ich mich wie ein Aal aus seinem Klammergriff wand, hatte der Trainer ein Einsehen und blies den Kampf ab. Er schickte uns zum Konditionstraining auf die Matte, und wir mussten im Entengang über den Boden watscheln. Es folgten fünfzehn Minuten Dauerlauf und fünfzig Sit-ups. Als wir mit den Fallübungen begannen, war ich so weit, dass ich fast auf die Matte kotzte. Beim Training herrschte eiserne Disziplin, doch ich war so geschwächt, dass ich den Ehrenkodex beiseite schob und mich unauffällig in die Umkleidekabine verdrückte. Die anderen übten Judorollen. Im Sekundentakt hörte man das klatschende Geräusch der Abschläge. Ich schlich unter die Dusche und hängte ein Handtuch vor die Überwachungskamera, um keinen Ärger mit dem Trainer zu bekommen. Dann spürte ich das heiße Wasser über die Haut rieseln, schöpfte tief Luft und vergaß für einen Moment die schlaflose Nacht und den Irrwitz der Vorschriften. Die anderen beendeten die Trainingsstunde mit dem rituellen Gruß. Bald darauf hörte ich ihr Stimmengewirr im Umkleideraum. Ich drehte die Dusche ab und legte die Dienstkleidung an. Seltz war gut gelaunt über den gelungenen Wurf und klopfte mir wohlmeinend auf die Schulter. „Bisschen viel für dich, alter Farbenkleckser, was? Komm wieder auf die Beine, ich habe gehört, heute stünde uns ein interessanter Einsatz bevor.“ Mir schwante Böses. Betont überrascht hob ich den Kopf. „Wie lautet denn unser Auftrag?“ Seltz fiel nicht auf meine Unschuldsmiene herein, und Arenz wurde jetzt auch aufmerksam. Sie klatschten die Fäuste gegeneinander und brachten sich in Stimmung. „Wir nehmen die Querulanten hops, einen nach dem anderen!“ Als ich den Einsatzbefehl in den Händen hielt, bestätigte sich mein Verdacht. Es war der versetzte Partylöwe, den wir festnehmen sollten. Timo Lechner, Kanalgürtel 12. Ich hatte Mitleid mit dem armseligen Missetäter, aber ich durfte mir jetzt nichts anmerken lassen. Die Vorgesetzten verlangten unnachgiebige Härte im Einsatz, skrupellose Verwirklichung der Vorschriften: Im Grunde Eigenschaften, für die Androiden besser geeignet waren. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und schob die Dienstwaffe in das Achselhalfter. Gemeinsam schritten wir den kahlen Flur des Präsidiums entlang. Arenz klimperte mit den Schlüsseln des Dienstwagens, und Seltz pfiff ein Liedchen vor sich her. „Die Pief war leer, die Pief war leer, und die Ampel auf Rot. Da nahmen sie Abschied mit einem Kusse, und die Welt war im Lot.“ Er grinste. „Müller, du musst heute Einsatz zeigen, der letzte Rapport fiel sehr zu deinen Ungunsten aus.“ Er warf einen Blick auf seine klobige Armbanduhr und zündete sich eine Zigarre an. Arenz schob seine Magnetkarte in den Schlitz an der Sicherheitsschleuse, und wir standen im Blautunnel. Gut gelaunt schloss er den Dienstwagen auf. Ich gab mir Mühe, meine Nervosität zu verbergen. Doch Arenz war ein gewiefter Bursche, und er hatte natürlich schon gemerkt, dass ich ein Problem mit der Verhaftung hatte. „Müller, ich schlage vor, wir überlassen das Bürschchen dir, weißt du, ich habe mir eben den Arm verrenkt, und Seltz hat mal wieder Geburtstag. Aber lass ihn bloß nicht entwischen, sonst kannst du bald mit den Kollegen von der Kanalwacht durch die Scheiße kraulen.“ Ich schluckte. Der Dienst war schwer genug, aber die Kanalwache war unmenschlich. Wenn ich nicht einen Funken Leben in mir bewahrte, konnte ich die Farbtuben gleich in den Müllschlucker werfen. Was blieb mir schon übrig? Ich war nichts als ein Mitläufer, ein Konformist mit einem Hang zur Träumerei. Manchmal musste man der Härte des Gesetzes Folge leisten und den Anweisungen der Vorgesetzten gehorchen. So allein war es möglich, sich etwas Spielraum zu bewahren und ein halbwegs normales Leben zu führen. Seltz schubste den Rottweiler ins Auto, und Arenz knallte die Türen zu. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Arenz knipste das Blaulicht an, und wir rasten über die Nordwestpassage. Die anderen Verkehrsteilnehmer wichen an den Tunnelrand aus, und wir jagten durch das Straßenlabyrinth. Dann trat Arenz in die Bremsen. Mit quietschenden Reifen hielt der Wagen am Kanalgürtel. Die Nachbarn hingen sicher schon vor ihren Videomonitoren, um zu beobachten, was auf der Straße geschah. Jetzt mußte es schnell gehen, bevor uns der Täter durch die Lappen ging. Seltz schob seine Polizeimarke in den Streamer am Hauseingang, und wir polterten das Treppenhaus hoch. Sicher hätten wir die Tür zu dem Appartement auch fachmännisch öffnen können, aber jetzt packte mich das Fieber des Einsatzes. Ich trat die Tür ein und machte einen Schritt zur Seite, um Seltz mit dem Hund vorbeizulassen. Er knallte den Stiefel gegen das Bett, auf dem der Gesuchte lag, und legte ihm Handschellen an. Arenz war mit dem Laptop beschäftigt, und da die beiden einen Augenblick unaufmerksam waren, tat ich das Letzte, was man Timo Lechner noch gewähren konnte. Auf seinem Nachttisch lag eine selbst gebrannte CD-ROM, die ich unbemerkt in der Jackentasche verschwinden ließ. Dann holte ich Luft, und um meine Unsicherheit zu kaschieren, brüllte ich los. „Aus dem Bett, aber zackig! Den Tag vergammeln, dem Staat auf der Tasche liegen und das System unterhöhlen, damit ist jetzt Schluss. Du wirst nun lernen, was es heißt, Widerstand zu leisten. Solche Gammler wie du sind in der Megalopolis nicht erwünscht. Aber wir geben dir eine Chance. Die Ärzte werden dir die Flausen austreiben mit Elektroschocks. In der forensischen Psychiatrie wirst du lernen, wie man ein geordnetes Leben führt.“ Timo Lechner starrte mir leeren Augen auf die Handschellen, dann auf den Hund, und rülpste. Offensichtlich war er so von Alkohol umnebelt, dass sein Verstand aussetzte. Wir schleiften ihn hinter uns her zum Auto, und als ich das Funkeln in Arenz‘ Augen sah und Seltz mir seinen Ellenbogen in die Rippen stieß, wusste ich, was nun auf dem Programm stand. Wir stoppten den Wagen in einem Nebentunnel und begannen ihn zu bearbeiten. Es war ein unfairer Kampf. Doch wer konnte in Megalopolis K schon freie Entscheidungen treffen? Es war schwer genug, die paar Euros für das tägliche Leben aufzutreiben. Wer fragte da nach Gerechtigkeit, nach Ehre und Anstand? Solche Ideale waren längst antiquiert und mit den Bombenteppichen des letzten Krieges aus dem Gedächtnis ausgelöscht worden. Sicher hätte ich mich an humanistische Werte erinnern können und eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreichen können. Doch mein Spielraum war begrenzt, und lediglich die CD-ROM in meiner Jackentasche erinnerte mich an das, woran ich glaubte, als ich Timo Lechner das Gesicht blutig schlug und ihm fast den Arm ausrenkte. Nach einem kurzen Intermezzo auf der Wache lieferten wir ihn in der Anstalt ab und gingen dann in den Feierabend. Ich fuhr nach Hause und schloss die CD im Wandschrank meines Appartements ein. Der Hund hatte den ganzen Tag über geduldig auf mich gewartet. Er warf mich fast zu Boden, als er mir freudig entgegensprang und mir die Hände abschlabberte. Ich stellte ihm eine Schale mit Wasser auf den Fußboden und kraulte ihm den Nacken. „Toto“, flüsterte ich leise, so leise, dass nicht einmal das Mikrofon der Überwachungsanlage es aufzeichnen konnte, „wir beide wissen gut genug, dass es sich nicht lohnt, gegen das System aufzubegehren.“ Toto jaulte, als wolle er mir zustimmen. Ich strich ihm gedankenverloren über das Fell. In zehn Jahren Streifendienst hatte ich einiges erlebt. Ich kannte sie alle, die großen und die kleinen Gauner, die Einbrecher, die Diebe und die Triebtäter. Sie hatten es gewagt, das Gesetz zu brechen und waren an ihm gescheitert. Einige kamen in die Reedukation; nach jahrelanger Konditionierung erinnerten sie sich nicht einmal mehr an den Namen ihres eigenen Vaters. Andere wurden in die Strafanstalten eingewiesen, wo sie fünfzehn Stunden täglich Steine aus den Stollen brechen mussten, um dann in den Gemeinschaftsunterkünften unter dem Joch derer zu stehen, die noch über Energiereserven verfügten. Und manche Inhaftierten verschwanden spurlos. Nicht einmal ein Begräbnis kam ihnen zustatten, wenn ihre Leiche durch einen Gully davongeschwemmt wurde, wo sie ein gefundenes Fressen für die Ratten und die Nacktmulle war, die die Kanalisation bevölkerten. Toto winselte leise, als wolle er meinen Gedanken zustimmen. Ich legte ihm die Leine an und ging mit ihm vor die Tür, um Zigaretten zu ziehen. Die Luft war feucht, und von den Tunnelwänden tropfte Kondenswasser. Toto setzte seine Marken, und ich zündete mir eine Fluppe an. Automatisch lenkten mich meine Schritte zu der Einkaufspassage im Viertel. Das Schreibwarengeschäft war noch geöffnet; ich erstand einen Block Aquarellpapier und zwei Tuben Umbra. Die beiden Verkäuferinnen schienen gut gelaunt, und ich kannte den Grund. Ich konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Sicher hatte Lechner den Bogen überspannt. Wahrscheinlich war er hier jeden Tag vorbeigeschlendert und hatte arrogant gegrinst. Es gab halt immer noch junge Burschen, die sich nicht mit dem Verbot althergebrachter Rituale abgefunden hatten und ihre Stärke aufreizend zur Schau stellten. Was blieb den hilflosen Mädchen übrig, als mit List und weiblicher Vorsicht ihre Fäden im Verborgenen zu spinnen. Es war nicht untersagt, sich abends zu einem Umtrunk zu treffen. Der Zorn des Staates entlud sich nicht gegen redliche Bürger. Geschasst wurden nur die gescheiterten Existenzen. Ich selbst hatte es mir angewöhnt, gewissenhaft zu erledigen, was von mir verlangt wurde. Meine Sehnsüchte und Wünsche sparte ich für jene Augenblicke auf, in denen ich Zeit fand, meine Farben anzumischen. Und doch lag eine schwarz gebrannte CD-ROM verräterisch in meinem Wandschrank, ein unterschlagenes Beweismittel, das mich um meine Stellung und meine Privilegien bringen konnte. Ich wagte es nicht, die CD in das Laufwerk zu schieben und das Inhaltsverzeichnis durchzublättern. Im Grunde war mit selbst nicht ganz klar, warum ich dem professionellen Reflex nicht gehorcht hatte und die CD-ROM unterschlug. Diese Handlung stand in krassem Widerspruch zu meinem konventionellen Wertesystem, zu den Mustern meiner Erziehung und den Dienstvorschriften. Ich hatte den Grenzbereich der Illegalität betreten. Ich hatte einen Diebstahl begangen, hatte Mitleid mit einem ausgemusterten Polizeihund gezeigt und auf eigene Faust verbotene Ermittlungen begonnen. Doch mochte ich auch Zweifel und Gewissensbisse verspüren, so würde ich in kommenden Tagen mein Leben ins Reine bringen. Ich würde die CD vernichten, den Hund weggeben und die Bilder an einen Sammler veräußern. Was für mich zählte, war allein, die mir zugewiesenen Aufgaben gewissenhaft zu erfüllen und dem Gesetz zu dienen, wie es meine Vorfahren seit Menschengedenken getan hatten. DRITTES KAPITEL Als ich erwachte, bemerkte ich, dass ich nicht alleine war. Mein Cousin hatte es sich im Schneidersitz auf dem Fußboden bequem gemacht und wartete auf ein Lebenszeichen von mir. Ich lachte. Die Packung hinderte mich daran, ihm die Hand zu schütteln, doch ich konnte schon wieder undeutlich nuscheln. „Armin, was machst du hier?“ Er grinste. „Deine Nachbarn haben mich angerufen. Du musst ja ein schönes Saufgelage veranstaltet haben.“ „Bist du kontrolliert worden?“ „Sicher. Aber ich hatte noch Zeit, den Apfelschnaps zu entsorgen. Meine Akte ist sauber.“ „Kannst du die Fixierung lösen?“ Er zog einen Magnetschlüssel aus der Tasche und wedelte damit vor meiner Nase herum. „Ich habe daran gedacht, aber sie beobachten uns.“ Er verstaute den Schlüssel in einer Reisetasche, die er mitgebracht hatte. Offenbar hatte er an alles gedacht: frische Wäsche, einen Discman, ein kleines Schachspiel. Ich versuchte mich aufzurichten, aber die Gurte banden mich ans Bett. Mein Kopf dröhnte; es war, als ob mir jemand eine große Käseglocke übergestülpt hätte. Ich gähnte. „Wie spät ist es?“ „Sechzehn Uhr zehn. Du hast lange geschlafen.“ „Wir müssen etwas unternehmen, Armin! Sie wollen mich in die Reedukation schicken!“ „Nur die Ruhe, Timo. Die Behandlung fängt erst in einigen Wochen an. Bis dahin haben wir Zeit.“ „Was schlägst du vor?“ „Ich werde es dir zu gegebener Zeit mitteilen.“ Armin war schon immer ein schlauer Fuchs gewesen. Während ich mich erfolglos durchs Studium quälte und Tagträumen nachhing, hatte er längst eine Lehre zum Autoschlosser absolviert. Es genügte ihm nicht, mit beiden Beinen im Berufsleben zu stehen: Ständig war er in dubiose Schwarzmarktgeschäfte verwickelt. Hauptsächlich ging es um Alkohol, doch auch um gebrauchte Kleidung, Elektrogeräte und indizierte Bücher. Stets war er der Polizei um eine Nasenlänge voraus und ließ sich nicht erwischen, ob er nun eine Originalausgabe von Heinrich Böll verhökerte oder einen Rekorder, mit dem sich das Hausvideo austricksen ließ. Nebenbei fälschte er Ausweise und polizeiliche Papiere. Wenn es jemanden gab, der mir aus der Patsche helfen konnte, dann war es Armin. Wir wurden in unserem Gespräch unterbrochen, als zwei Ärzte das Zimmer betraten. Sie reichten Armin die Hand. „Dr. Geigel und Dr. Vogel.“ „Angenehm. Armin Lechner.“ „Es ist lobenswert, dass Sie sich um Ihren Cousin kümmern, aber vergessen Sie nicht, dass er ein subversives Element ist. Die Besuchsquote könnte sich negativ auf Ihre eigene Akte auswirken.“ „Danke für den Hinweis. Ich möchte nicht allzu oft kommen.“ Dr. Geigel öffnete meine Krankenakte und zog ein Formular heraus. „Wenn Sie hier bitte unterschreiben möchten, Herr Lechner?“ Ich lachte bitter. „Wie denn?“ „Ach so.“ Dr. Vogel löste die Handfessel und hielt mir einen Kugelschreiber entgegen. Ich nahm ihn und warf einen Blick auf das Formular. „Was ist das?“ Dr. Geigel räusperte sich. „Sie nehmen an einer Safari-Studie zur Erprobung eines neuen Medikaments teil. Es handelt sich um Mapagel retard, ein Präparat, das psychotischen Schüben und depressiven Symptomen entgegenwirkt. Es ist...“ Ich unterbrach ihn. „Einen Moment. Ich habe doch keine Psychose!“ „In Ihrer Akte steht etwas anderes.“ „Handelt es sich vielleicht um einen Computerfehler?“ „Ausgeschlossen. Der Zentralrechner macht keine Fehler.“ „Sie meinen, aufgrund dieses Eintrages werde ich jetzt wie ein schizophrener Irrer behandelt?“ „Sie sind schizophren. Und vergessen Sie nicht, dass Sie Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet haben. Sie können von Glück reden, dass Sie nicht in den Isolationstrakt verlegt wurden.“ Ich unterschrieb das Dokument. Mein Cousin Armin wurde hinauskomplementiert, und meine Fesseln wurden wieder festgezurrt. Ich lächelte den Doktor zynisch an und bedankte mich. Meinen Geist kannst du nicht brechen, dachte ich, doch der Arzt wusste es besser und erwiderte das Lächeln. Dann klappte die Tür zu, und ich war allein. „Bis dahin haben wir Zeit“, hatte mein Cousin gesagt, und ich erwog meine Chancen. Ich besaß nun einen Magnetschlüssel zur Lösung der Fessel, aber die Station war hermetisch abgeriegelt. Nachts wurde die massive Zimmertür abgeschlossen; das Zimmer war durch zwei Kameras überwacht, und gegenüber saß die Nachtschwester. Könnte es mir gelingen, die Gurte mit Hilfe des Schlüssels zu lösen? Ich machte einen Versuch, und das Bett ächzte und knarrte. Bei der Schaukelei fiel das Kissen, das Bianca mir untergeschoben hatte, zu Boden. Ich sah, dass sie etwas darauf geschrieben hatte. „One kiss for Timo“, entzifferte ich, und mir wurde ganz warm. Das Kissen lag jetzt auf dem Boden. Wie sollte ich es anstellen, dass die Nachtwache nichts entdeckte? Ich beugte den Kopf über den Bettrand, aber die Fixierung hielt mich fest. Nach einer halben Stunde gab ich es auf. Erschöpft und glücklich zugleich sank ich auf die Matratze und fiel in einen bleiernen Schlaf. Am folgenden Tag weckte mich eine energische Schwester. Das Programm war wie üblich: Frühstück, Medikamentenausgabe, Gymnastik. Ich stellte mich direkt hinter die Sporttherapeutin, so dass sie mich nicht beobachten konnte, und steckte die Hände in die Taschen, während alle um mich herum eifrig den Turnübungen folgten. Nach der Gymnastik hatte ich die Gelegenheit, mich ins Stationszimmer zu schleichen. Majestätisch thronte der Computer auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers. Ich versuchte, die Zugangsberechtigung von Schwester Bianca zu knacken. Nach einigen erfolglosen Versuchen kam ich auf die Idee, es mit dem Kürzel „Timo“ zu versuchen. Das Passwort stimmte, und ich hackte mich in den Computer ein. Auf der Festplatte war ein Sicherheitsprogramm gespeichert, mit dessen Hilfe die Türschlösser kontrolliert wurden. Ich änderte die Parameter und bestimmte, dass die Sicherheitsschleuse am übernächsten Tag um 23 Uhr freigeschaltet werden sollte. Bevor der Schwindel aufflog, stahl ich mich klammheimlich aus dem Stationszimmer. Es war kein Pfleger in Sicht, doch Kathrin, meine Bekanntschaft aus dem Duschraum, musste mich wohl beobachtet haben. Sie schlich mir hinterher und verlangte eine ganze Flasche Rasierwasser dafür, dass sie Stillschweigen bewahrte. Ich ging auf den Handel ein und konnte sie sogar dazu überreden, zur gegebenen Zeit einen Anfall zu simulieren. Den Magnetschlüssel für die Fixierung versteckte ich unter der Matratze. Kurz darauf stürmten zwei Pfleger in das Zimmer, und ich wurde wieder festgeschnallt. Wenn man so allein in der Packung liegt, kommen einem die unterschiedlichsten Gedanken. Verzweiflung wechselt sich ab mit verschwommenen Kindheitserinnerungen. Panik wird zu Trotz, und Angst wird zu ohnmächtiger Wut. Die Fesseln schmerzten sehr, und ich versuchte meine missliche Lage zu verdrängen. Ich erinnerte mich an ein verbotenes Skript, das damals in Studentenkreisen kursierte. Es war eine Anleitung zur Astralprojektion. Ich hatte mich nie ernsthaft damit befasst, aber es war einen Versuch wert. Ich stellte mir vor, dass meine Körperteile nach und nach abstürben. Durch meine geschlossenen Augen sah ich mich auf dem Bett liegen, sah die Neonlampe flackern, hörte das Ticken der Uhr an der Wand. Das Licht färbte sich schwarz, und ich flog durch einen langen, dunklen Tunnel. Ich sah Indianerzelte, die sich am Rande einer Hochebene in das Gelände duckten, schaute auf dichte Laubwälder; Bären brachen durch das Unterholz. Dann blickte ich über einen weiten Ozean, den Myriaden von Fischen durchteilten. Ich sah endlose Sandstrände, die von kleinen Krebsen bevölkert wurden, und Dinosaurier, die über das Land pflügten. Wieder verdunkelte sich mein Blick; ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit verstrichen war. Grelles Licht zerstörte die Vision, und ich spürte einen heftigen Schmerz im Arm. Ich öffnete die Augen und sah, dass Dr. Geigel über mich gebeugt war und mir eine neue Spritze setzte. Ich lächelte. „Danke für die Medizin, Doktor. Und – können Sie die Gurte noch etwas straffer anziehen, ich spüre gar nichts mehr!“ Seine Miene verzog sich zu einem hässlichen Grinsen. „Ich werde Ihnen den kranken Humor schon austreiben. Schwester, noch etwas Radocyl bitte!“ Die Schwester wagte einen schwachen Protest. „Glauben Sie nicht, dass er schon genug hat?“ „Der kriegt nie genug. Ich kenne die Sorte. Wir müssen ihm einen Dämpfer aufsetzen, sonst macht er die ganze Station zu Kleinholz.“ Er verabreichte mir das Medikament und trug etwas in meine Akte ein. Dann verließ er das Zimmer. Die Schwester hängte frische Handtücher auf. Ich räusperte mich. „Wo ist Schwester Bianca?“ „Schwester Bianca arbeitet seit gestern auf einer anderen Station.“ Ich seufzte und ließ den Kopf hängen. Viel Bewegungsspielraum blieb mir nicht, da Dr. Geigel die Gurte fest angezogen hatte. Dennoch konnte ich den Magnetschlüssel unter der Matratze hervorfischen und begann mit unendlicher Geduld, die Verschlüsse zu öffnen. Ich musste vorsichtig vorgehen, da ich beobachtet wurde. Pünktlich um 23 Uhr hörte ich einen schrillen Schrei, und die beiden Nachtschwestern stürmten über den Flur. Kathrin hatte sich das Rasierwasser gespritzt und torkelte laut grölend durch die Station. Die Nachtschwestern hatten alle Hände voll zu tun, sie unter Kontrolle zu bekommen. Gleichzeitig schaltete der Computer alle Türen frei. Ich hatte die Fixierung gelöst und schlich am Stationszimmer vorbei nach draußen. Mit einem metallischen Klicken schloss sich die Doppeltür hinter mir. Ich war frei. Vor der Station parkten einige Autos. Ich schlich über den Bürgersteig und drückte mich in einen Seitentunnel. Es war schon Sperrstunde, und um diese Zeit waren nur noch die Schwarzen Sheriffs und die Polizei unterwegs. Von ferne hörte ich eine Sirene. In diesem Stadtteil kannte ich mich nicht aus; ich orientierte mich an der Beschilderung. Die Nordwestpassage lag westlich, also hielt ich mich links. Im 32. Tunnel patrouillierten gewöhnlich die Schwarzen Sheriffs. Ich nahm eine Abkürzung über die Gleise. Die U-Bahn fuhr nur im Zwei- Stunden-Takt. Die Bürger von Megalopolis K schliefen, wie es das Gesetz vorschrieb. Zwar war durch das fehlende Tageslicht kein offensichtlicher Unterschied zwischen Tag und Nacht erkennbar. Doch der Hormonhaushalt der Menschen verlangte nach einer Ruhepause, und die Polizei nutzte die Sperrstunde, um gegen die organisierte Kriminalität vorzugehen. Unvermittelt wurde mir klar, dass ich noch immer den Sender am Handgelenk trug. Die Polizei musste nur eine einfache Peilung vornehmen, um meinen Standort festzustellen. Solange ich zurückdenken konnte, trug ich den Sender. Er war zu einem Teil meiner Selbst geworden. Das Armband war aus Kevlar; ich bemühte mich vergebens, es mit den Zähnen durchzubeißen. Schließlich hämmerte ich den Sender mit aller Wucht gegen eine Hauswand. Ich hoffte, dass die empfindliche Elektronik die Wucht der Schläge nicht überstand. Wieder hörte ich eine Polizeisirene. Ich wählte eine Abkürzung durch einen Seitentunnel. Hier herrschte tagsüber Schrittverkehr, aber nachts rauschten die Autos mit hoher Geschwindigkeit über den Asphalt. Wer war außer den Ordnungshütern schon um diese Uhrzeit unterwegs? Ärzte im Notdienst, Journalisten, Arbeiter, die Nachtschicht schoben. Und die wenigen Unverbesserlichen, die alle Warnungen in den Wind schlugen und sich trotz der Sperrstunde aus dem Haus wagten. Wenn die Polizei eine Kontrolle durchführte, kamen sie mindestens vierzehn Tage in Untersuchungshaft. Orientierungslos irrte ich durch die Tunnel und Stollen von Megalopolis K. Ich hatte es schon aufgegeben, die Straßenschilder zu entziffern, da merkte ich, dass ich mich in der Nähe des Alten Reviers befand. Früher wurde hier Braunkohle gefördert, aber nach Ausbeutung der Ressourcen war die Anlage geschlossen worden. Ohne großes Federlesen wurde das Areal umzäunt und zum Reservat umfunktioniert. Hier sammelte sich der Bodensatz der Gesellschaft. Hierher krochen die verdreckten Gestalten aus dem Untergrund, wenn sie für eine Stunde dem Gestank der Kanalisation entrinnen wollten. Hier trafen sich Punks, Freaks und Kiffer. Den Behörden war das Problem bekannt, aber sie duldeten es stillschweigend. Der elektrische Zaun am Ausgang der Grube verhinderte die Ausweitung der Gesetzlosigkeit, und am Eingang wurde scharf kontrolliert. Im Alten Revier herrschte die Anarchie. Ohrenbetäubender Techno schallte aus jedem Winkel, aus jedem Flöz. Dichter Cannabisgeruch schwelte in der Luft. Jeder Zweite war hier stoned oder besoffen; es wurde gehurt, gespielt und geprügelt. Sicher war das Terrain gefährlich, doch es war die einzige Möglichkeit für die Jugend dieser Stadt, einmal über die Stränge zu schlagen und für ein paar Stunden alle Zwänge zu vergessen. Das Alte Revier war ein ideales Versteck, doch zunächst musste ich die elektronische Schutzglocke überwinden. Ich hastete durch einen dunklen Seitentunnel. Die Anwesenheit der Polizei war spürbar, sie mussten mir dicht auf den Fersen sein. Die Bunker am Tunnelrand waren mit Graffiti besprüht. Gammler hatten Zinken an die Klingelbretter geritzt. Müll stapelte sich auf dem schwach beleuchteten Asphalt. Am Ende des Tunnels konnte ich den elektrischen Zaun entdecken, der das Alte Revier begrenzte. Und dann sah ich die Lösung meines Problems: Einen riesigen weißen 16-Tonner, der auf dem Randstreifen geparkt war. Ich kletterte auf das Trittbrett. Die Fahrerkabine war leer. Mit einem Pflasterstein schlug ich das Seitenfenster ein. Das machte viel Lärm, aber in der unmittelbaren Nähe des Alten Reviers waren es die Leute anscheinend gewohnt, sich um ihre eigenen Probleme zu kümmern. Mit zittrigen Händen riss ich die Plastikverkleidung am Zündschloss ab und trennte die Kabel vom Schloss. Mit den Zähnen entfernte ich die Isolierung und schloss die Kabel kurz. Ein mächtiges Brummen dröhnte durch den Tunnel; ein Tritt auf das Gaspedal, und der Motor lief. Jetzt nichts falsch machen! Kupplung, erster Gang, Scheinwerfer an, Handbremse lösen. Ich gab Gas, und der Lkw setzte sich in Bewegung. Noch fünfzig Meter bis zum Zaun. Ich schaltete in den zweiten, den dritten Gang und gab Vollgas. Der Drehzahlmesser spielte verrückt. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte mir, dass bereits der erste Streifenwagen in den Tunnel einbog. Dann brach das tonnenschwere Gefährt mit unvorstellbarem Krach durch den Zaun. Funken sprühten, eine Sirene heulte auf. Flutlichter tauchten die Grube in grelles Licht; der Lkw fing Feuer. Mit letzter Kraft kletterte ich aus der Fahrerkabine und hastete über den Schotter in die Dunkelheit. Eine Lautsprecherstimme forderte mich zum Stehenbleiben auf. Doch ich sah nichts mehr, hörte nichts mehr, kam erst wieder zu mir, als ich über eine Zeltschnur stolperte und hart auf den Boden schlug. Ich war angelangt im Alten Revier, dem letzten Reservat der Freiheit von Megalopolis K! Die Grube, in der ich mich befand, musste sehr weiträumig sein, denn das Echo der Martinshörner klang von weitem an mein Ohr. Ich konnte meine Umgebung jedoch nicht in Augenschein nehmen, da es stockfinster war. Aber dann flammte eine Gaslampe auf, und jemand beugte sich im Lichtschein der Lampe über mich. Ein merkwürdiges Kichern durchteilte die Stille. Ich richtete mich auf und sah einen kleinen Mann mit Rastazöpfen, der neben dem Zelt stand. Er musste schon zur Genüge gebechert haben, denn sein Atem roch stark nach Alkohol. Er deutete auf meine zerrissene Hose. „Hier im Alten Revier musst du Acht geben auf deine Sachen, denn bis zum nächsten Kaufhaus ist es weit. Weiter, als du dir vorstellen kannst.“ Ich nickte. „Weißt du eine Stelle, wo ich übernachten kann?“ Wieder kicherte er. „Schlafen kannst du überall, außer neben der Latrine, dort wirst du nämlich voll geschifft.“ „Ich meine, wo ist ein sicherer Platz?“ „Ach so, du suchst Schutz? Das kostet eine Stange.“ „Wie viel?“ „Hundert Euros für den Anfang.“ Ich griff in die Tasche und blätterte das Geld hin. Der kleine Mann nahm die Scheine entgegen und knitterte sie leicht zusammen. Er schien zufrieden zu sein und wies mir mit der Lampe den Weg durch das Grubenlabyrinth. Löchrige Zelte reihten sich dicht an dicht, hier und da flackerte ein Lagerfeuer. Verkommene Gestalten ließen zu Techno- und Reggaeklängen die Schnapsflasche kreisen. Ein Mädchen warf sich mir an den Hals. „Nimm mich, es kostet nicht viel!“ Ich schüttelte sie ab und hastete hinter meinem Wegführer her, der in einem Mauerloch verschwunden war. Ich folgte ihm und fand mich in einer verlassenen U-Bahn- Haltestelle wieder. Pilze wucherten auf dem Boden. Das Licht der Gaslampe warf einen gespenstischen Schatten auf die verwitterten Sitzbänke, die Schilder und die verdreckten Kacheln. Eine Fledermaus huschte vorbei. Ratten fiepten im Dunkeln. Ich runzelte die Stirn. „Hier soll ich schlafen?“ Der Zwerg mit den Rastazöpfen grinste. „Nein, aber es ist ein guter Ort, um dich auszunehmen.“ Dann ging alles sehr schnell. Er zog ein Springmesser aus der Tasche und versuchte es mir mit Wucht in den Bauch zu rammen. Im letzten Moment konnte ich ausweichen. Er war klein, schien aber kräftig und flink genug zu sein, um gefährlich zu werden. Ich packte seinen rechten Arm und donnerte ihn gegen einen Müllcontainer. Das Messer fiel zu Boden; ich kickte es mit dem Fuß weg. Ich hebelte ihm die Arme in den Rücken und fasste in seine Tasche, zog die hundert Euros hervor. Mit einem Tritt in den Magen beendete ich den Kampf. Der Zwerg torkelte über das Pflaster, schleuderte die Gaslaterne von sich und landete auf den Gleisen. Es war stockdunkel, und ich fror. Wieder huschte mir eine Fledermaus um die Ohren. Im Dunkeln tastete ich nach dem Messer, steckte es ein und suchte nach dem Ausgang aus der Metrostation. Der Lärm von draußen leitete mich. Nun hatte ich mein Geld wieder, aber einen Platz zum Schlafen hatte ich immer noch nicht gefunden, und zudem musste ich damit rechnen, dass der Rastazwerg sich rächen würde. Das Alte Revier war ein gefährliches Terrain, und ehrlich gesagt hatte ich mir über den Fortgang meiner Flucht noch gar keine weiteren Gedanken gemacht. In einiger Entfernung flackerten die Lagerfeuer. Ich tastete mich an der Mauer entlang und stolperte über einen leeren Blechkanister. Fluchend rieb ich mir die Erde aus dem Gesicht und richtete mich wieder auf. Dabei spürte ich einen kalten Luftzug im Gesicht. Ich suchte die Mauer ab und fand einen Belüftungsschacht, der durch ein rostiges Drahtgitter verschlossen war. Mit den Füßen trat ich das Gitter kaputt und zwängte mich in den Schacht. Es war stockfinster und kalt. Leitersprossen führten nach oben. Ich kletterte gut zwanzig Meter den Schacht hinauf und erreichte eine Wartungsplattform. Der Luftzug war schneidend, und auf der Plattform wimmelte es nur so von Ohrenkneifern. Aber plötzlich war mir alles egal, die Kälte, der Dreck, der Gestank nach Urin. Ich krümmte mich zusammen, und die Müdigkeit übermannte mich. Ich mochte drei Stunden geschlafen haben, als ein Stimmengewirr mich weckte. Ein Hund bellte, und ich sah, wie jemand mit der Taschenlampe in den Schacht leuchtete. „Hier scheint er nicht zu sein.“ „Lass uns weitergehen, Zappa. Der Hund zieht in eine andere Richtung.“ Sie kletterten aus dem Schacht und entfernten sich wieder. Ich kauerte mich gegen die Mauer und faltete die Hände zum Gebet. Das war verboten. Beten wurde mit vier Wochen Zuchthaus geahndet, und es war lange her, dass ich das stumme Zwiegespräch gewagt hatte. Doch hier gab es keine Kameras, und allein die Ohrenkneifer, die Ratten und die Fledermäuse waren meine Zeugen, als ich Gott dankte und dem Regime Rache schwor. Wieder überwältigte mich der Schlaf, und ich verbrachte den Rest der Nacht auf der Plattform. Schließlich raffte ich meine müden Knochen zusammen und kletterte aus dem Schacht. Ich überdachte meine Lage. Im Alten Revier konnte ich nicht bleiben, da ich mir die ersten Feinde gemacht hatte. Ich könnte durch den Belüftungsschacht nach oben klettern, aber an der Erdoberfläche würde ich sicher nicht lange überleben. Was blieb, war der Gedanke an Rache. Zunächst brauchte ich Geld. Dann eine Schusswaffe. Und dann... Eine Ratte krabbelte über meine Füße und riss mich aus meinen Gedanken. Sie fiepte erbärmlich. Ich griff in die Tasche und zog ein kleines Stück Käse hervor, das ich noch aus dem Krankenhaus hatte. Die Ratte freute sich und verschwand mit dem Käse in der Dunkelheit. Schmerzlich machte sich mein eigener Hunger bemerkbar. Ich beschloss, das Alte Revier hinter mir zu lassen. Automatisch schlug ich den Weg zu dem verlassenen U-Bahn-Schacht ein. Irgendwohin mussten die Gleise ja führen. Es war stockfinster, und ich hatte immer noch keine Lampe. Vorsichtig tastete ich mich an der Tunnelwand entlang. Es ging ein weites Stück geradeaus. Plötzlich berührte mich jemand. Ich erschrak. Es war ein junges Mädchen, das hier die Nacht verbracht hatte. Ich verhielt mich völlig friedlich; dennoch begann sie wie eine Verrückte zu schimpfen. „Du bist doch der Scheißkerl, der letzte Nacht hier eingedrungen ist! Lass mich bloß in Frieden, sonst hetze ich dir Zappa und seine Bande auf den Hals!“ Ich verzichtete auf eine Antwort und ließ das schimpfende Mädchen hinter mir. In der Ferne konnte ich ein Licht erkennen. Der stillgelegte Tunnel traf auf eine befahrene Strecke. Der Tunnelübergang war unbewacht. Mit dem schartigen Klappmesser kämpfte ich mich durch den Stacheldraht. Dabei blieb ich mit der Jeans am Draht hängen und riss ein Loch in den Stoff. Doch schließlich hatte ich die Barrikade überwunden und stand in dem beleuchteten Teil des Tunnels. Nun durfte ich keine Zeit verlieren, damit der nächste Zug mich nicht überrollte. Ein Schild wies mir den Weg zur nächsten Station. Ich rannte, was das Zeug hielt. Meine Lungen pochten, der Schweiß lief mir über die Stirn. Als ich in der Ferne hörte, wie die Bahn sich näherte, hatte ich die Haltestelle erreicht. Mit letzter Kraft hievte ich mich auf den Bahnsteig und blieb keuchend liegen. Kaum wähnte ich mich in Sicherheit, da kam die nächste Schwierigkeit auf mich zu. Von weitem sah ich, wie ein Trupp Schwarzer Sheriffs auf mich zusteuerte. Mit einem schrillen Signalton schnappten die Türen der U-Bahn zu. Die Bahn rollte an, und ich klammerte mich auf dem Trittbrett fest. Die Sheriffs hatten mich längst entdeckt, und als ich an ihnen vorbeirauschte, hieb mir einer mit voller Gewalt den Schlagstock ins Kreuz. Der Schlag war so heftig, dass ich fast die Balance verlor. Dann tauchte die Bahn in den dunklen Schacht, und bald war das Geschrei der Schwarzen Sheriffs nicht mehr zu hören. Die Bahn raste mit einem Affenzahn über die Schienen. Der Fahrtwind blies mir voll ins Gesicht. Die Passagiere des Waggons hatten mich längst entdeckt und machten sich einen Spaß daraus, von innen gegen die Scheiben zu hämmern. Die Türscharniere boten keinen Halt, und ich sah mich schon auf die Gleise stürzen, in die Tiefe gerissen, von den Rädern zerquetscht. Doch dann erreichte die Metro die nächste Station, und ich sprang von dem Trittbrett ab. Über die Lautsprecheranlage hörte ich, wie vor einem bewaffneten U-Bahn-Surfer gewarnt wurde, der per Haftbefehl gesucht wurde. Ich versteckte mich in einem Fahrstuhl, und es gelang mir, unbemerkt über das Drehkreuz am Stationsausgang zu klettern. Jetzt befand ich mich in den Gewölben der Südstadt, einem Stadtteil, in den es mich sonst nur selten verschlug. Ich überdachte meine Lage. Meine Wohnung wurde sicher observiert, und von meinem Cousin konnte ich auch keine Hilfe erwarten. Dann fiel mir ein, dass ich vor kurzem noch mit Minou telefoniert hatte. Sie wohnte ein paar Ecken weiter. Ich schlug mir den Jackenkragen tief ins Gesicht und schlich die Fußgängerpassage entlang bis zu ihrem Wohnsilo. Sie war zu Hause. Der Türöffner surrte: Fast wähnte ich mich in Sicherheit. Mit großen grünen Augen starrte mich Minou verblüfft an, als ich vor ihrer Wohnungstür auftauchte. „Timo! Ich dachte, du wärst...“ Ich legte den Finger an die Lippen und zog die Tür hinter mir zu. „Kein Wort zu viel, Minou. Vermutlich weißt du es schon aus den Nachrichten.“ Sie nickte. Ich musste wohl einen ziemlich abgerissenen Eindruck erwecken, denn sie kramte in ihrem Portemonnaie nach ein paar Euros. Doch ich lehnte ihr Geld ab, bat nur um ein paar frische Kleidungsstücke und fragte, ob ich ihre Dusche benutzen könnte. Sie erlaubte es. Ich streifte die schmutzige Wäsche ab und freute mich wie ein Schneekönig über den warmen Wasserstrahl. Der Tag hätte so schön ausgehen können. Doch kaum hatte ich mich eingeseift, da klingelte Minous Telefon. Sie begann ein hastiges Gespräch. „Ja, er ist hier... Woher? Was weiß ich... Er hat mich völlig überrumpelt... Nein... Gut, dann verfahren wir nach Plan B...“ Ich seufzte, rubbelte mich in Windeseile trocken und zog mir die saubere Kleidung an. Es waren Frauensachen; die Hose ging mir bis zu den Knien, und der Pullover bedeckte kaum die Ellenbogen. Ich machte mir nicht die Mühe, Minou für ihre Gastfreundschaft zu danken. Ohnehin war sie zu sehr mit ihrem Telefon beschäftigt, um zu bemerken, wie ich mich klammheimlich aus dem Badezimmer verdrückte und das Appartement ohne ein weiteres Wort verließ. Langsam bekam ich ein Gefühl dafür, wie der Hase lief. Fast jeder Bürger dieser Stadt trug ein Handy bei sich. Wer konnte das ständige Gewisper aus den Telefonhörern zurückverfolgen; wer kontrollierte das hartnäckige Flüstern in allen Leitungen, den Hass und die Wut, die aus den Verstärkerämtern triefte. Es schien, als hätten die Stadtbewohner ein tödliches Netz aus Lügen, Verleumdung und Verrat gespannt, in dessen klebrige Spinnweben ich mich immer stärker verstrickte. Im Takt der Lichtgeschwindigkeit flossen die Informationen durch das Kabelnetz, verdichteten sich zu Wörtern, Sätzen, Kommandos und mündeten in eine für mich folgenschwere Konsequenz: Ich war geächtet, vogelfrei. Wohin sollte ich mich nun wenden? Wer konnte mir helfen? Ich war zu einer Gefahr geworden für alle, die mich kannten. Wer mir Unterschlupf gewährte, konnte damit rechnen, bald selbst von den Schergen der Staatssicherheit abgeholt zu werden. Hilflos irrte ich durch die Stadt. Bald wurde ich müde, und meine trägen Schritte lenkten mich in den Nordteil der Stadt. Am Worringer Friedhof war mein Irrweg zu Ende. Vielleicht konnte ich am Grab meiner Eltern etwas Frieden finden und noch eine Nacht in Freiheit verbringen. Ich schritt an der Kapelle vorbei, bog dann in einen engen Seitenstollen ein. Für die vielen Toten war in der Megalopolis kein Platz, doch um den Interessen der Bürger Rechnung zu tragen, war man einen Kompromiss eingegangen. Die Leichen wurden verbrannt; ihre Asche wurde in engen Urnenfeldern beigesetzt. Symbolisch meißelte der Steinmetz den Namen des Verstorbenen in Stein. Ich stand vor einer der großen Grabtafeln und suchte unter den vielen Eintragungen die Namen meiner Eltern. Eine Kolonne von Nacktmullen fegte quiekend zwischen meinen Beinen hindurch. Als ich mit dem Finger über die Gedenktafel strich, den Namen meines Vater nachzeichnete, ließ mich das jähe Knirschen von Schritten auf dem Kiesweg zusammenfahren. Ich wandte mich um und sah im Licht der Friedhofslaternen eine wohlbekannte Gestalt auf mich zukommen. Es war Bianca. Sie lächelte, als sie mich sah, und strich sich verlegen die Haare aus der Stirn. Ihre blauen Augen funkelten, und sie nahm mich beim Arm. „Ich dachte mir schon, dass ich dich hier finde. Die ganze Stadt ist deinetwegen in Aufruhr.“ Ich schluckte. „Bist du sicher, dass dir niemand gefolgt ist?“ „Ich glaube nicht.“ „Haben sie dich ins Verhör genommen?“ „Nicht direkt. Ich bekam lediglich einen Dienstverweis und wurde auf eine andere Station versetzt.“ „Und mein Cousin?“ „Er wird überwacht. Wir trafen uns, als er deine Sachen abholte.“ „Hast du mit ihm gesprochen?“ „Es blieb keine Zeit. Er schüttelte mir heimlich die Hand und suchte dann das Weite.“ „Was ist mit meiner Wohnung geschehen?“ „Sie wurde aufgelöst. Nach deiner Flucht wurde das Urteil gegen dich verschärft. Wenn sie dich fangen, kommst du nie wieder frei.“ „Damit kann ich leben. Aber der Computer...“ „Ja?“ „Was geschah mit meiner Computeranlage?“ „Sie landete auf dem Sperrmüll.“ „Vergebens.“ Sie lachte. „Wirklich, Timo, wir haben vielleicht noch eine Stunde, die wir gemeinsam verbringen können, und alles, wonach du mich fragst, ist dein verflixter Computer.“ „Du verstehst mich falsch. Es war ein Virus auf dem Laufwerk. Ich habe fast drei Jahre lang daran gearbeitet.“ Ich wollte ihr alles erklären: Die jahrelange Wut im Bauch, die mich dazu gebracht hatte, im Geheimen an einer digitalen Zeitbombe zu basteln. Die schlaflosen Nächte, die Papierfahnen voller Opcodes und Hexadezimalzahlen, die Programmierfehler und das verzweifelte Debugging, der gewaltige Kaffeekonsum und der nächtelange Kampf gegen die Müdigkeit. Der Prototyp des fertigen Programms, den ich auf eine CD brannte und diese auf meinem Schreibtisch deponierte, in der Hoffnung, den Virus eines Tages unbemerkt in Umlauf zu bringen. Doch Bianca hörte mir gar nicht zu, und ehe ich mich versah, hatte sie mir einen Kuss auf die Lippen gehaucht. Ich fuhr zusammen und stolperte rückwärts gegen die Stollenwand. Bianca sah mich fassungslos an und begann dann zu weinen, während ich verzweifelt versuchte, mich zu entschuldigen. Es war vergebens: Zu lange hatte ich meine Gefühle unterdrückt, hatte mich in virtuelle Welten geflüchtet und jede Beziehung gemieden. Jetzt sah ich, dass ich schon lange nicht mehr zu der Liebe und Geborgenheit fähig war, nach der ich mich so gesehnt hatte. Bianca wusste, was sie tat, und natürlich war ihr klar, dass unsere Zuneigung keine Zukunft hatte. Aber sie hatte nicht geahnt, wie sehr ich in meine Phantasie verstrickt war und wie schwer es mir fiel, die Zwänge des Alltags abzulegen. Ausgerechnet am Grab meiner Eltern wurde mir klar, dass ich selbst auch nur ein Opfer von jahrelanger Konditionierung war. Und so scheiterte unser erstes Rendezvous an dem, wofür zu kämpfen ich mir immer eingebildet hatte: An der täglichen Perversion des Lebens in dieser verruchten Rattenstadt, der Unterdrückung, Bespitzelung und Denunziation, die jedes Gefühl von Zärtlichkeit und Vertrauen im Keim erstickte. VIERTES KAPITEL Auf dem Präsidium roch es nach Ärger. Ich konnte den Verdruss der Kollegen förmlich spüren, als ich die engen Korridore entlangschritt. Im Büro des Polizeirats bestätigte sich mein Verdacht: Timo Lechner war ausgebüxt. Der Chef hatte seinen Hemdkragen aufgeknöpft, um noch etwas Luft zu bekommen. Sein Gesicht war hochrot, und auf seiner Stirn perlte der Schweiß. „Müller!“ brüllte er los, als ich den ersten Fuß in das Zimmer setzte, „Müller, ich mach dich fertig!“ Ich wagte einen schwachen Protest. „Herr Polizeirat, ich bin mir keiner Schuld bewusst.“ „Maul halten! Vergiss nicht, ich bin hier der Vorgesetzte!“ „Aber was...“ „Was passiert ist? Herr im Himmel, schenk mir Geduld. Von allen Ochsen, die unter meinem Kommando stehen, bist du mit Abstand der dämlichste. Du hast wieder Bockmist gebaut, und zwar gründlich.“ „Aber...“ „Nichts aber. Deine Verhaftung war für die Katz. Timo Lechner ist auf der Flucht.“ „Timo Lechner? Sie meinen, er hat...“ „Genau das. Er ist uns durch die Lappen gegangen. Begreifst du nun, in welchem Schlamassel ich stecke? Auf der Flucht. Ha!“ Ich zuckte mit den Schultern. „Entschuldigen Sie, Herr Polizeirat. Ich bedauere es, wenn ich den Fall nicht sorgsam genug angegangen bin. Timo Lechner ist ein harter Brocken. Aber es muss doch möglich sein, ihn mit Hilfe der Überwachungselektronik dingfest zu machen.“ „Das will ich hoffen, Müller! Wenn einer es büßen muss, dann bist es sowieso du. Also troll dich aus meinem Büro und nimm den Mistfink in Gewahrsam. Und wenn du Gewalt anwenden musst, umso besser. Ich will den Kretin binnen dreier Stunden wieder in der Klapsmühle sehen. Und seine Helfer kannst du gleich mitverhaften. Also leg einen Zahn zu – ich will dich hier nicht länger ertragen müssen.“ Ich nahm ihn beim Wort und verließ schleunigst das Büro. Bevor die Tür zuklappte, hörte ich ihn noch schnaufen: „Entschuldigt sich dieser Versager tatsächlich. Wenn der Marschall von diesem Misserfolg erfährt, bin ich geliefert.“ Niedergeschlagen trottete ich zu meinem Büro. Schlimm genug, dass ich Mitleid verspürt hatte mit diesem Lechner. Nun hatte sich die Nachlässigkeit meiner Ermittlungen gegen mich selbst gewandt. Ich wusste, dass der Polizeirat keine Witze machte, wenn er dieses Gerangel auf meinen Schultern austrug. Solange ich zurückdenken konnte, war ich der Sündenbock, wenn der Chef einen Misserfolg verbuchen musste. Manche sind dazu geboren, als Prügelknabe zu dienen, dachte ich und schloss die Tür zu meinem Büro auf. Ich betrat den Raum und sah fassungslos, wie Arenz in meinem Aktenschrank herumwühlte. Ich räusperte mich pikiert. Arenz nahm überhaupt keine Notiz von mir. Er zerfledderte die Dossiers und strahlte zufrieden auf, als er eine vergilbte Karteikarte aus dem Bündel der Unterlagen zog. „Hier ist sie! Ich wusste doch, dass du ein Kümmelspalter bist, Kollege.“ Es war die Akte von Timos Vater. Arenz wedelte damit vor meiner Nase herum und gab seiner Schadenfreude Ausdruck. „Hat dir der Chef den Kopf gewaschen? Ich versichere dir, das war nur der Vorgeschmack auf das, was dich in Kürze erwartet. Weißt du eigentlich, was dieser Lechner für eine Familiengeschichte hat?“ „Nein, wieso?“ „Sein Vater war der übelste Schwerenöter der ganzen Stadt. Während der großen Unruhen vor zwanzig Jahren hat er ganze Heerscharen von Studentinnen vernascht, um sich schließlich bei Timos Mutter, einer gewissen Hanna Lechner, auszuweinen. Dann geriet er vollends auf die schiefe Bahn und wurde Kaderleiter der Revolutionären Stadtguerilla. Im Zuge der Säuberungen beschloss man, seinen Selbstmord zu inszenieren. Doch er war auf der Hut und riss noch drei Agenten mit in den Tod, bevor Freund Hein ihn ereilte.“ Ich schüttelte verblüfft den Kopf. „Und diese Information entnimmst du ausgerechnet meinem Aktenschrank?“ „Du hast es erfasst, Müller. Und ich verspreche dir, es war das letzte Mal, dass du die Akte zu Gesicht bekommen hast. Der Fall bekommt eine Klassifizierung und fällt damit unter strengste Geheimhaltung.“ „Moment mal. Ich dachte, wir sind Partner.“ „Waren wir. Aber diesen Schlamassel kannst du alleine ausbaden.“ Gut gelaunt sackte er die Karteikarte ein und stolzierte pfeifend aus meinem Büro. Ich barg den Kopf in den Händen und sank auf meinem Schreibtisch zusammen. Die Schmähungen des Polizeirats, der Spott der Kollegen und jetzt auch noch einen Freizeit-Terroristen am Hals, das war einfach zu viel. Wenn Timo Lechner in die Fußstapfen seines Vaters trat und der revolutionären Bewegung nacheiferte, dann hatte ich ein ernsthaftes Problem. Was sollte aus Toto werden, wenn ich den Fall allein bearbeiten musste und rund um die Uhr Ermittlungen ausführte? Wie sollte ich die zynischen Witze im Präsidium ertragen, wenn ich keinen Ausgleich durch die Malerei mehr hatte und niemanden kannte, dem ich mich anvertrauen konnte? Bekümmert öffnete ich den Aktenschrank und sah nach, was mir noch an Unterlagen blieb. Ich fand ein schmales Dossier über Timos Mutter und ein kurzes Führungszeugnis von Timo selbst. Hanna Lechner war Zeit ihres Lebens eine rechtschaffene, geachtete Bürgerin. Sie hatte Pädagogik studiert und war nach acht Semestern Regelstudienzeit in das Referendariat gegangen. Mit Auszeichnung bestand sie die Prüfung für das höhere Lehramt und unterrichtete anschließend zwanzig Jahre an einem Gymnasium. Ihre Fächer waren Mathematik und Geschichte, doch ihr eigentliches Interesse galt der deutschen Sprache. Dies war der schwarze Punkt in ihrer ansonsten makellosen Karriere. Während der Studentenrevolte hatte sie alternative Seminare organisiert, in denen sie die Verkümmerung der deutschen Sprache anprangerte. Mit der kulturellen Säuberung, die Ende des 21. Jahrhunderts stattfand, war nahezu alle klassische Dichtkunst verloren gegangen. Bücher wurden vernichtet, Archive gingen in Flammen auf, Bibliotheken wurden eingestampft. Gedruckt wurden nur noch Staatsdekrete, amtliche Erlasse und Behördenkorrespondenz. Alle Beiträge für Radio und Fernsehen wurden vor ihrer Ausstrahlung von speziellen Parsern überarbeitet. Was dabei herauskam, war blutleeres Amtsdeutsch, fades Gewäsch auf allen Kanälen. Viele Worte kamen auf die rote Liste und durften überhaupt nicht mehr verwendet werden. Die Leute gewöhnten sich daran, nur noch in Phrasen zu reden, die ihnen in den Mund gelegt wurden. Wo keine Vielfalt des sprachlichen Ausdrucks herrschte, da bildeten sich auch keine kritischen Gedanken. Hanna Lechner versuchte, vergessene Worte wieder zum Leben zu erwecken und alte Prosa ins Gedächtnis zu rufen. Ihre Ideen fanden großen Anklang in studentischen Kreisen, doch als die Armee aufmarschierte und die illegalen Versammlungen mit Wasserwerfern und Tränengas sprengte, besann sich die angehende Lehrerin auf ihren Nationalstolz und widerrief ihre Thesen. Und wenn sie im Geschichtsunterricht auch dann und wann einen verbotenen Ausdruck einfließen ließ, so fand sie sich schließlich damit ab, dass der deutsche Wortschatz auf ein Fünftel seines ursprünglichen Volumens zusammengeschrumpft war. Hart hatte sie mit sich gerungen, als sie ihre Prosasammlung vernichtete. Doch ihre Lyrik war in den Bunkern der Megalopolis fehl am Platze. Ihre letzte revolutionäre Tat bestand darin, einen Sohn in die Welt zu setzen, gezeugt von einem stadtbekannten Guerillero, der kurz danach unter mysteriösen Umständen den Tod fand. Es spricht sich leicht daher: Ein Kind austragen. Doch man muss sich vor Augen halten, dass es sich dabei schon damals um ein kapitales Verbrechen handelte, das mit mehrjähriger Gefängnisstrafe geahndet wurde. Hanna Lechner kam nur deswegen ungeschoren davon, weil der Schuldirektor seine Beziehungen spielen ließ und sie mit Hilfe einiger gefälschter Atteste nachweisen konnte, dass sie sich lediglich als Leihmutter zur Verfügung stellte. Sie gab vor, das Kind eines angesehenen Wissenschaftlers auszutragen. Natürlich wusste jeder im Viertel Bescheid, wie sich die Geschichte tatsächlich zugetragen hatte. Doch mit der Zeit zerstreuten sich die Gerüchte, und Hanna Lechner trug das ihre dazu bei, dass nach ein paar Jahren niemand mehr so genau wusste, was sich in jenen Tagen des Aufruhrs und der Meinungsvielfalt abgespielt hatte. Ich legte die Akte von Timos Mutter beiseite und warf einen Blick auf das Führungszeugnis von Timo Lechner selbst. Timo galt in der Grundschule als aufgewecktes Kind und durfte im Alter von zehn Jahren auf das Gymnasium wechseln. Er war lebhaft und mitteilsam, doch den frühen Tod seines Vaters hatte er nie verkraftet. Mit den Jahren kapselte er sich ab, wurde verschlossen und mürrisch, ein verdrossener Einzelgänger. In der Pubertät bildete sich diese Charaktereigenschaft noch deutlicher heraus. Timo verbrachte seine Freizeit ausschließlich vor dem Computer und schlug sich die Nächte um die Ohren, indem er Zugangsberechtigungen knackte. Er schrieb kleinere Programme in Assembler, für die sich außer seinem Informatiklehrer jedoch niemand interessierte. Seine Lehrer hielten große Stücke auf Timo, unter den Mitschülern jedoch war er als Streber verschrien. Dann kam der Tag des Abiturs, und Timo verbaute sich seine Zukunft endgültig. Er hielt aus dem Stegreif eine flammende Abiturrede im Geiste der alten Revolutionäre. Von einem Tag auf den anderen wurde er gesellschaftlich geächtet: Er fand keinen Arbeitsplatz, fiel durch das Studium und lebte schließlich in einem kellerartigen Loch von 200 Euros Sozialhilfe. Kein Wunder, dass er nach all den mageren Jahren eine Mordswut im Bauch hatte. Sein Psychologe wies mehrfach darauf hin, dass sich hier eine Gefahr für die Allgemeinheit entwickelte. Doch die Mahnungen verhallten im Dickicht der Bürokratie. Und so lebte Timo Lechner jahrelang wie ein Hund, verbittert, hasserfüllt, voller Zorn über die tägliche Ungerechtigkeit. Ich klappte die Akte zu und schloss sie im Schreibtisch ein. Dann verließ ich das Büro. Ich wollte versuchen, im Bundesarchiv und beim Ordnungsamt weitere Informationen aufzutreiben. Missmutig trottete ich über den Flur des Präsidiums. Aus den anliegenden Büros ertönte das Tackern der Schreibmaschinen. Aus Sicherheitsgründen wurden die Berichte auf mechanischen Schreibmaschinen getippt wie seit eh und je. Bei allem Diensteifer fanden die Kollegen immer noch Zeit, ihre Witze über mich zu reißen. „Schaut, da ist der tumbe Müller, er stellt wieder den Weltrekord im Marathonlaufen auf. He, Müller! Bring mir eine Cola vom Automaten mit, wenn du am anderen Ende der Welt nach genetischen Fingerabdrücken gesucht hast.“ Ich schaltete die Ohren auf Durchzug und machte mich aus dem Staub. Draußen war wieder Smogalarm, die beißenden Autoabgase und der Gestank aus der Kanalisation wehten mir ungehindert ins Gesicht. Aus Rücksicht auf die Umwelt verzichtete ich darauf, den Dienstwagen zu benutzen und zwängte mich in die überfüllte U-Bahn. In meiner Polizeiuniform fiel ich natürlich auf, und ein paar vorlaute Jugendliche nahmen dies zum Anlass für ihre Kalauer. „Steine auf die Bullenschweine! Schaut den Grünfrosch an, gleich fängt er an zu quaken!“ Ich tat so, als hätte ich nichts gehört. Das Straßenbahnfahren war schon in Zivilkleidung unerträglich, doch mit einer Uniform am Leibe konnte man gleich sein Testament abfassen. Hätte mich nicht die Pistole daran erinnert, dass ich den halbwüchsigen Burschen überlegen war, so wäre mein Selbstwertgefühl ganz den Bach heruntergegangen. Aber mit dem Dienstausweis in der Tasche und der Waffe im Halfter begnügte ich mich damit, mir die Gesichter der Störenfriede einzuprägen, um sie bei einer späteren Kontrolle gründlich in die Mangel zu nehmen. Da Timo Lechners Appartement direkt auf dem Weg zum Ordnungsamt lag, nahm ich den Umweg in Kauf und warf einen Blick auf seine vier Wände. Wohnung konnte man dieses dunkle Loch in der untersten Etage einer Mietskaserne eigentlich nicht nennen. Das Zimmer war acht Quadratmeter groß, schlecht beleuchtet und mangelhaft belüftet. Aus dem Wasserhahn über dem dreckigen Waschbecken in der Zimmerecke floss nur ein klägliches Rinnsal. Ein schmutziges Handtuch hing an der Wand, und auch der Bettbezug hätte eine Wäsche dringend nötig gehabt. Das Bett war Marke Eigenbau; es quietschte erbärmlich, als ich mich zur Probe darauf niederließ. Das Einzige, woran Timo Lechner nicht gespart hatte, war die EDV-Anlage. Auf dem kleinen Schreibtisch stand ein nagelneuer Bluewing- Rechner mit Parallelprozessor, 100 Gigabyte RAM und einem Hochleistungsmodem. Wie Lechner das Gerät von lumpigen 200 Euros Sozialhilfe finanzieren konnte, war mir schleierhaft. Es roch nach Schwarzarbeit. Auch die Harddisk war Profiware, und die Programmauswahl reichte von einem einfachen Z+-Compiler über die gängige Bürosoftware bis hin zu einem parallelen KI-System mit integriertem Datenmodul, auf dem locker die journalistischen Publikationen der letzten 200 Jahre Platz gefunden hätten. Timo Lechner war in der Tat immer noch ein ernst zu nehmender Programmierer, auch wenn niemand an seiner Arbeit interessiert war. Ich erinnerte mich an die CD-Rom, die daheim in meiner Schreibtischschublade ruhte, und beschloss, sie mit Samthandschuhen anzufassen. Woran auch immer Timo Lechner gearbeitet hatte, er musste es gründlich getan haben, und die zerstörerische Intelligenz seines Schaffens jagte mir einen Schauder über den Rücken. Dies war die Wohnstätte eines Menschen, der an dem System gescheitert war und all seine Energie darauf gerichtet hatte, eine digitale Zeitbombe zu basteln. Ich beseitigte die Spuren der Verhaftung – Scherben, Müll und verschüttetes Kaffeepulver – und gönnte mir im Anschluss an die Wohnungskontrolle eine Zigarettenpause. Der Tabak, den ich direkt von der Kommandantur bezog, war lausiger Verschnitt. Er brannte schlecht, enthielt kaum Nikotin, doch umso mehr Kondensat. Egal, ich brauchte das Gefühl, einen Glimmstengel in der Hand zu halten, anders bekam ich die Nervosität nicht in den Griff. Ich inhalierte den Rauch und gab mir Mühe, das Rauschen des Funkgerätes zu ignorieren, das eine Schießerei drei Blocks weiter vermeldete. Die Zentrale fragte mehrmals an: „Florian 11, bitte melden.“ Ich stellte mich tot; sollten sie meinetwegen glauben, dass der Funkkontakt gestört war. Ich machte ungern von der Schusswaffe Gebrauch. Doch das Verbrechen war im Vormarsch, und auch die Polizei rüstete auf. In wenigen Wochen sollte der Marschall die Stadt besuchen: Bis dahin musste das Tunnelsystem sicher sein. Der Marschall war die höchste Autorität im Sektor D, und seine Sicherheit war absolut vorrangig. Ich selbst hatte mich kurze Zeit zuvor für den Personenschutz beworben, obwohl ich sonst nicht sehr karrierebewusst war. Das Leben eines Staatsoberhaupts zu schützen, war sicher ein Glanzpunkt in der Laufbahn eines einfachen Polizisten. Ich malte mir gerade aus, wie es wäre, neben der gepanzerten Limousine des Marschalls herzulaufen, als das Drängen der Zentrale immer nachdrücklicher wurde. „Florian 11, bitte kommen. Florian 11, bitte kommen.“ Entnervt griff ich zum Funkgerät. „Hier ist Florian 11, ich höre.“ „Begeben Sie sich zum Ende des 31. Tunnels, Ecke Maternus-Unterführung, und sichern Sie den Abgang B.“ „Verstanden.“ Ich zog die Tür hinter mir zu und begab mich zum Einsatzort. Arenz und Seltz erwarteten mich bereits. Mit knappen Worten informierten sie mich über das Geschehen. Eine Gruppe junger Kurden hatte sich eine Schießerei mit den Gästen eines Spielsalons geliefert. Sie waren in mehreren gestohlenen Wagen am Tatort aufgekreuzt und hatten ein Dutzend Schüsse auf einen stadtbekannten Dealer und dessen Leibwache abgefeuert. Dann hatten sie die Tatwaffen in einem Gully verschwinden lassen und hatten Fersengeld gegeben. Einigen der Täter gelang die Flucht, doch drei verdächtige Kurden waren unweit des Tatortes gefasst worden. Eigentlich hatte sich das Viertel längst wieder beruhigt, doch um die Anwohner zufrieden zu stellen, stand jetzt an jeder Ecke ein Einsatzteam. Wie Seltz berichtete, war vor der Polizei schon die Boulevardpresse am Tatort anwesend. Ein Sensationsreporter hatte eine Hand voll Filme verknipst und die eingeschüchterten Augenzeugen durch geschickte Beeinflussung dazu bewegt, den an sich alltäglichen Einsatz zu einem Massaker hochzuspielen. Sicher würde es der Presse gelingen, das Videoband irgendeines perversen Hobbyfilmers aufzutreiben, der den Schusswechsel live mitgeschnitten hatte. War kein Band zur Hand, so konnte man immer noch ein Filmstudio damit beauftragen, die Szene nachzustellen und mit Originalaufnahmen des Tatorts zusammenzuschneiden, um das blutige Resultat dann in Zeitlupe und Großaufnahme in den Acht-Uhr-Nachrichten zu präsentieren. Ich überredete Arenz und Seltz, den Posten alleine zu sichern, und machte mich auf den Weg zum Ordnungsamt. Natürlich war die Behörde hoffnungslos überfüllt. Ich drängelte mich an der Schlange vor dem zuständigen Schalter vorbei und wollte gerade meinen Dienstausweis vorzeigen, da keifte die Beamtin hinter dem Schalter auch schon los. „Stellen Sie sich gefälligst hinten an, die anderen warten ja schließlich auch.“ „Aber ich...“ „Hinten anstellen, habe ich gesagt.“ Jetzt riss mir der Geduldsfaden. „Hören Sie mal gut zu, Sie alte Krämerseele. Ich bin Polizeibeamter und führe wichtige Ermittlungen durch. Wenn Sie meine Arbeit behindern wollen, kann ich Sie gleich mit aufs Revier nehmen.“ Meine Tirade ließ sie völlig kalt. Sie zog die Augenbrauen einen Millimeter höher und musterte mich abschätzig. „Was wollen Sie?“ „Die Akte Timo Lechner, und zwar sofort.“ Sie tippte etwas in den Computer und räusperte sich. „Ich fürchte, ich muss Ihnen die Information vorenthalten.“ „Wie bitte?“ „Der Amtsleiter hält die Akte unter Verschluss. Es tut mir sehr leid, aber ich kann Ihnen nicht behilflich sein.“ Bevor sie sich versah, hatte ich einen Satz über den Schreibtisch gemacht und schielte über ihre Schulter auf den Monitor. Von Geheimhaltung war keine Rede. Die Akte war klar und deutlich auf dem Bildschirm zu lesen. Ich beschloss, die Sachbearbeiterin zu ignorieren und druckte alle Daten aus, die mir von Nutzen waren. Dann hechtete ich über den Schreibtisch zurück in die Schalterhalle, bevor sich ein Problem mit dem Sicherheitsdienst auftat. Die Leute in der Schlange johlten, und die Giftspritze am Computer keifte laut hinter mir her. Im Bundesarchiv waren die Beamten hilfsbereiter, und ich bekam umgehend alle Unterlagen, die den Fall Lechner betrafen. Zu Hause wertete ich meine Beute aus. Timo Lechner war vom Militärdienst ausgemustert worden, weil die Behörden seine Persönlichkeit als untragbar einstuften. Wörtlich hieß es: „... wird aufgrund des destruktiven Potenzials dieses Wehrpflichtigen sehr davon abgeraten, ihn in die Reihen der Bundeswehr aufzunehmen.“ Sie hatten wohl befürchtet, er könne die obligatorischen Kenntnisse im Dienst an der Waffe gegen diejenigen richten, unter deren Fahne er dienen wollte. Nach der Schule hatte Timo Lechner in dem Betrieb seines Onkels gejobbt. Er gab Daten am Computer ein und arbeitete in der Packerei, wo er Bücher versandfertig machte. Wenig später begann er ein Informatikstudium, das er jedoch nach zwei Semestern wieder abbrach. Anschließend versuchte er sich als Lkw- Fahrer. Aufgrund gesundheitlicher Beschwerden rasselte er durch die Führerscheinprüfung. Schließlich schien er sich damit abzufinden, auf dem Arbeitsmarkt nicht gefragt zu sein, und er beantragte Sozialhilfe. Jahrelang lebte er von 200 Euros monatlich; alle Anträge auf eine größere Wohnung wurden abschlägig beschieden. Der Sachbearbeiter von Timo, ein gewisser Herr Stoofbach, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den erfolglosen Liederjan zu schikanieren. In regelmäßigen Abständen versuchte er ihm nachzuweisen, dass er illegal beschäftigt sei. Doch Timo Lechner ließ sich nicht bei der Schwarzarbeit ertappen. Die Nachbarn gaben zu Protokoll, er säße nur den ganzen Tag auf seinem Zimmer, rauchte und sähe fern. Möglicherweise verschönerte er sich den einen oder anderen Abend mit einer Flasche Apfelwein. Doch was sich in seinem Kopf abspielte, wenn er abends alleine vor dem Fernseher saß und seinen Wein trank, das wusste kein Mensch. Er hatte alle Einladungen des Sozialarbeiters ausgeschlagen, war nicht zur Therapie erschienen und weigerte sich ebenfalls, die Angebote des Selbsthilfezentrums wahrzunehmen. Was musste das für ein Gefühl sein, für immer aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, auf dem Arbeitsmarkt keine Chance zu haben, sozial geächtet, politisch gebrandmarkt und arm wie eine Kirchenmaus? Falls Timo Lechner jemals an den Drücker kam, dann konnte man nur beten, dass er sich auf die humanen Ideale seiner Jugend besann. Ich legte die Akten beiseite und stellte Toto einen Napf mit Hundefutter hin. Dann nahm ich ein Bild in Augenschein, das mir eine gute Bekannte überantwortet hatte. Es war ein historisches Ölgemälde, das den Speicher eines alten Bauernhauses zeigte, der in das Dämmerlicht des späten Nachmittags getaucht war. Bettlaken waren quer im Raum zum Trocknen aufgehängt. In der Mitte des Speichers stand ein alter Holzstuhl, der Vereinsamung und Eigenbrötelei ausstrahlte. Das Bild wirkte wie ein Abgesang auf bäurische Traditionen. Sicher war das hinfällige Fachwerkhaus längst in Flammen aufgegangen, sicher war der Künstler längst verstorben, der versucht hatte, den Kontrast zwischen der modernen Industriegesellschaft und dem Wertesystem des Ackermannes auf Leinwand zu bannen. Aus den Falten der trocknenden Laken und dem Schatten den leeren Stuhles auf dem Parkett sprach eine bittere Absurdität, die der Maler schmerzhaft empfunden haben musste. Meine Bekannte hatte mir das Gemälde mit der Bitte anvertraut, die schadhaften Stellen auszubessern und die Farben aufzufrischen. Durch zahlreiche Umzüge hatte das Bild gelitten, und die Farben waren durch widrige Lichteinflüsse verblasst. Ich rieb die Leinwand vorsichtig mit einem Tuch ab, um den Staub zu entfernen. Dann begann ich das Bild mit angetrocknetem Spülmittel zu säubern. Nikotin hatte sich über die Farben gelegt. Langsam erhellte sich der Hintergrund, aber an einigen Stellen bröckelten Farbpartikel von der Leinwand ab. Ich mischte Tempera an und versuchte mit matten Farbtönen die Kratzer auf dem Gemälde zu überdecken. Es war eine Sisyphusarbeit, denn das Bild war im Laufe der Jahre nachgedunkelt, und es war schwer, den richtigen Farbton zu treffen. Aus reiner Gefälligkeit hatte ich mich dazu bereit erklärt, das Gemälde wiederherzustellen, obwohl ich mich nicht als Kunstrestaurator verstand und lieber meine eigenen Impressionen auf der Leinwand festhielt. Ohnehin hatte die Kunst keine Zukunft in einer Gesellschaft, die Konsum und Produktion diktierte und die Einsamkeit des Schaffenden schlichtweg überging. Ich konnte froh sein, wenn es überhaupt noch jemanden gab, der meine Pinselstriche nicht als Schweinerei abtat und den Wert eines alten Gemäldes nachempfinden konnte. Es war schon spät in der Nacht, als ich die Pinsel auswusch und die Palette säuberte. Toto schlief friedlich in seiner Ecke, und ich räumte das Bild beiseite, um nicht aus Versehen in der Ermüdung dagegen zu stoßen. Was hätte ich dafür gegeben, einmal das helle Tageslicht auf der Leinwand festzuhalten und die wärmenden Strahlen der Sonne im Nacken zu spüren, während ich den Pinsel führte. Doch die frische Luft war tödlich, und in dem Schneegestöber an der Erdoberfläche wären mir sicher die Finger abgefroren. Ich war dazu verdammt, im Halbdunkel meines viel zu engen Appartements die Visionen meiner Seele in Bildern auszudrücken, und außer einer Hand voll guter Bekannter interessierte sich niemand für meine Werke. Traurig rauchte ich noch eine Zigarette – das war eine der letzten Zerstreuungen, die mir blieben – und löschte das Licht. Mitten in der Nacht fuhr ich aus dem Schlaf hoch, da das Telefon unbarmherzig schrillte. Ich torkelte aus dem Bett, stolperte über ein Stromkabel und riss das Telefon vom Schreibtisch. Es war Arenz. „Hör gut zu, alte Schlafmütze, ich empfehle dir, den Fernseher augenblicklich einzuschalten.“ Ich fluchte. „Zum Teufel, was soll das? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“ Arenz blieb hart. „Das erste Programm, bitte.“ Ich fischte die Fernbedienung vom Boden und knipste den Fernseher an. Die Bildröhre summte, und bald darauf sah ich eine mir wohl bekannte Gestalt auf der Mattscheibe. Es war Timo Lechner. Er kletterte in einen aufgebrochenen Lkw, schloss die Zündung kurz und bretterte dann mit einer Mordsgeschwindigkeit in den Drahtverhau, der das Alte Revier umzäunte. Das Bild verwackelte, und ich ahnte es mehr, als dass ich es sah, wie die schwarze Gestalt aus der Fahrerkanzel kroch, um in dem Dunkel der angrenzenden Schächte zu verschwinden. Die Stimme des Fernsehansagers überschlug sich vor Erregung: „... gelang es gestern Abend einem aus der Psychiatrie entflohenen Gewaltverbrecher, die elektronische Schutzglocke am Alten Revier zu durchbrechen und das Sicherheitspersonal sowie die Polizeidienstkräfte der halben Stadt zum Narren zu halten.“ Ich schaltete den Fernseher aus und griff zum Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung konnte ich Arenz trocken lachen hören. „Siehst du, Müller, die reden von dir. Diese Flucht geht auf dein Konto, und ich möchte dir empfehlen, den Halunken umgehend zu stellen. Der Chef hat einen Tobsuchtsanfall, und allem Anschein nach hat man sogar in der Kommandantur von der Sache Wind bekommen.“ Ich seufzte. „Könnt ihr mir nicht ein wenig Arbeit abnehmen?“ „Nun, Müller, ich bin kein Unmensch. Ich schlage vor, dass ich mir mit Seltz den Zaunschaden ansehe, während du die nähere Umgebung von Lechner durchleuchtest.“ „Entschuldige, wie spät ist es eigentlich?“ „Vier Uhr früh. Viel Glück bei der Arbeit.“ „Danke.“ Es klickte im Hörer, und die Verbindung war unterbrochen. Mühsam suchte ich meine Ausrüstung zusammen und goss einen starken Kaffee auf. Manchmal verfluchte ich meinen Beruf. Ich beschloss, mein Glück zunächst bei Timo Lechners Cousin zu versuchen. Nach allem, was ich über Armin Lechner wusste, würde er sich sicherlich nicht bei einer Gesetzesübertretung ertappen lassen. Doch vielleicht kannte er Timo Lechners Pläne, und ich könnte ihm unter Androhung juristischer Konsequenzen einige Informationen entlocken. Die Uhrzeit schien mir günstig für ein Verhör, und nachdem ich ein kleines Tonbandgerät unter der Jacke versteckt hatte, machte ich mich auf den Weg. Die Tunnel waren leer, denn es war noch Sperrstunde, und ich konnte nach Herzenslust auf das Gaspedal treten. Ich parkte direkt vor Armin Lechners Appartement und klingelte Sturm. Erst dachte ich, er sei nicht zu Hause, und überlegte schon, ob ich einen passenden Dietrich aus dem Kofferraum holen sollte. Doch dann – nach einer halben Ewigkeit – summte der Türöffner, und ich betrat das Treppenhaus. Armin Lechner wohnte im ersten Stock; ich hastete die enge Treppe hoch, um ihm möglichst wenig Zeit zu geben, seine Wohnung in Ordnung zu bringen. Sicher hatte er schon bemerkt, dass ein Polizeifahrzeug vor seinem Haus parkte. Armin Lechner wirkte aufgeweckt und nicht im Mindesten verblüfft, als er mir die Tür öffnete. Er trug eine verwaschene Turnhose und ein löchriges T-Shirt, offensichtlich sein bevorzugtes Nachtgewand. Zu meiner Verblüffung begrüßte er mich mit meinem korrekten Namen. „Guten Morgen, Wachtmeister Müller. Ich nehme an, Sie suchen meinen Cousin.“ „Sie haben es erfasst.“ „Nun, ich muss Sie enttäuschen. Er ist nicht hier.“ Ich betrat die Wohnung und begann ungefragt die Räumlichkeiten in Augenschein zu nehmen. Durch einen schmalen Flur ging es in das Schlafzimmer, in dem ein hölzernes Bett und ein geräumiger Kleiderschrank standen. Nebenan lag ein zweites Zimmer, das einen großen Schreibtisch, einen Fernseher und zwei Bücherregale enthielt. Ich überflog die Titel, die in dem Regal ordentlich aufgereiht waren, konnte aber keine verbotene Literatur entdecken. Der Fernseher lief, und ich begriff, dass Armin Lechner die Nachrichten mitverfolgt hatte. So war ihm genügend Zeit geblieben, seine Wohnung aufzuräumen und sich auf den ungebetenen Besuch vorzubereiten. Der Überraschungseffekt war vertan, und ich verfluchte insgeheim die verflixte Presse, die wieder einmal versucht hatte, sich als vierte Gewalt im Staate zu präsentieren. Armin Lechner sah grinsend zu, wie ich mich durch seine Korrespondenz wühlte, den Inhalt seines Badezimmerschrankes auf den Fußboden kippte und sogar seinen Wäschekorb auf verbotene Utensilien hin untersuchte. Die Wohnung war absolut sauber, nicht einmal ein altes Pornoheft oder einen indizierten Videofilm hatte ich entdeckt. Ich gab mir Mühe, einen forschen Eindruck zu erwecken, doch Armin Lechner musste spüren, dass die Grobheit nur Fassade war. Er blieb völlig ungerührt, als ich seinen Eisschrank leer räumte, die Fotos von den Wänden riss und seine Schränke plünderte. Unbeteiligt stellte er sich in eine Zimmerecke, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete geduldig, bis ich die Wohnung auseinander genommen hatte. Als ich am Ende meiner Weisheit angekommen war und wütend verschnaufte, gelang ihm sogar ein Lächeln. „Sind Sie fertig, Herr Wachtmeister?“ Ich musste mir Mühe geben, nicht zu grinsen. Jetzt begann das Verhör, und ich rekapitulierte insgeheim die Grundsätze, die mir mein Ausbilder mit auf den Weg gegeben hatte: Kalt und gefühlsarm, nicht die mindeste Überraschung zeigend, selbst wenn der Puls raste, so sollte ein Polizeibeamter die Befragung von Zeugen angehen. Also zog ich verwundert die Augenbrauen hoch und blieb völlig gelassen. „Wie kommen Sie darauf, dass ich meine Arbeit schon beendet hätte?“ „Sie sehen doch, dass ich keine verbotenen Untermieter habe. Die Nachricht kam schließlich auch schon im Fernsehen. Und bei allem Respekt vor dem Gewicht Ihrer Untersuchung muss ich doch zu bedenken geben, dass mich mit meinem Cousin lediglich der gleich lautende Nachname verbindet.“ Ich ließ mir Zeit, bis ich zur Sache kam. „Sehen Sie jede Nacht fern?“ „Ich habe Schlafstörungen.“ „Lässt sich Ihre Unruhe vielleicht auf die Kapriolen Ihres Cousins zurückführen?“ „Das habe ich nicht gesagt.“ „Sie scheinen eine gewisse Sympathie für ihn zu empfinden.“ „Ehrlich gesagt, es ist mir nur recht, wenn dieser Schuft einer Gehirnwäsche unterzogen wird. Er widert mich an, und wenn ich nicht den Ausgleich durch meinen Beruf hätte, so wäre ich längst verzweifelt an der Medienpräsenz, die meinem geschundenen Familiennamen auf einmal widerfährt.“ „Womit verdienen Sie Ihr Geld?“ „Ich bin Autoschlosser.“ „Und diese Luxuswohnung finanzieren Sie also von einem lumpigen Mechanikergehalt?“ „Ich arbeite schließlich auch Tag und Nacht.“ „Wohl eher tagsüber, denn nachts sehen Sie anscheinend lieber fern.“ „Eine Ausnahme. Morgen brauche ich eine ruhige Hand, denn der Meister hat einen teuren Flitzer in der Garage stehen.“ „So. Dann möchte ich gerne wissen, wie Sie Zeit dazu finden, Ihren Cousin im Krankenhaus zu besuchen, wenn Sie so unter Arbeitsdruck stehen.“ Er druckste herum. „Nun, ich...“ „Ich kann es mir vorstellen. Sie dachten sich, ein konspiratives Gespräch kann nicht schaden, bevor Matthäi am Letzten ist.“ „Aber nein. Es ist...“ „Es ist lediglich so, dass er den Magnetschlüssel brauchte?“ „Das wissen Sie also auch? Ich glaubte...“ Jetzt hatte ich ihn. „Sie glaubten, es fiele nicht auf. Sie irren sich. Die moderne Überwachungselektronik macht keine Fehler.“ Es war bloß eine Vermutung, doch ich hatte ins Schwarze getroffen. Armin Lechner kaute nervös auf den Lippen; vielleicht glaubte er, er sei jetzt selber fällig für die Psychiatrie. Er täuschte sich. Ich brauchte ihn als Köder. Ich gab mich daher wohlwollend. „Sehen Sie, Herr Lechner, ich kann Sie natürlich anzeigen. Aber wenn Sie zur Einsicht kommen und die Ermittlungen nicht behindern, kann ich vielleicht eine Ausnahme machen.“ Er atmete merklich auf. „Es war nicht meine Idee. Eine ehemaliger Nachbar von Timo, so ein türkischer Taugenichts, bot mir Geld dafür, Timo den Schlüssel auf die Station zu bringen.“ „Soso, ein Türke.“ „Sage ich doch. Er heißt Sesal Karabulut und wohnt im Kalker Schieferstollen.“ Wahrscheinlich glaubte Armin Lechner, er könnte seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, indem er Mitwisser anschwärzte. Ich ließ mir nichts anmerken und notierte den Namen. Nach den politischen Säuberungen hatten die Nachkommen der Gastarbeiter das schlechte Los gezogen. Obwohl sie längst nicht mehr die Sprache ihrer Vorfahren beherrschten und allein durch das südländische Aussehen auffielen, war ihr Schicksal hart. Sie bekamen keine qualifizierte Ausbildung, mussten Schmutzarbeit verrichten und quälten sich oft genug in jungen Jahren im Bergbau zu Tode. Armin Lechner war auf der sicheren Seite, wenn er einen Ausländer denunzierte. Ich spielte den wohl meinenden Polizisten und reichte Lechner versöhnlich die Hand. „Sehen Sie, Herr Lechner, jeder macht einmal Fehler. Ich möchte Sie jedoch ersuchen, sich von Ihrem Cousin fern zu halten und uns unverzüglich in Kenntnis zu setzen, wenn er bei Ihnen aufkreuzen sollte. Sie wissen ja, Gesetzestreue ist die erste Bürgerpflicht.“ Er zwang sich ein falsches Lächeln ab. „Vielen Dank, Herr Wachtmeister. Und falls Sie einmal einen Unfallschaden haben, stehe ich gerne zu Ihren Diensten.“ Ich nickte und verließ das Appartement. Armin Lechner schien zu glauben, er sei noch einmal davongekommen. Das Gegenteil war der Fall. Er hatte sich selbst ausreichend belastet; ich verfügte über einen Tonbandmitschnitt und würde in den nächsten Tagen die Staatsanwaltschaft benachrichtigen. Dann sollte die Angelegenheit ihren juristischen Gang gehen. Armin Lechner würde unter lückenlose Überwachung geraten, und in Zukunft bliebe ihm nicht einmal die Gelegenheit, sich unbemerkt zu räuspern, ohne dass die Staatssicherheit davon erfahren würde. Sein Leben sollte transparent werden: Jedes Wort, jedes Stöhnen im Schlaf sollte mitgeschnitten werden, der letzte Rest seiner Privatsphäre verschwände in den elektronischen Schaltkreisen der Überwachungsanlagen. Ich würde deswegen nicht schlechter schlafen, und wenn ich auch Sympathie vorgeheuchelt hatte, so erfüllte mich doch Befriedigung über das erzwungene Geständnis. Die Spur führte ins Gastarbeitermilieu, und wenn ich auch seit Tagen kaum geschlafen hatte, trieb es mich, die Ermittlungen fortzusetzen, denn das Jagdfieber hatte mich gepackt. Ich stieg in den Wagen und fuhr zum Krankenhaus. Die Schwestern waren noch immer in heller Aufregung. Die Hälfte der Patienten war stiften gegangen, als Timo Lechner das Sicherheitssystem austrickste. Mittlerweile hatten die Pfleger alle Irren wieder eingefangen und in den Betten festgeschnallt. Frei bewegen durfte sich auf der Station nur noch, wer nicht die Flucht ergriffen hatte. Das waren verständlicherweise die, die zu voll gedröhnt waren, um von etwaigen Veränderungen ihrer Umwelt Notiz zu nehmen. Ein trübsinniger Alter schlurfte über den Flur. Er hielt eine vergammelte Pfeife in der Hand. In dem Pfeifenkopf steckte der abgebrannte Stummel einer monströsen Zigarre. Um auch den letzten Rest Tabak auszubeuten, saugte der Alte gedankenverloren an dem Kolben. Ich klopfte ihm auf die Schulter und hielt ihm eine angebrochene Schachtel Zigaretten hin. Er sah mich mit leeren Augen an und stammelte ein paar unverständliche Worte. Zwecklos, hier nach Informationen zu forschen. Aus dem anliegenden Krankenzimmer waren die wirren Schreie eines aufgedunsenen Paranoikers zu hören, der offensichtlich auf dem Höhepunkt seiner Krise angelangt war. Ich überlegte gerade, wie ich mich unauffällig auf der Station umsehen könnte, als mich ein muskulöser Pfleger ansprach. Der Doktor warte auf mich, bedeutete er mir; zähneknirschend ließ ich meine Pläne fallen und folgte ihm in das Arztzimmer. Ich erkannte, dass meine Kompetenzen zwischen den sterilen Wänden dieser Station ihre Grenze erreichten. Im Grunde konnte ich froh sein, wenn mein Dienstausweis es mir erlaubte, hier unbehelligt ein und aus zu gehen. Der Arzt schien meine Unsicherheit zu spüren und begrüßte mich mit einem zynischen Lächeln. „Nehmen Sie Platz, Herr Müller. Mein Name ist Dr. Geigel; ich denke, wir kennen uns schon von der Einlieferung.“ „Sie sagen es. Können Sie mir irgendwelche Hinweise bezüglich der Flucht Timo Lechners geben?“ Er konnte. Lang und breit erklärte er mir, wer seiner Meinung nach zu der Flucht beigetragen hatte. Da sei zum einen Kathrin Silbermann, eine stadtbekannte Alkoholikerin, die zum Zeitpunkt des Ausbruchs die Aufmerksamkeit des Personals auf sich gelenkt habe. Obwohl sie seit zwei Wochen auf Entzug sei, habe sie sich unbemerkt eine Flasche Rasierwasser intravenös spritzen können. Im Vollrausch habe sie solche Kräfte entwickelt, dass vier Pfleger nötig gewesen seien, um sie zu bändigen. Die Therapiebedingungen seien natürlich sofort verschärft worden, doch augenscheinlich hätte Frau Silbermann in der Gier nach dem nächsten Schuss eine solche Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen an den Tag gelegt, dass kein Zeichen der Reue mehr zu erwarten sei. Möglicherweise habe Timos Cousin, der auf ihn den Eindruck eines durchtriebenen Ränkeschmiedes gemacht habe, die Fäden bei dem Zusammenbruch des Sicherheitssystems gezogen. Es sei ihm unbegreiflich, wie der Stationsleitung diese Panne unterlaufen konnte. Eingestehen müsse er auch, dass das Krankenhauspersonal in einem Fall nicht ganz frei von Schuld sei. Es sei ihm außerordentlich peinlich, aber offenbar hätte eine Krankenschwester seines Teams unverhohlene Sympathie für Timo Lechner bekundet. Er habe der betreffenden Schwester unverzüglich einen Dienstverweis erteilt und sie auf eine andere Station versetzt. Ich notierte mir Namen und Anschrift der Krankenschwester und teilte Dr. Geigel mit, dass ich unter Zeitdruck stünde und dringende Nachforschungen anstellen müsste. Er zeigte geduldiges Verständnis. Im Grunde hätte ich mir seine Salbaderei auch noch länger anhören können, doch ich fühlte mich hinter den schweren Doppeltüren der geschlossenen Station nicht sonderlich wohl, zumal mein Chef auch mich mittlerweile auf die Abschussliste gesetzt hatte. Also entschuldigte ich mich nach allen Regeln der Kunst bei dem Doktor, der mich über den Rand seiner Hornbrille streng anblickte, und sah zu, dass ich Land gewann. Bianca Lorenz war daheim, als ich bei ihr aufkreuzte. Inzwischen war es früher Vormittag, und ich hätte nach dem anstrengenden Gespräch mit Dr. Geigel selbst dringend eine Pause nötig gehabt. So war ich der Krankenschwester nicht böse, als sie alle Formalitäten überging und mich zu einer Tasse Kaffee einlud. Ihr fein geschnittenes Gesicht wurde von strubbeligen blonden Haaren umrahmt, und ihre blauen Augen funkelten vergnügt, als sie mir die Tasse reichte und den Grund meines Besuchs vorwegnahm: „Sie möchten mir sicher vorwerfen, dass ich einen Flirt mit dem ausgebrochenen Patienten riskiert habe?“ Ich nickte. „Sie müssen zugeben, es steht nicht auf der Tagesordnung, Sprüche auf Kissenbezüge zu malen.“ Sie wurde rot, und ich verfluchte meine Direktheit. Geknickt begann sie zu erklären, wie sich die Angelegenheit zugetragen habe. Timo Lechner habe sie an ihren verstorbenen Bruder erinnert, und aus Mitleid habe sie sich zu einigen tröstenden Worten hinreißen lassen. Er hätte so erschöpft gewirkt, und sie sei sich nicht sicher, ob er die kommende Woche überlebt hätte, wenn nicht die Flucht dazwischengekommen wäre. Sie müsse sich jedoch deutlich von dem Ausbruch distanzieren. „Wie Sie unschwer erraten können, bin ich eine gutmütige Natur, doch mit dem Gesetz bin ich Zeit meines Lebens nie in Konflikt geraten.“ Während ich so dasaß und meinen Kaffee trank, bemerkte ich, dass wir nicht allein waren in ihrer Wohnung. Ein altersschwacher Kater strich mir um die Beine und schnurrte behaglich, als Bianca Lorenz ihm ein Schälchen mit Dosenmilch auf den Boden stellte. Um das Gespräch aufzulockern, erkundigte ich mich nach dem Namen des Tieres, und Schwester Bianca blühte auf. Kater Pu sei ihre einzige Gesellschaft, wenn sie vom Dienst nach Hause käme, und wiewohl sie viel Freude mit ihm hätte, sei er auch eine ständige Quelle der Besorgnis, denn vor drei Monaten sei er ernsthaft erkrankt. Er habe eine Blasenschwäche, und da er den Urin nicht halten könne, setze er überall in der Wohnung seine Marken. „Das wäre an sich noch nicht so schlimm, doch was mir Sorgen macht, sind die Blutspuren im Urin. Ich fürchte, er ist wirklich krank.“ Ich bekundete Mitgefühl und dachte, sie wolle auf den Ausbruch zurückkommen, doch sie fügte betrübt hinzu: „Und außerdem ist er gar kein richtiger Kater.“ „Kein richtiger Kater?“ „Sehen Sie, er ist ohne Eltern groß geworden. Ich musste ihm alles beibringen, was er zum Leben braucht, doch beim Mäusefangen habe ich versagt.“ „Er fängt keine Mäuse?“ „Er spielt nur mit ihnen. Alle paar Tage macht er den Keller unsicher, und jedes Mal erwischt er eine Maus. Aber das Töten hat er nie gelernt, und so schnappt er die Maus am Pelz und schleppt sie in die Wohnung, um sie – bevorzugt hinter den Schränken – wieder abzusetzen. Also hetze ich den ganzen Tag hinter der Maus her, und manchmal sind es sogar zwei oder drei, die sich in meiner Wohnung tummeln.“ Ich war verblüfft über die unerwartete Wendung, die das Gespräch genommen hatte, und entschied mich trotz der Dringlichkeit der Ermittlungen, Schwester Bianca nicht weiter zu drangsalieren. Sicher hätte ich die Gelegenheit gehabt, ihr unbemerkt einen Minisender an den Mantel zu heften, aber ich brachte es nicht über mich, ihr Vertrauen zu enttäuschen, um sie dem Kommissar auszuliefern, der von vornherein keine Unterschiede machte. Zurück im Präsidium, stellte ich fest, dass Arenz und Seltz sich in meinem Büro breit gemacht hatten. Sie saßen gelangweilt an meinem Computer und lasen die Korrespondenz. Ich wagte einen schwachen Protest, doch Seltz händigte mir ein Formblatt mit Fingerabdrücken aus und empfahl mir, mich im Büro von Polizeirat Ehlert blicken zu lassen. Wieder schlich ich die schmalen Korridore entlang, und diesmal hatte ich das undeutliche Gefühl, dass ich mir an dem Fall die Zähne ausbeißen würde. Der Polizeirat war nicht besser gelaunt als am Vortag. Er riss mir das Formular mit den Abdrücken aus der Hand. „Müller, du bist mein Sargnagel. Erst lässt du diesen Lechner entwischen, dann lieferst du mich der Presse aus. Die volle Verantwortung für diese Blamage liegt bei dir, und wenn du mir diesen Burschen nicht bald lieferst, ist deine Karriere im Eimer. So, und jetzt möchte ich, dass du vom Fortschritt der Ermittlungen berichtest.“ Ich druckste herum. „Timo Lechner konnte offenbar auf die Unterstützung seines Cousins und einer Krankenschwester zählen. Ich behalte diese Kontaktpersonen im Auge. Eine weitere Spur führt ins Gastarbeitermilieu.“ Der Polizeirat rülpste. „Sonst noch was?“ „Ich glaube, Timo Lechners Straftaten wurden im Grunde von einer feministischen Vereinigung inszeniert, die in einer Schreibwarenhandlung in der Schilderpassage spiritistische Sitzungen abhält.“ „Müller, du siehst Gespenster. Ab sofort schiebst du doppelte Schicht, und solange dieser Schizo frei herumläuft, hast du Malverbot.“ Ich war der Verzweiflung nahe. „Herr Ehlert, Sie wissen doch, wie wichtig mir die Malerei ist. Und wie soll ich meinen Hund versorgen, wenn ich gar keine Freizeit mehr habe?“ „Diese neurotische Töle kann ruhig verrecken. Und was die Kunst angeht, so machst du deinem Beruf einfach Schande. Ein Polizist, der malt, hat man so etwas schon gehört?“ „Also gut. Ich möchte nicht jammern. Aber wenn ich schon doppelte Schicht schieben muss, so habe ich eine Bitte.“ „Was noch?“ „Erhöhen Sie meine Tabakration.“ Der Kommissar grinste und schob mir eine Zigarrenschachtel über den Tisch. Ich wusste bis zu jenem Zeitpunkt nicht, was er rauchte, aber die dicken Stumpen schienen ihn ordentlich bei Laune zu halten. Ehrfürchtig verstaute ich die Schachtel in meiner Tasche und stolperte demutsvoll aus dem Büro. Obschon mein Dienst nun länger dauern sollte, genehmigte ich mir eine Pause. Wenn ich schon den Schlaf versäumte, so wollte ich wenigstens eine warme Mahlzeit zu mir nehmen, bevor ich die Ermittlungen im Alten Revier aufnahm. Toto wedelte freudig mit dem Schwanz und bellte, als ich zu Hause aufkreuzte. Er schleppte die Leine vor sich her und bettelte so lange, bis ich den Kartoffelauflauf im Ofen schmoren ließ und mit ihm ein paar Schritte nach draußen ging. Aus einem kurzen Bummel wurde ein längerer Spaziergang, und ehe ich mich versah, war ich schon auf dem gewohnten Weg zum Worringer Friedhof. Ich hatte so ein merkwürdiges Gefühl. Toto schien meine Unruhe zu spüren und zerrte mich in die Katakomben, als verfolge er eine heiße Spur. Als wir die Kapelle passierten und in einen Seitenstollen einbogen, traute ich meinen Augen nicht. Toto hatte die richtige Witterung aufgenommen, denn wer da vor der schmutzigen Grabtafel kauerte, das war Timo Lechner. Und er war nicht allein: Die Krankenschwester kniete neben ihm. Ich war so verblüfft, dass ich jegliche Routine vergaß und stocksteif stehen blieb, Toto an der Leine hielt und einfach nur das seltsame Pärchen anstarrte, das sich den abgelegensten Winkel der ganzen Stadt ausgesucht hatte, um Zuneigungen auszutauschen. Als ich endlich schaltete, war es zu spät. Timo Lechner war schon aufgesprungen, sprintete über den Schotterweg bis zum Ende des Stollens, wo der nackte Fels das Weiterkommen verhinderte. Ich nahm Toto die Leine ab, und er hechelte dem Flüchtigen hinterher. Doch Lechner war schneller. Mit der Kraft der Verzweiflung stemmte er einen Kanaldeckel hoch und stürzte blindlings in die Tiefe, ohne ein Wort des Schmerzes oder der Wut, als habe er diese Flucht lange geplant. Ich stand fassungslos am Rande des Gullys und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Was jetzt auf mich zukam, war das gefährlichste Unternehmen, dem ich mich je gestellt hatte. Wenn Timo Lechner in die Kanalisation abtauchte, so musste ich seine Fährte aufnehmen. FÜNFTES KAPITEL Das Erste, was ich bemerkte, als ich die verrosteten Sprossen in das Dunkel hinabstieg, war der Gestank. Jeder weiß, wie es riecht, wenn jemand einen Wind lässt oder sich stundenlang auf der Toilette aufhält. Auch der Smog in der Megalopolis war gewöhnungsbedürftig, und alle kannten das Gefühl, wie es war, wenn der Sauerstoff knapp wurde und man nach Luft japste, den Schutz der klimatisierten Wohnungen suchte. Doch in dem stockfinsteren Gewölbe, dessen Ausmaße ich nur erahnen konnte, stockte mir nicht allein der Atem. Die Luft roch faulig, als hätten die Kinder tausend Stinkbomben vor meiner Nase zerplatzen lassen. Dazu kam, dass ich bis zu den Hüften in der Jauche steckte und das kalte Wasser meine Kleidung völlig durchnässte. Die nächste Empfindung, die ich verspürte, war die Angst. Schlimm genug, dass ich nach Luft rang und mich vor Ekel beinahe erbrechen musste. Aber zu allem Überfluss war mir auch noch ein zu allem entschlossener Ermittler auf den Fersen. Möglicherweise hatte er einen Hinweis bekommen und war perfekt ausgerüstet, um mich mit modernster Technik, die Waffe gezückt und den Hund bei Fuß, durch die Abwasserkanäle zu hetzen. Mein Verstand setzte aus; ich ignorierte den Gestank, die Nässe und die Finsternis und watete, stakste und schwamm durch die braune Brühe. Von Zeit zu Zeit brach etwas Licht durch die Gullydeckel und hüllte das Gewölbe in gespenstischen Dämmer. Ich erkannte, dass ich einen breiten Sammelkanal erreicht hatte. Rauer Beton begrenzte den Kanal zu beiden Seiten hin. An der Decke verliefen gigantische Frischwasserröhren. Kondenswasser tropfte mir in den Nacken. Der Kanal verbreiterte sich, eng an der Wand verlief ein schmaler Steg. Ich rettete mich ins Trockene und schüttelte mich wie ein nasser Hund. Die Furcht hatte meine Gedanken blockiert, doch nun war ich mir sicher, dass ich einen kleinen Vorsprung hatte. Von meinem Verfolger war keine Spur. Ich verschnaufte ein wenig und begann meine Umgebung in Augenschein zu nehmen. Über mir befand sich ein Gully, direkt an der Wand verlief ein dickes Telefonkabel, darunter eine Rohrpostleitung. Der Steg war stark verschmutzt, und eine Konstruktion von Stahlträgern hinderte mich daran, mich gegen die Mauer abzustützen. Unter mir floss das Abwasser in trägen Strömen dahin. Ich wischte mir den Dreck von der Hose und ließ mich auf dem nackten Beton nieder. Außer dem Fiepen der Ratten und dem leisen Rieseln des Wassers war kein Laut vernehmbar. Fast war ich darauf gefasst, andere Gesetzlose zu treffen, die ebenfalls in den Kanälen Schutz suchten. Doch konnte ich keine Lichter in der Finsternis ausmachen, hörte keine Stimmen, nicht das alarmierende Tappen von Schritten. Zwar hatte ich hin und wieder wirre Graffiti an den Betonwänden bemerkt. Es handelte sich jedoch um kabbalistische Zeichen, deren Sinn ich nicht verstand und die nur Eingeweihten etwas sagen mussten. Manchmal fiel mir eine Serie von Andreaskreuzen auf oder ein geschwungener Pfeil mit dreifacher Fiederung. Ich beschloss, zunächst gar nichts zu unternehmen und an meinem Standort zu verharren. Um den Durst zu löschen, reckte ich mich zur Decke und fing mit gefalteten Händen einige Wassertropfen auf, die von einer Frischwasserröhre herabrannen. Es wäre überflüssig zu sagen, dass mir in den verdreckten Sachen nicht sehr behaglich zumute war; ich fror erbärmlich, zitterte wie im Fieber und verspürte bohrenden Hunger. Aber stärker als Kälte und Angst war die Erschöpfung. Nachdem ich eine Weile vergeblich versucht hatte, gegen die Müdigkeit anzukämpfen, kippte ich schließlich einfach vornüber, riss im Reflex noch einmal die Augen auf, krümmte mich dann auf dem verdreckten Steg zusammen, um in tiefe Ohnmacht zu sinken. Lange muss ich so gelegen haben. Wirre Erinnerungen stiegen aus den Tiefen der Seele auf, verdichteten sich zu Träumen, Visionen von einer Welt, die ich nie gesehen hatte. Ich sah graue, monotone Asphaltwüsten, durch die kaum ein Wind strich, kahle Betonburgen und verzweifelte Menschenmassen, die hinter hermetisch versiegeltem Glas nach Luft rangen. Stürme tobten durch die Städte und machten die Architektur dem Erdboden gleich. Menschen starben wie Fliegen, kein Stein blieb auf dem anderen. Gras überwucherte die Trümmerstädte, und dorniges Gestrüpp krallte sich in die Gesteinsspalten. Bald verschwand das letzte Zeugnis der Zivilisation. Weite Wiesen bedeckten das Land, und wo früher Menschen gehaust hatten, streiften nun Bären über die Ebene. Woher sie gekommen waren, wusste der Wind allein; auf den riesigen Müllhalden und in den sterbenden Wäldern mussten sie sich versteckt haben, mit ohnmächtigem Zorn ihre Chance abpassend, und doch voll schlauer Vorsicht der Auslöschung ihrer Art vorbeugend. Sie waren zunächst nur wenige, doch als die Automobile verschwanden, die Straßen auseinander brachen und die Menschen das Feld räumten, vermehrten sie sich und bevölkerten die grüne Prärie. So lebhaft hatte ich nie zuvor geträumt. Verzweifelt wurde mir klar, dass dieser Traum Wirklichkeit werden könnte, wenn es mir nicht gelänge, den Fluss des Träumens zu unterbrechen, aufzutauchen in den Strudel der Realität. Doch eine unheimliche Faszination fesselte mich an das Geschehen, das sich mit erschreckender Klarheit vor meinen Augen abspulte und die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu überbrücken schien. Erst als der Wasserspiegel im Kanal allmählich anstieg und die Brühe mir bis zum Hals reichte, schrak ich auf aus den dunklen Gefilden des Schlafes. Mühsam rappelte ich mich hoch und dachte darüber nach, wie es wäre, eine Ratte zu fangen. In Scharen liefen die Nager den schmalen Weg entlang, auf dem ich mich vorwärts tastete. Sie fiepten schrill und schossen in die Dunkelheit davon, sobald ich versuchte, eine zu erhaschen. Ich gab den Versuch auf und richtete meine Bemühungen darauf, nach Zeichen an den Wänden zu suchen. Die Bedeutung der Zinken war mir nicht bekannt, und so irrte ich ziellos durch das Labyrinth der Kanäle. Es war totenstill, bis auf das unterschwellige Rauschen des Wassers. Stundenlang hastete ich durch das Dunkel, von Panik gebeutelt und verzweifelt. Dann fiel mir, als ich um eine Ecke bog, das Glimmen einer Zigarette auf. Unsicher schritt ich auf den flimmernden Punkt zu. Das Glimmen verlosch, als die Zigarette in das Abwasser segelte und mit einem Zischen darin verschwand. Mir war so elend zumute, dass ich alle Furcht vergaß und die fremde Gestalt ansprach: „Wer ist da?“ Stille. „Was willst du?“ Es kam keine Antwort, und ich dachte schon, ich sei einer Täuschung erlegen, als ich ein trockenes Lachen vom anderen Ende des Steges vernahm. Dann wieder Schweigen, und als ich schon dachte, der Unbekannte wolle es dabei bewenden lassen, sagte er mit heiserer Stimme: „Ich habe schon viele Menschen umgebracht.“ Ein Ruck lief mir durch den Körper. Ich zögerte, in welche Richtung ich fliehen sollte. Als ich mich nach einer endlosen Schrecksekunde abwandte, sah ich noch, wie eine Taschenlampe aufblitzte und die Schattengestalt aus dem Dunkel trat. Ich verzichtete darauf, mir die Gesichtszüge einzuprägen. Alles, was ich bemerkte, bevor ich in höchster Verwirrung zurückstolperte, war, dass der Mann einen braunen Mantel trug und sich die Haare zu einer Glatze ausrasiert hatte. Ich schätze, er nahm sich Zeit damit, die Verfolgung aufzunehmen, denn außer meinem Getrampel hörte ich keinen Laut in dem verdammten Rattenbau. Vermutlich war der Skinhead mir dicht auf den Fersen. Vermutlich lief ich als Nächstes diesem verfluchten Bullen und einer Horde Schwarzer Sheriffs in die Arme. Mir war es egal. Ich hatte nichts zu verlieren, denn immer, wenn ich glaubte, für eine Sekunde etwas Luft zu bekommen, tat sich eine neue teuflische Falle vor meinen Füßen auf. Es war die Hölle. Zitternd vor Angst lief ich weiter, bis eine riesige schwarze Kugel mir den Weg versperrte. Offensichtlich war eine Reinigungskolonne damit beschäftigt, den Kanal zu entsanden. Die Kugel rollte unaufhaltsam vorwärts und drängte mich zurück. Um nicht überrollt zu werden, wich ich in eine Seitenabzweigung aus. Von weitem hörte ich die Stimmen der Kanalarbeiter. Der Fluchtweg, den ich mir ausgesucht hatte, war schrecklich eng, und ich schnappte wie ein Irrer nach Luft. Immerhin hatte ich es offenbar geschafft, den Skinhead abzuschütteln. Ich watete weiter durch die Fäkalien, bis ich in eine riesige Grotte gelangte: Offenbar ein stillgelegter Steinbruch. Ich tastete mich in der Finsternis an den Wänden entlang. Unter meinen Füßen knirschte es; ich musste eine Flasche zertreten haben. Mir kam eine Idee. Ich fegte den Müll auf dem Boden zu einem Haufen zusammen. Mit dem schartigen Klappmesser kappte ich eine Stromleitung, die an der Wand verlief. Da das Messer einen Holzgriff hatte, blieb mir der elektrische Schlag erspart. Ich hielt die Stromleitung in den Müll, und an einer feuchten Stelle begannen alsbald die Funken zu sprühen. Bald brannte der Müllhaufen lichterloh. Im flackernden Schein des Feuers konnte ich die Dimensionen des Steinbruchs erahnen. Offenbar hatten hier ganze Generationen den Kalkstein aus den Wänden geschlagen. Ich entdeckte Luftschutztafeln aus der Nazizeit. Daneben bunte Graffiti, die von unerwünschten Besuchern zeugten. Dann sah ich etwas, das mich augenblicklich interessierte. Eine verrostete Stahltür war in den Fels eingelassen. Darauf stand in verblichenen Buchstaben der Schriftzug „Notversorgung“. Ich untersuchte das Schloss. Die Tür war verriegelt, hing aber nur noch lose in den Angeln. Mit aller Kraft warf ich mich gegen das Stahlblech, bis die Tür aus den Angeln brach. Der Raum war klein und feucht; an den Wänden standen Regale, in denen Konserven gestapelt waren. Ich bemerkte einen Notstromschalter, der neben der Tür angebracht war. Er funktionierte noch, und wenige Augenblicke später flackerten die Leuchtröhren an der Decke auf. Ausgehungert stürzte ich mich auf die Konserven. Vorsichtshalber verzichtete ich darauf, das Haltbarkeitsdatum zu überprüfen. Mit dem Messer und einem Stein hämmerte ich zwei Dosen auf. Es gab Mais. Er schmeckte fade und salzig, aber in meiner Gier nach etwas Essbarem machte ich keine großen Unterschiede. Aus einem Hahn an der Wand schöpfte ich etwas Kranwasser, stillte meinen Durst und säuberte notdürftig Gesicht und Haare. Dann lehnte ich die Tür wieder in den Rahmen und kauerte mich erschöpft in eine Ecke. Augenblicke später war ich eingeschlafen, trotz Kälte, Fieber und Angst. Ich blieb mehrere Tage in dem Schutzraum, knackte Konserven, trank und schlief, bis mein Körper sich von den Strapazen erholt hatte. Manchmal schreckte ich aus dem Schlaf hoch, wenn eine Ratte im Müll raschelte oder ich von einem Alptraum heimgesucht wurde. Das Licht musste brennen, denn so absurd es auch war, die Lampen eingeschaltet zu lassen: In der Dunkelheit konnte ich keine Ruhe finden. So ließ ich den Schalter an und riskierte damit, dem Elektrizitätswerk eine Spur zu hinterlassen. Das kleine Versteck blieb erstaunlich lange unbemerkt, doch in der fünften Nacht bekam ich Besuch. Ein kleiner Kampfroboter holperte über den Schutt, tastete sich mit einem Infrarotsensor vorwärts und schaffte es mit Hilfe eines Greifarms, die Tür beiseite zu schieben. Augenblicklich hatte mich der Blechmann geortet und leierte mit dumpfer Stimme: „Sie sind verhaftet. Bleiben Sie, wo Sie sind, sonst muss ich Sie mit Hilfe einer Betäubungsspritze außer Gefecht setzen.“ Ich zögerte einen Augenblick, richtete mich dann vorsichtig auf und stützte mich an einem der Regale ab. Der Roboter begann trocken zu rasseln. „Ich warne Sie. Bewegen Sie sich nicht von der Stelle, sonst...“ Ein grausames Scheppern unterbrach seine geduldigen Erläuterungen. Das Regal musste sich von der Wand gelöst haben, fiel krachend zu Boden, und der blecherne Hilfspolizist versank unter einer Lawine von Konservendosen. Offensichtlich war er einen Moment lang bewegungsunfähig, und ich nutzte seine Verwirrung, um mich unbemerkt aus dem Staube zu machen. Im Gehen schnappte ich mir noch eine Taschenlampe, die ich in dem Versorgungsraum gefunden hatte. Dann zischte ich an dem Blechmann vorbei und tauchte im Wirrwarr der Schächte unter. Mit der Taschenlampe fand ich bequem meinen Weg. Von dem stillgelegten Steinbruch führte ein schmaler Stollen geradeaus, vorbei an den Kanälen schnurstracks in die Weststadt. Verblichene Schilder wiesen den Weg. Der Stollen wurde immer enger, und bald musste ich mich bücken, um mir an der niedrigen Decke nicht den Kopf zu stoßen. Eine verrostete Stahltür setzte meiner Flucht ein Ende. Im Schein der Taschenlampe erkannte ich, dass das Türschloss alt und primitiv konstruiert war. Die Tür musste einmal blau gewesen sein; unter dem blassen Lack blühte der Rost. Ein ungebetener Besucher hatte eine Grimasse auf die Tür gesprüht. „Anubis grüßt dich“, stand in der Sprechblase. Ich wurde aus der Inschrift nicht schlau und suchte auf dem Boden nach einem Stein, mit dem ich das Schloss kaputtschlagen könnte. Ich fand etwas Besseres: Ein krummer Nagel lag in einer Ecke, ideal für meine Zwecke. Ich klopfte die Spitze mit einem Stein platt, bis sie in das Schloss passte. Das machte viel Lärm, und wenn jemand in der Nähe war, musste er nun vorgewarnt sein. Geduldig stocherte ich mit dem Nagel in dem alten Türschloss herum, bis der Bart passte und der Riegel quietschend aufsprang. Die Tür schwenkte zur Seite, und als ich mit der Taschenlampe die Grotte ausleuchtete, die sich vor mir öffnete, verschlug es mir den Atem. In der Mitte des Gewölbes stand ein steinerner Altar. Er war aus weißem Marmor gehauen, und ein schwarzes Kreuz zog sich über die Vorderseite. Der Boden war blitzblank gefegt, nur hier und da spannte sich ein Spinnennetz auf. Hinter dem Altar brannte eine Gedenkflamme, und auf einer schwarzen Tafel las ich die Worte: „Halt ein! Hier beginnt das Reich der Toten! Verfüge über deine Besitztümer, da auch du sterblich bist. Keinem ist es vergönnt, ewig zu leben.“ Dann sah ich die Knochenberge. Schenkelknochen, Gerippe, Schädelhaufen. Fein säuberlich zu Tonnen gestapelt, zu Rauten, Säulen und Türmchen. Die perverse Symmetrie der Gebeine machte mich sprachlos. Ich schritt am Altar vorbei, leuchtete die Wände ab. Die Schädel türmten sich in endlosen Reihen in alle Richtungen. Im Boden war ein Gedenkstein eingelassen. „Katakomben des Westfriedhofs.“ Hier also waren sie begraben, die Toten des letzten Weltkrieges, die Aufständischen der Studentenunruhen, die verzweifelten Selbstmörder, Kriminellen und auch die braven Bürger, die am Smog erstickt waren. Mir wurde übel, ich schnappte nach Luft, suchte nach einem Ausweg. Es gab kein Entrinnen. Schon hatte ich mich in den Beinhäusern verirrt. Die Stapel wurden unordentlicher, bald lagen die Gerippe wild durcheinander, Fingerknochen, Fußknochen, Ellenbogen, Schlüsselbeine, Schädel und zersplitterte Wirbel. In panischer Verwirrung bahnte ich mir einen Weg durch die Grüfte, hastete die Gänge entlang. Die Katakomben zogen sich kilometerweit in alle Richtungen. Der Schein der Taschenlampe wurde schwächer, meine Beine trugen mich kaum noch. Dann entdeckte ich mit zitternden Knien einen schmalen Seitengang. Eine massive Wendeltreppe führte noch tiefer in die Erde hinab; ich stolperte die Stufen hinunter und fand mich in einem kreisrunden Mauerloch wieder. Zu meinen Füßen schwappte Wasser. Es war ein unterirdischer Brunnen. Ich rang nach Luft, beugte mich dann zu dem Reservoir hinab und begann wie ein Tier zu trinken. Trank, bis ich dachte, mein Magen müsse platzen. Übergab mich fast, trank dann weiter. Hielt erst ein, als mir jemand auf die Schulter klopfte und eine Stimme nicht unfreundlich hinter mir sagte: „Nun mach mal Pause, wer wird sich denn gleich umbringen?“ Erschrocken drehte ich mich um, beruhigte mich aber augenblicklich, als ich sah, dass nur ein abgerissenes Mädchen hinter mir stand. Sie hatte die strähnigen Haare rot gefärbt, trug eine fleckige schwarze Jeans und einen blauen Wollpullover, der an den Ellenbogen aufgerissen war. Sie schien allein zu sein und zeigte merkwürdigerweise kein Anzeichen von Angst oder Scheu. Ich schluckte, druckste herum, doch sie nahm mir das Wort aus dem Mund. „Beruhige dich erst mal. Du bist nicht der Einzige, der hier Durst hat, und Wasser ist rar.“ Sie zog einen alten Rucksack die Treppe herunter, bot mir eine Fluppe an und begann dann, einen Gaskocher, einen Schlafsack und einen alten Topf auszupacken. Wir setzten uns auf die Daunen, und sie begann Tee zu kochen. Ich wärmte mir die Hände an der Gasflamme, und bald schlürften wir gemütlich warmen Tee, die Füße im Trockenen, den Rücken gegen die Wand gelehnt, sahen auf das grünliche Wasser und rauchten eine Zigarette nach der anderen, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Irgendwann muss ich dann eingenickt sein, sackte auf dem Schlafsack zusammen und fiel in bleiernen Schlaf. Als ich eine halbe Ewigkeit später erwachte, wurde mir klar, dass sie mich schon wieder geneppt hatten. Das Mädchen war verschwunden, und an der Wand prangte deutlich sichtbar das Zeichen des Feministischen Kampfkorps. Die Taschenlampe hatten sie mir dagelassen, aber meine Kleider dümpelten im Brunnen, und jeder einzelne Knochen tat mir weh. Ich fasste mir zwischen die Beine, stellte erleichtert fest, dass noch alles an mir dran war. Es musste der Tee gewesen sein, denn meine Erinnerung war ein einziges schwarzes Loch, und ich konnte nicht einmal sagen, wie viele Frauen über mich hergefallen waren. Es wäre unsinnig gewesen, nach all den Schmerzen noch an Suizid zu denken. Aber Sex hatte ich mir schöner vorgestellt. Voller Zorn sammelte ich meine nassen Klamotten zusammen, wrang sie aus und kletterte die steile Wendeltreppe wieder hinauf. Ich versuchte mich zu orientieren, gab es jedoch auf, als ich von ferne einen riesigen Schäferhund auf mich zukommen sah. Am Ende des Stollens leuchtete eine Taschenlampe auf: Müller hatte mich gefunden. Ich setzte mich in Bewegung. Die ersten Schritte fielen mir schwer, doch dann begann ich zu rennen. Der Schäferhund hechelte hinter mir her, und ich versetzte ihm einen beherzten Tritt auf die Nase. Der Hund jaulte auf, und ich hörte, wie Müller ihn zurückpfiff. Der Bulle war anscheinend gut durchtrainiert, denn er hielt Schritt und hetzte mich unaufhaltsam durch die Katakomben. Ich hatte den Eindruck, als triebe er mich gezielt in eine Falle, denn er verlangsamte sein Tempo, blieb jedoch in Sichtkontakt. Meine Lungen pfiffen, der Schweiß perlte mir von der Stirn, ich war der Ohnmacht nahe. Dennoch rannte ich weiter, behielt den Rhythmus der Schritte bei, ohne dass ich gewusst hätte, wohin der Weg mich führte. Links und rechts von mir türmten sich die Knochen, und manchmal splitterte es unter meinen Füßen: Es klang wie zerbrechendes Holz. Der Hund blieb mir dicht auf den Fersen, hielt jedoch genug Abstand, um weiteren Tritten auszuweichen. Als ich schon dachte, ich müsste zusammenbrechen, verbreiterte sich der Schacht, und ich lief auf ein stählernes Portal zu. Müller setzte zum Endspurt an, und gerade als ich durch das Tor entwischen wollte, packte er mich von hinten, hebelte mir den Arm in den Rücken und warf mich zu Boden. Ich bäumte mich auf, wollte ihn abschütteln, doch er kniete mir auf dem Rücken, riss meinen Kopf nach hinten, dass ich dachte, er wolle mir das Genick brechen. Der Hund zerrte an meinem Hosenbein; es gelang mir schließlich, mich zur Seite zu rollen, doch dann tauchten aus dem Nichts sechs Schwarze Sheriffs auf. Sie grätschten mir Arme und Beine auseinander, einer hockte sich in mein Genick und bearbeitete meinen Hinterkopf mit Fausthieben. Ich spürte bald nichts mehr, leistete keine Gegenwehr und überlegte, ob sie mir wohl alle Knochen brechen wollten. Aber dann geschah etwas Unerwartetes. Scheinwerfer leuchteten auf, und aus dem Dunkel stürmte ein Stoßtrupp Autonomer mitten ins Getümmel. Sie klirrten mit schweren Fahrradketten und stießen ein ohrenbetäubendes Geheul aus. Augenblicklich ließen die Schwarzen Sheriffs von mir ab und traten den Rückzug in die Katakomben an. Mit Elektroschockern kämpften sie sich den Weg frei, wenngleich der eine oder andere Zahn daran glauben musste. Allein Müller blieb, von einem Stein am Kopf getroffen, bewusstlos auf dem Boden liegen. Der Schäferhund wich nicht von seiner Seite, knurrte, fletschte die Zähne, wenn sich jemand näherte. Ich selbst hatte in einer Felsnische Deckung gesucht und beobachtete das Geschehen. Bald begriff ich, dass der Angriff der Autonomen nicht mir galt. Sie wollten lediglich ihr Territorium verteidigen, denn hinter dem großen Portal führte ein weiter Tunnel direkt in das Alte Revier. Sie fesselten Müller und mich mit Handschellen aneinander, nachdem sie den Hund mit Pfefferspray außer Gefecht gesetzt hatten. Dann trieben sie uns vor sich her, bis wir mitten im Camp angelangt waren. Ein kräftiger Punker, der sein Gesicht mit Kohle geschwärzt hatte, kettete uns an einem Felsen fest, ließ sich dann auf dem Boden nieder und glotzte uns an. „Na ihr Hübschen, ich möchte nur wissen, an wem von euch mehr Fett ist. Denn bald gibt es wieder Specksuppe.“ Er griff zur Kornbuddel und fing dann ganz gemütlich an, uns mit glühenden Zigarettenstummeln zu foltern. Erst war Müller dran, dann ich, dann wieder Müller. Dabei arbeitete er sich von den Oberarmen langsam bis zum Genitalbereich vor, die störende Kleidung mit einem scharfen Messer beseitigend. Wir konnten uns nicht wehren, und während Müller längst ohnmächtig zusammengesunken war, musste ich den glühenden Schmerz bei vollem Bewusstsein erleben. Erst als dem Punker die Zigaretten ausgingen, ließ er von uns ab und trottete in Richtung Latrine davon. Ich wimmerte leise vor mich hin und bemerkte gar nicht, dass ein kleines Mädchen in den Halbschatten der Felsen getreten war, das mich neugierig beobachtete. Erst als sie mich anstupste, nahm ich sie wahr. Sie zupfte mit den Fingern an ihren langen blonden Zöpfen und streckte mir die Zunge heraus: „Das hast du nun davon.“ „Wovon?“ „Natascha sagt, sie sei von dir schwanger, und sie haben ihr befohlen, das Kind auszutragen.“ Ich erinnerte mich an das Mädchen mit den roten Haaren und dem blauen Wollpullover und schluckte. „Wer hat dir das gesagt?“ „Alle hier wissen es. Du hast mit ihr geschlafen, und jetzt bekommt sie ein Kind.“ „So kann man das auch nennen.“ „Aber ja. Zehn zu eins, es wird ein Mädchen.“ Ich vergaß mit einem Mal ihr Alter und redete Tacheles. „Ist dir überhaupt klar, wovon du sprichst? Erstens kann sie nach der kurzen Zeit noch gar nicht wissen, ob sie schwanger ist. Zweitens haben sie mich betäubt und drittens halb erwürgt. Und jetzt soll ich auch noch den glücklichen Vater spielen? Kannst du dir vorstellen, wie sie das hilflose Kind quälen werden, wenn es auf die Welt kommt? Sie werden es missbrauchen, schlagen und grausam erniedrigen, allein weil sie mich für den Vater halten. Das Kind wird sich wünschen, es wäre nie geboren worden.“ Das Mädchen lachte. „Natascha wusste genau, dass du dich ärgern würdest. Deshalb hat sie sich ja auch dazu bereit erklärt, die Schwangerschaft anzutreten.“ „Soso. Ist es vielleicht möglich, noch ein Wort mit dieser Natascha zu wechseln?“ Sie kicherte. „Keine Chance. Übrigens...“ „Was?“ „Es gibt die Sache schon auf Video.“ „Mir auch egal. Aber sag mal...“ „Ja?“ „Dieser Zombie mit der Zigarettenschachtel, wann kommt er wieder?“ „Soll ich ihn holen?“ „Nein, warte. Wie geht es jetzt weiter?“ „Das entscheidet Zappa. Natascha sagt, sie wollen heute abend tanzen.“ „Tanzen?“ „Du weißt schon. Salsa, Tango, Rock’n Roll.“ Ich begriff nur, dass sie sich über mich lustig machte und entschied mich, keine weiteren Fragen zu stellen. Das Mädchen hopste noch eine Weile um mich herum, dann wurde ihr die Sache langweilig, und sie verschwand im Dunkel. Der Zigarettenmann kam zurück und folterte uns glückselig weiter, bis Müller plötzlich erwachte und einen gurgelnden Schmerzensschrei von sich gab. „Sportsfreund“, keuchte er, und seine Stimme zitterte vor Schmerz, „ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal in Freiheit begegnen sollten, aber ich werde dein Gesicht mit Neun-Millimeter- Geschossen zersieben, dass selbst Petrus Schwierigkeiten haben wird, dich noch zu erkennen.“ Der Punk lächelte höhnisch. „Bild dir keine Schwachheiten ein, Bulle. Für die nächsten Monate gehörst du jetzt mir, und ich werde dich ganz langsam zu Fischfutter machen.“ Ich mischte mich ein. „Sag mal, Bruder, was geht mich eigentlich deine private Abrechnung mit der Polizei an? Ich bin doch nur aus Versehen in diesen Schlamassel hineingerutscht, ein harmloser Tourist quasi, der...“ Der Punk gab mir einen Tritt in den Magen, und Müller zischte mir ins Ohr: „Dass du noch die Chuzpe hast, überhaupt etwas zu sagen, finde ich stark. Wegen dir steht die halbe Stadt auf dem Kopf." Ich begnügte mich damit, selig zu lächeln, doch mein Bewacher unterband diesen Galgenhumor im Fluge. Ich glaubte schon, dass bald die nächste Hauttransplantation fällig wäre, da kündigte sich von den Zelten her ein Tumult an, und Zappa betrat die Szene. Mit verkniffenem Gesicht saugte er an seiner Zigarette, strich sich die Rastalocken aus der Stirn und verkündigte: „Den Bullen zuerst. Der andere ist morgen dran.“ Die Umstehenden quittierten seine Wahl mit aggressivem Gelächter und ketteten Müller von dem Felsen los. Er täuschte Erschöpfung vor, riss aber im nächsten Moment mit verblüffender Geschwindigkeit die Fäuste hoch und verpasste dem Punker einen Kinnhaken, dass es knirschte. Mehr konnte er nicht tun, denn sie warfen ihn sofort zu Boden und stellten sich im Kreis um ihn auf. Der Platz füllte sich mit zerlumpten Gestalten, von denen einer mehr stank als der Nächste; jemand drehte den Verstärker auf, und ein ohrenbetäubender Techno-Sound erschütterte die Felsen. Alle begannen sich rhythmisch zur Musik zu bewegen, fassten sich an den Händen, torkelten um Müller herum, der im Mittelpunkt des Geschehens stand, und bald loderte ein großes Feuer in der Mitte des Platzes. Müller lag mit schmerzverzerrtem Gesicht daneben, rührte sich nicht, wehrte sich nicht gegen die Schläge und Tritte, riss nur einmal erschrocken die Augen auf, als ein dürres Mädchen ans Feuer trat. Ihre roten Haare wirbelten wild durch die Luft, und ich erkannte sie sofort: Meine Bekanntschaft aus den Katakomben. Zappa gebot Einhalt, die Musik verstummte, und das Mädchen zog ein Bündel langer Nadeln aus dem Hosenbund hervor. Die Menge kreischte: „Die Nadeln, Natascha! Die Nadeln!“ Sie ging daran, dem hilflosen Polizisten den letzten Rest seiner zerfetzten Kleider vom Leibe zu reißen, und begann dann, ihm die Stahlnadeln durch Arme und Beine zu treiben. Die Musik setzte wieder ein, die Menge stampfte, klatschte, und die Felsen dröhnten. Müller wand sich vor Schmerz, blieb aber bei Bewusstsein, und mit ungläubigem Erstaunen bemerkte ich, dass sich an den Einstichstellen kein Blut zeigte und die Nadeln sich wieder aus Armen und Beinen ziehen ließen, ohne sichtbare Wunden zu hinterlassen. Die Musik dröhnte noch lange durch die Schächte und Stollen; ich sackte trotz des Höllenlärms irgendwann zusammen, wurde erst wieder wach, als alle besoffen am Boden lagen und aus dem Dunkel Müllers Hund angetrottet kam und seinem Herrn das Gesicht leckte. Müller kam stöhnend zu sich, entriss einem Schlafenden eine durchgeladene Gaspistole und schleppte sich über das Schlachtfeld davon. Einige Freaks waren noch bei Bewusstsein und alberten herum: „Schaut nur, der Beefsteakfriedhof ist noch am Leben, wir müssen ihn aufhalten.“ Einer stellte sich Müller in den Weg, und erst als dieser die Pistole an die Halsschlagader seines Widersachers drückte und es sechsmal krachte, wusste ich, dass dieser Mann erst aufgeben würde, wenn seine Leiche bei den Fischen faulte. Ich riss mich zusammen, leistete keine Gegenwehr, als sie ihren Urin bei mir abließen und mich anspuckten, schluckte sogar meine Wut herunter, als die Rothaarige vorbeischlenderte und zufrieden meinen Kopf tätschelte. Ich gab erst wieder einen Ton von mir, als Zappa, vom Rausch erwacht und sichtlich bleich, meine Ketten löste und mich zur Latrine mitschleifte, wo ein Pulk von Ravern auf uns wartete. Zu meinem Erstaunen erkannte ich unter ihnen einen jungen Türken, mit dem ich noch aus meiner Zeit in der Megalopolis in Kontakt gestanden hatte. Er grinste freudig, als er mich sah, schüttelte mir gestenreich die Hand und schnatterte in akzentfreiem Deutsch – denn paradoxerweise hatte er nie Türkisch gelernt -: „Wir freuen uns alle, dich bei so guter Gesundheit zu sehen. Es ist ein Segen, dass dein Cousin Armin mich rechtzeitig gebeten hat, dir aus der Patsche zu helfen, denn sonst wäre es dir wie diesem anderen Wrack ergangen, das unglücklicherweise bei der ersten Gelegenheit stiften gegangen ist. Leider kannst du nicht im Alten Revier bleiben, denn du hast die Freaks und Punks durch dein Auftreten beleidigt, um nicht zu sagen tödlich verletzt, so dass für dich nur ein einziger Ausweg in Frage kommt.“ Ich biss die Zähne zusammen. „Und das wäre?“ Sesal lachte. „Du wirst als Drogenkurier eine Ladung Stoff aus Nordafrika abholen.“ Die Idee klang so absurd, dass ich wider Willen lachen musste. „Du meinst, auf dem Landweg?“ „Auf dem Landweg. Du bekommst von uns ein Mountainbike, einen Schlafsack und zehntausend Euros, und dann schleusen wir dich nach draußen.“ „Und wenn ich mich weigere?“ Er fuhr sich mit der Hand über die Kehle. „Das kannst du gleich haben.“ Fast brannte mir nun endgültig die Sicherung durch, und ich begann zu schreien: „Aber das ist unmöglich! Der Schnee, die Blizzards, die Strahlung! Ich werde erfrieren, bevor es mir gelingt, fünf Kilometer zurückzulegen.“ Mein türkischer Freund lächelte wissend. „Wir praktizieren das seit Jahren. Es findet sich immer einer, der keine Chance mehr hat, und manche kommen sogar erfolgreich zurück.“ Ich wusste keine Antwort mehr und starrte verbissen auf den Boden. Sesal klopfte mir mitfühlend auf die Schulter und scherzte: „Nimm es nicht so tragisch, es ist sicher angenehmer als die Reedukation. Nach deiner Flucht hättest du sowieso ausgedient. Organspende, falls du verstehst.“ Ich schwieg, sprach kein Wort mehr, als Zappa aus einem Schuppen ein nagelneues Mountainbike hervorzauberte, einen Beutel mit Werkzeug und einen Schlafsack daraufpackte und mich die Bande zum nächstgelegenen Luftschacht drängte. Stumm kletterte ich die Sprossen hinauf, spürte Zappas keuchenden Atem im Genick, der das Fahrrad die Leiter hochschleifte. Wir kletterten, bis die Luft schneidend vor Kälte wurde, und dann stand ich allein vor der Schleuse, kurbelte die Tür auf, schulterte das Rad, sagte auch nichts, als von unten jemand eine Flasche Whiskey hochreichte und scherzte, „die ist von Armin.“ Schweigend schob ich das Rad durch die offene Schleuse in den Schnee, und als die Luke hinter mir zuschwenkte, hörte ich noch, wie einer halblaut aus dem Dunkel zischte, „jetzt ist er endgültig todgeweiht.“ SECHSTES KAPITEL Mein erster Impuls, als ich Timo Lechner in der Tiefe verschwinden sah, war, ihm einfach hinterherzuklettern. Doch nach der ersten Schrecksekunde stellte sich die Routine des Polizeialltags wieder ein. Ich war nicht hinreichend ausgerüstet, um eine Verfolgung durch die Kanalisation in Angriff zu nehmen. Weder hatte ich mein Funkgerät dabei, noch meine Taschenlampe; in der Dunkelheit konnte ich nicht von meiner Waffe Gebrauch machen, und ohne die Rückendeckung der Kollegen konnte ich mich schlecht in unbekanntes Terrain vorwagen. Mein Hund Toto stand ewig lange vor dem Gully und kläffte wie wild, und ich konnte ihn nicht dazu überreden, endlich Ruhe zu geben. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und suchte nach Halt. Meine Knie zitterten, und mein Magen rebellierte. Bianca Lorenz kam vom anderen Ende des Stollens auf mich zu, fragte: „Ist Ihnen nicht gut?“ Ich nahm sie nicht wahr, bemerkte sie erst, als sie meinen Arm berührte. Mir war elend zumute, ich brachte keinen Ton heraus, schaffte es gerade noch, mich auf den Beinen zu halten. Und dann überkam mich zum zweiten Mal bei dieser Ermittlung ein Anflug von menschlicher Schwäche, denn ich ließ es zu, dass Bianca Toto an die Leine nahm, mich ohne ein Wort zu ihrem Auto führte und nach Hause fuhr. Mein Gedächtnis lässt mich im Stich, wenn ich versuche, die Fahrt zu rekonstruieren, die näheren Umstände zu beschreiben. Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist das Aufheulen der Sirenen draußen, die wieder einmal Smog ankündigten. Bianca hatte Tee aufgesetzt und nahm die Ölgemälde an der Wand in Augenschein, blieb lange vor dem Bild stehen, an dem ich gerade arbeitete, und fragte, ob es verkäuflich sei. Ich druckste herum, rieb mir den Schädel. Undeutlich kam mir eine Reihe von Vorschriften in den Sinn, die es bei Androhung schärfster Disziplinarstrafen untersagten, mit verdächtigen Personen zu sympathisieren. Jetzt war es zu spät: Sie war schon in meiner Wohnung. Womöglich hatten es die Nachbarn beobachtet, und wenn sie damit bezweckt hatte, Timo die Flucht zu ermöglichen, so war es ihr voll und ganz gelungen. Ich überlegte fieberhaft, wie ich die Situation vor dem Polizeirat rechtfertigen könnte. Als einzige Möglichkeit bot sich ein zweites Verhör an, das einzig und allein der Vertuschung des wahren Sachverhalts dienen sollte. Wenn ich Pech hatte, war die Kamera in meiner Wohnung eingeschaltet, und der Polizeirat schaute live aus dem Präsidium zu, wie Bianca Lorenz mir eine Tasse Tee servierte. Ich bemühte mich, nicht die Fassung zu verlieren, und setzte eine undurchdringliche Miene auf. Dann begann ich Schwester Bianca mit zynischen Fragen zu bombardieren. Sie begriff nichts, wusste sich meinen plötzlichen Sinneswandel nicht zu erklären, und bald zerflossen ihre Antworten in einer Flut von Tränen. Ich feuerte noch ein Dutzend Fragen ab, dann brachte ich das Verhör auf den Punkt: „Sie bleiben dabei, Timo Lechner bei der Flucht in die Kanalisation beobachtet zu haben?“ „Aber Sie haben es doch selbst gesehen“, schluchzte sie, „warum fragen Sie noch?“ „Ist er in die Kanalisation abgetaucht, ja oder nein?“ „Was soll das, ich meine...“ „Ein letztes Mal: Ja oder nein?“ „Ja, er ist in der Kanalisation verschwunden.“ „Gut.“ Ich bekämpfte einen erneuten Schwächeanfall, erhob mich brüsk und wies Bianca Lorenz den Weg zur Tür. „Bitte halten Sie sich in der nächsten Zeit für weitere Fragen zur Verfügung.“ Bianca verschwand ohne ein weiteres Wort, und nur der leichte Duft ihres Parfums erinnerte mich daran, dass nach all der Zeit wieder eine Frau meine Wohnung betreten hatte. Mit einem Mal wurde mir die Einsamkeit meiner Tage schmerzhaft bewusst, und es verlangte mich nach einem Mittel, den Kummer zu betäuben. Doch Alkoholika waren tabu, sexuelle Betätigung verboten, und an Rauschgift wagte ich erst gar nicht zu denken. Was blieb mir übrig: Ich schlurfte zum Badezimmerschrank, warf zwei Schlaftabletten ein und machte es mir im Ledersessel bequem, um vor dem Fernseher einzunicken. Doch kaum musste ich gähnen, zuckte ich zusammen, als hätte mich die Tarantel gestochen. Ungläubig starrte ich auf den Fernseher: Was ich dort sah, war mein altes Ledergesicht mit dem Dreitagebart und den struppigen Haaren. Ich schaltete den Ton ein und hörte gerade noch, wie der smarte Nachrichtensprecher – so ein junger Schnösel, der gerade sein Studium beendet hatte – die Sache auf den Punkt brachte: „...übertragen wir nun ein spannendes Live- Interview mit dem Mann, der für die Flucht des hochgefährlichen Gewaltverbrechers verantwortlich ist. Wachtmeister Müller, bitte äußern Sie sich!“ Es vergingen drei endlose Sekunden, ich sah mich selbst im Sessel sitzen, fuhr mir mit der Hand durch die Haare, gab mir alle Mühe, die Müdigkeit zu verbergen. Der Nachrichtensprecher wurde ungeduldig: „Ihre Stellungnahme bitte, Müller!“ „Nun, ich bin seit 48 Stunden auf den Beinen, aber dieser Straftäter bewegt sich auf der Schattenseite dieser Stadt, er ist wie ein Fisch im Wasser. Kaum glaubt man ihn zu fassen, huscht er durch irgendein Schlupfloch davon.“ „Was meinen Sie damit? Wo befindet sich der Delinquent jetzt?“ „Er ist in die Kanalisation geflohen.“ „Wie bitte?“ „In die Kanalisation. Er ist in den Kanälen.“ „Ja, sind Sie wahnsinnig, Müller? Und Sie sitzen seelenruhig in Ihrem Sessel und sehen fern, während die Bürger dieser Stadt nicht mehr unbesorgt auf die Straße gehen können?“ Ich reagierte nicht, versuchte erst gar nicht, mich zu rechtfertigen. Stattdessen knipste ich den Fernseher aus, hängte ein Handtuch über die Videokamera an der Decke und warf noch zwei Tabletten zusätzlich ein. Dann ließ ich mich wieder in den Sessel plumpsen. Jeder, der auch nur fünf Groschen Verstand besaß, musste wissen, wie mithilfe der Medien denunziert, gehetzt und verleumdet wurde. Aber leider war kritische Intelligenz nicht gefragt im Staate. Die meisten Bürger waren froh, dass sie permanenter Überwachung ausgesetzt waren. So fühlten sie sich sicherer. Und der tägliche Verrat, der durch die Medien, durch Vorgesetzte und Staatsorgane geschürt wurde, ließ sich bequem ertragen, wenn er in Schadenfreude und Opportunismus mündete. Die Tabletten wirkten rasch, und ich sank in bleiernen Schlaf. Merkwürdigerweise störte niemand meinen Schlummer: Kein Anruf, kein aufdringlicher Besuch, kein Lärm von nebenan. Sicher wäre es den Kollegen auch schwer gefallen, mich aus dem Bett zu klingeln, denn ich lag wie ein Toter auf der Matratze und nahm von der Außenwelt nichts mehr wahr. Alle Träume waren zerstoben, und auch mein geschundener Körper wollte keine Ruhe finden in der künstlichen Betäubung, die ich den Tabletten verdankte. Als ich erwachte, war es schon Vormittag, und da ich sowieso eine Rüge, wenn nicht gar ein Disziplinarverfahren zu erwarten hatte, nahm ich mir die Freiheit, erst noch eine Kanne Kaffee aufzusetzen. In Ruhe dachte ich darüber nach, wie ich mich rechtfertigen könnte. Mir war klar, dass sich das Blatt gewendet hatte: Der Verdächtige war immer noch flüchtig, die Kollegen hatten mich bei der Presse angeschwärzt, und mit der Malerei war es nun auch vorbei. Was blieb mir jetzt noch anderes übrig, als meine Gemäldesammlung aufzulösen, die privaten Dinge ins Reine zu bringen und auf das bittere Ende zu warten? Sicher hatte Polizeirat Ehlert schon einen Plan in der Schublade, wie er mich auf bequeme Weise loswerden konnte. Die letzte Frage war jetzt, wie ich mir einen guten Abgang verschaffen konnte. Seufzend stellte ich das Geschirr in den Ausguss, füllte Totos Fressnapf mit Hundefutter und verließ die Wohnung. Bianca Lorenz ging mir nicht aus dem Sinn, und während ich mit der Metro zum Kommissariat fuhr, überlegte ich fieberhaft, wie ich sie aus der Misere heraushalten könnte. Es kam ganz wie erwartet: Der Polizeirat nahm mich ins Kreuzverhör, drohte mit einem 24- Stunden-Ticket und erklärte ausführlich, der einzige Grund, mich weiter ermitteln zu lassen, liege darin, den Ruf des Kommissariats zu schützen. Ich sollte als Sündenbock herhalten, und die Kollegen würden ihre kleinen Späßchen mit mir treiben. Er schickte mich weiter ins Büro, wo Arenz und Seltz schon auf mich warteten. Ich war auf die üblichen Sticheleien gefasst, aber es kam nichts. Stattdessen führten sie mich mit geheimnisvoller Miene ins Magazin, wo sie mir die Quelle ihrer Erheiterung präsentierten. Es war ein ausrangierter Kampfroboter, dem einige Dioden durchgebrannt waren und der nun seine letzte Reise antreten sollte. „Dein Komplize bei der Fäkalienschlacht, Müller! Flink, wendig und blitzgescheit, an dem solltest du dir ein Beispiel nehmen.“ Misstrauisch beäugte ich den Roboter. Er bewegte sich per Kettenantrieb vorwärts, verfügte über eine Laserkanone und einen Infrarotsensor. Mit einer kleinen Videokamera konnte sein Blickfeld überwacht werden, und alle Funktionen ließen sich per Funk auslösen. Arenz klopfte dem Blechmann auf den Kopf, dass es schepperte, und Seltz entblödete sich nicht, den Roboter wie einen Blitz zum Getränkeautomaten sausen zu lassen und mir mittels Fernsteuerung eine eiskalte Cola zu servieren. „Ich beneide dich, Müller“, grölte er und ließ den Kronkorken wegflitschen, dass es knallte. „Du musst nur aufpassen, dass seine Schaltkreise nicht nass werden, sonst geht er baden.“ Ohne mir eine weitere Gelegenheit zu geben, den Blechkameraden genauer zu untersuchen und seine Funktionen kennen zu lernen, schleiften sie mich durch das Treppenhaus zum nächsten Gully, hoben den Kanaldeckel mit vereinten Kräften hoch und ließen den Roboter ganz einfach in den schwarzen Schacht plumpsen. „Keine Sorge, Müller, der überlebt den Stoß, dafür ist er konstruiert.“ Seltz drückte mir die Fernbedienung in die Hand und schaute mich erwartungsvoll an. Entgeistert starrte ich auf das Gerät, das außer einer Reihe von Knöpfen und Hebeln auch über einen LCD-Bildschirm verfügte, auf dem die Bewegungen überwacht werden konnten. Seltz verlor die Geduld. „Herr im Himmel, das kann doch nicht so schwer sein!“ Er riss mir das Gerät wieder aus der Hand, drückte auf Automatik: Einige Lichter flackerten auf, und unter uns setzte sich der Roboter mit hörbarem Kettengerassel in Bewegung. Auf dem Bildschirm wurde das Blickfeld sichtbar, das mittels Restlichtverstärkung grünlich erhellt war. Seltz lachte. „Siehst du, er macht fast alles von allein. Wir haben Lechners Daten bereits eingespeist, und wenn er ihn findet, erstattet er über Funk Meldung. Alles, was du tun musst, ist abwarten und Tee trinken. Zu gegebener Zeit kannst du dem blechernen Kollegen dann hinterherklettern.“ Ich schluckte. „Du meinst, ich soll ganz allein da runter?“ „Genau das.“ „Aber die werden mich zerfleischen!“ Arenz mischte sich ein. „Sieh mal, wir haben deine Ausrüstung schon zusammengestellt. Eine wasserdichte Taschenlampe, Kartenmaterial, eine Neopren-Anzug und das Übliche halt, deine geliebte Walther und die Handschellen. Du bekommst drei Ernährungspakete mit, falls du Hunger bekommst, und wenn etwas schief laufen sollte, kannst du über Funk immer noch ein Kommando Schwarzer Sheriffs zur Unterstützung anfordern. Die machen das gern, und sie kennen sich dort unten aus.“ Mir wurde ganz flau im Magen, und am liebsten hätte ich mich auf der Stelle übergeben und fünfzehn Tage Urlaub eingereicht. Arenz musterte mich höhnisch und witzelte: „Damit kommst du nicht durch, der Polizeirat hat angeordnet, dass du die Sache alleine zu Ende bringst. Und überhaupt, was hast du zu verlieren? Fang den Burschen und leg dich dann ein paar Tage in die Koje. Dein Ruf ist sowieso längst ruiniert, aber das ist immer noch besser, als wenn du selbst wegen dieser idiotischen Geschichte in den Bau gehst.“ Ich schnappte mir die Fernbedienung und die übrigen Ausrüstungsgegenstände und ließ die beiden Kollegen vor dem Gully stehen. Offenbar hatten sie beschlossen, aus meinem Karriereknick ihr persönliches Vergnügen zu ziehen. Was nach der Verhaftung mit mir geschehen würde, war ihnen völlig gleichgültig. Aus Erfahrung wusste ich, dass diskreditierte Personen wie ich meist in völliger Stille aus dem Verkehr gezogen wurden. Sie verschwanden eines Tages einfach von der Bildfläche, und kein Mensch hörte jemals wieder etwas von ihrem Schicksal. Es war auch nicht ratsam, danach zu fragen. Ich konnte mir ausmalen, was mir blühte, und sicher wäre ein klammheimlicher Suizid die einfachere Lösung gewesen. Doch ich hatte mir vorgenommen, bis zum letzten Moment zu kämpfen. Meine Liquidation sollte bei allen Beteiligten Scham und peinliche Schuldgefühle auslösen, wenngleich sie vielleicht im ersten Moment glauben mochten, nun sei die Sache endlich wieder im Lot. Ich weiß genau, wovon ich hier spreche, denn im Laufe meiner langen Karriere hatte ich manches Schicksal unwiderruflich zum Scheitern gebracht. Das Einzige, was mich vor Depression und Sucht gerettet hatte, war die Flucht in die Malerei gewesen. Doch auch damit hatte es nun ein Ende, und ich stand vor der bitteren Aufgabe, den letzten Gang anzutreten. Mit düsteren Gedanken bezog ich Stellung vor dem Computer, glich die Daten miteinander ab und verfolgte den Weg des Roboters durch die Kanalisation. Er suchte nach Spuren menschlichen Lebens, analysierte Urinproben und Abfälle und spannte ein unsichtbares Netz über die Abgründe der Megalopolis, aus dem kein Entrinnen möglich war. Leider bewegte sich der Roboter aufgrund der beengten Situation in den Kanälen nur langsam vorwärts, und wenngleich er über ein perfektes Ortungssystem verfügte, konnte ich nicht damit rechnen, in so kurzer Zeit schon eine heiße Spur zu finden. Um mir die Zeit zu vertreiben, schaltete ich zwischendurch eine Leitung ins Hypernet und verfolgte die Aktivitäten des Feministischen Kampfkorps mit. Offenbar bahnte sich eine weitere spiritistische Sitzung an, in deren Verlauf endgültig über das Schicksal von Timo Lechner entschieden werden sollte. Die Teilnehmerinnen – Eva, Agnes, Minou und weitere Drahtzieherinnen – verständigten sich in geheimen Codes dahin gehend, dass Timo Lechner zunächst sexuellen Schikanen ausgesetzt werden sollte und dann gezielt – mit Hilfe der Behörden und der Genossinnen im Untergrund – der endgültigen Zersetzung zum Opfer fallen sollte. Ich hatte den Eindruck, die Schwestern genossen ihr perverses Spiel mit den verbliebenen Möglichkeiten sexueller Ausbeutung. „Die Waffen einer Frau sind ebenso tödlich wie das modernste bakterielle Geschoss“, war das Schlagwort, mit dem Minou ihre Rachegelüste rechtfertigte. In dem Chatforum blieben die Feministinnen weitgehend unter sich. Neugierige Eindringlinge wurden mit abschätzigen Schmähworten eingedeckt, bis sie das Interesse an den Gesprächen verloren und es aufgaben, den Sinn der chiffrierten Mitteilungen zu entschlüsseln. Ich beschloss, die nächste Séance per Videospion mitzuverfolgen und bis dahin darauf zu vertrauen, dass der Roboter Erfolge bei der Schnitzeljagd durch die Kanäle verbuchen konnte. Stundenlang saß ich vor dem Computer, spielte nebenbei Pacman und telefonierte. Über einen Mittelsmann erfuhr ich, dass der Türke, den Timos Cousin mir genannt hatte, in Drogengeschäften mitmischte. Sesal Karabulut arbeite mit den Gesetzlosen vom Alten Revier Hand in Hand und sei ebenfalls auf der Suche nach Lechner, da er eine größere Lieferung vorbereite. Ich musste Acht geben, dass Timo Lechner mir nicht durch die Lappen ging, falls sie ihn als Kurier benutzten. Ich fing einen Funkspruch der Kanalwacht auf, dass im westlichen Sektor Aktivität in den Kanälen zu vermerken sei. Die Kanalarbeiter waren unbewaffnet und hatten nur die Aufgabe, die Abflüsse freizuhalten. Sie hatten einen undankbaren Job und mieden Kontakte mit den Banden im Untergrund. Ein Telefonat mit dem Elektrizitätswerk ergab, dass jemand in einem Schutzraum den Notstrom anzapfte. Ich programmierte den Roboter um und schickte ihn nachsehen. Er würde Stunden brauchen, um den Weg zurückzulegen. Der Blechkamerad musste große Umwege gehen, da er nicht amphibientauglich war. Nebenbei schaute ich Fernsehen und erfuhr, dass im Norden eine Milzbrandbombe explodiert war. Ich war mir nicht sicher, ob die Meldung getürkt war, um die Bevölkerung ruhig zu halten. Der Marschall kam zu einem fünfminütigen Interview ins Bild und rief die Bürger zum Durchhalten auf. Der Feind sei grausam und wolle alles Leben vernichten. Entnervt schaltete ich auf ein anderes Programm um. Mir war nicht klar, wen der oberste Befehlshaber damit eigentlich meinte und wie er sich den Frieden vorstellte, von dem er immer sprach. Für mich hatte die tägliche Perversion des Lebens im Untergrund längst ihren Höhepunkt erreicht. Jetzt, da ich mein Ende nahen sah, überlegte ich, was ich noch tun konnte, um der Nachwelt ein Zeichen zu setzen. Aber dann verdrängte die Langeweile alle düsteren Gedanken. Um mich zu zerstreuen, informierte ich mich weiter, was die Feministinnen trieben. Sie trafen sich im Lagerraum des Schreibwarenladens, hielten sich im flackernden Kerzenlicht bei den Händen und intonierten gutturale Gesänge. Sie schienen sich ohne Worte zu verstehen; vielleicht ein Fall von Telepathie, überlegte ich, denn mir wurde bei all dem Hokuspokus und dem Singsang nicht klar, welche konkreten Schritte sie einleiten wollten. Fast wäre ich vor dem Computer eingeschlafen, doch dann weckte mich ein durchdringendes Alarmsignal. Der Roboter war bis in den Schutzraum vorgedrungen und hatte es tatsächlich fertig gebracht, Timo Lechner auf frischer Tat zu stellen. Leider war meine Freude von kurzer Dauer, denn kaum hatte der Roboter seine Laserkanone entsichert – ich dachte schon daran, ihn einfach feuern zu lassen –, da drang aus dem Lautsprecher ein ohrenbetäubendes Scheppern. Der Strom fiel aus, und der Roboter war manövrierunfähig. Ich sah noch, wie eine Taschenlampe aufleuchtete und Lechner in den Schatten huschte. Dann fiel das Bild aus. Fluchend hämmerte ich auf der Tastatur herum, griff dann zum Telefon und erstattete Meldung. Mir war klar, dass die Faulenzerei jetzt ein Ende hatte, denn die Spur war heiß. Mir würde nichts anderes übrig bleiben, als selbst in die Kanalisation abzutauchen. Um der Häme der Kollegen zu entgehen, bereitete ich die Expedition in aller Stille vor. Ich schlüpfte in den Neopren-Anzug, steckte die Walther in das Halfter und schulterte den Rucksack mit den Ernährungspaketen und dem Kartenmaterial. Dann hinterließ ich eine Mitteilung für Arenz und Seltz, sie mögen mir Verstärkung zukommen lassen, und stieg, die Taschenlampe in der Rechten, den Schacht vor dem Präsidium hinab. Das Funkgerät funktionierte, und ich setzte eine erste Meldung ab. Gerade hatte sich meine Nase an den infernalischen Gestank gewöhnt und meine Augen sich auf das Dämmerlicht eingestellt, da erlebte ich eine Überraschung. Etwas knuffte mir von unten gegen die Beine, und als ich mich umdrehte, fiel ich aus allen Wolken: Es war Toto! Er hatte seinen eigenen Weg in die Kanalisation gefunden. Erst wollte ich mit ihm schimpfen, doch dann besann ich mich eines Besseren und kraulte ihm das Fell. Im Grunde war ich froh, Lechner nicht alleine stellen zu müssen. Toto war ein ausgebildeter Polizeihund und hatte manche Verhaftung miterlebt. Sicher konnte er mir eine Hilfe sein. Ich breitete die Karten vor mir aus und repetierte die Abzweigungen der grünen, roten und violetten Stichwege, die es ermöglichten, die Kanäle zu durchstreifen, ohne sich nasse Füße zu holen. Dann trabte ich los. Timo Lechner war weit in die unterirdischen Gewölbe vorgedrungen, und ich musste ein gutes Tempo vorlegen, um ihn einzuholen. Toto lief vorneweg; dann und wann schnüffelte er an dem feuchten Mauerwerk, und ich konnte sicher sein, dass er den Weg besser wusste als ich selbst. Der Neopren-Anzug wärmte gut, aber der höllische Gestank aus den Abwasserrohren schlug mir auf den Magen. Von Zeit zu Zeit musste ich anhalten und gegen den Brechreiz ankämpfen. Dennoch kam ich gut voran, und nach drei Stunden erreichte ich im Laufschritt den Versorgungsraum, in dem Timo Lechner genächtigt hatte. Der Raum sah verheerend aus. Ein riesiges Regal voller Konserven war über dem Roboter zusammengebrochen, der in Anbetracht seiner defekten Schaltkreise die Situation völlig falsch analysiert hatte und bis zum endgültigen Stromausfall wild mit seiner Laserkanone herumgeballert hatte. Eine Wand war eingestürzt, und eine Flut von Fäkalien hatte sich über das Schlachtfeld ergossen. Die Dosen waren in der Hitze geschmolzen und hatten den Bewegungsradius des Roboters völlig eingeschränkt. Der Blechmann war nur noch Elektronikschrott. Ich griff zum Funkgerät und informierte die Zentrale. Dann packte ich meine Karten weg und beschloss, mich ganz allein auf Totos Witterung zu verlassen. Er wedelte ungeduldig mit dem Schwanz und wartete darauf, dass ich ihm hinterherschnaufte, denn er hatte die Spur längst gefunden. Wir setzten uns in Bewegung. Bald hatten meine Schritte einen Rhythmus gefunden, der es mir ermöglichte, Toto nicht aus den Augen zu verlieren und zügig voranzukommen. Ich repetierte die Regel, die mein Ausbilder mir mit auf den Weg gegeben hatte: langsames Tempo, lange Laufzeit. Ich war bei guter Kondition, und mit Totos Hilfe standen meine Chancen gut, den Flüchtigen zu stellen. Der Weg führte durch endlos lange, feuchte Stollen und mündete in die Katakomben des Westfriedhofs. Anscheinend hatte Lechner die Tür zu den Beinhäusern aufgebrochen, was mich vor der Mühe bewahrte, das Schloss zu knacken. Ich vertraute Totos Spürsinn und lief in ruhigem Tempo weiter. Unter dem Neopren-Anzug begann ich zu schwitzen, obwohl die Temperaturen nur wenig über dem Gefrierpunkt lagen. Der Schweiß perlte mir über die Stirn, lief in die Augen und tropfte auf den Boden. Toto schien die Jagd nicht anzustrengen, und auch mich hatte das Fieber gepackt. Die Spur war heiß: Bald achtete ich nicht mehr auf die Schädelknochen und Gerippe rechts und links des Weges, spürte keinen Hunger und keinen Durst und richtete alle Energie darauf, den dunklen Punkt in der Ferne zu erreichen, an dem ich Timo Lechner vermutete. Und dann geschah das Unerwartete: Im scharfen Strahl der Taschenlampe sah ich, wie sich ein schemenhafter Schatten gegen die Mauer abzeichnete, die den Weg begrenzte. Ein Blick auf den Hund überzeugte mich vollends, dass es sich um den Flüchtigen handelte. Toto begann wild zu kläffen und stürmte vorwärts. Ich pfiff ihn zurück, da ich Lechner aus eigener Kraft überwältigen wollte. Doch er begriff augenblicklich, was ihm blühte, und hetzte in die Dunkelheit davon. Anscheinend hatte er eine Taschenlampe ergattert, so dass er genügend Sicht hatte, um den Weg zu finden. Ich hatte noch einen Augenblick Zeit, um eine Meldung abzusetzen, dann nahm ich die Verfolgung auf. Die Kräfte schienen ausgeglichen: Ich war besser durchtrainiert, aber Lechner wurde von der Verzweiflung angetrieben. Dennoch holte ich auf, und als mir die Gelegenheit günstig erschien, setzte ich zum Spurt an. Meine Lungen pfiffen, doch ich gab nicht auf. Und dann spürte ich die schmerzenden Muskeln nicht mehr, lief wie auf Watte, ohne irgendetwas anderes zu bemerken als die zerlumpte Gestalt vor mir, die mit dem Tempo nicht mithalten konnte. Ich packte Lechner von hinten, wirbelte ihn zu Boden, und Toto schnappte sich sein Bein. Aber Timo Lechner war ein zäher Brocken, und fast wäre es ihm gelungen, mich abzuschütteln und in der Finsternis zu verschwinden. Doch dann tauchte die Verstärkung auf, die ich angefordert hatte. Sechs Schwarze Sheriffs kam vom nächsten Einstiegstunnel herbeigeeilt, packten Lechner und begannen ihn vor meinen Augen zum Ausgang zu zerren. Wieder schien der Kampf entschieden. Aber das Blatt wendete sich erneut auf schicksalhafte Weise. Aus der Dunkelheit stürmte ein Stoßtrupp Autonomer auf den Kampfplatz. Die Schwarzen Sheriffs traten den geordneten Rückzug an. Ich hätte augenblicklich flüchten sollen, doch leider zögerte ich einen Augenblick zu lang. Als ich zur Waffe greifen wollte, traf mich ein Stein am Kopf, und ich wurde bewusstlos. Dann erinnere ich mich an gar nichts mehr. Ich glaube, sie folterten mich und feierten anschließend ein kollektives Besäufnis. Meine Lebensgeister erwachten erst wieder, als ich eine Gaspistole in die Hände bekam, mir den Weg freikämpfte und einen Punker in die Hölle schickte. Dann verschwand ich in den Katakomben, wo ich auf Toto traf, der mir den Weg in die Freiheit wies. Zitternd und nackt kletterte ich den erstbesten Gully hinauf, hielt einen Wagen an und ließ mich nach Hause chauffieren. Mein Körper schmerzte, und die Haut war mit Brandmalen übersät. Die Qualen schienen kein Ende zu nehmen; fast wünschte ich mir, sie hätten mir in letzter Konsequenz den Gnadenschuss gegeben. Jetzt stand ich völlig alleine da: verlacht, verhöhnt, gefoltert, mit dem Rücken zur Wand. Es blieb mir keine Wahl: Ich musste den Auftrag zu Ende führen. Doch wann würde es mir vergönnt sein, Lethe zu trinken? SIEBTES KAPITEL Die Kälte war schneidend. Ich schob das Fahrrad durch die Ruinen; mein erster Gedanke galt nicht der Strecke, die vor mir lag, sondern einem Versteck, in dem ich meine müden Knochen wärmen könnte. Die Stadt war hoffnungslos zerbombt, von Schützengräben durchpflügt, und in den vermoderten Stellungen lagen Gerippe. Manchmal huschte ein Reh durch die Trümmerlandschaft. Quer über den Himmel schwebte ein einsamer Sperber. Ich schwang mich auf das Fahrrad und folgte dem Lauf der erstbesten Straße. Die Reifen knirschten im Schnee. Mehrmals verlor ich den Halt, da die Schneedecke das Fortkommen erschwerte. Meine Finger waren taub vor Kälte; fast hätte ich aufgegeben. Aber es gab kein Zurück, und wiewohl ich nicht wusste, ob ich auf dem richtigen Weg war, fuhr ich weiter. Der Wind pfiff durch die Hausruinen und die zerstörten Fabriken. Nur ein paar Sträucher und einige Birken am Straßenrand erinnerten daran, daß hier noch Leben möglich war. Ich überquerte eine zerbombte Autobahn und kam an einen großen Fluss. Kein Zweifel, es war der Rhein. Damit war das Problem der Orientierung zunächst gelöst. Ich entschied mich, dem Fluss stromaufwärts zu folgen. Mehrmals stürzte ich zu Boden und zog mir einige Abschürfungen zu. Doch die Angst trieb mich vorwärts. Ich wollte möglichst viele Kilometer zurücklegen, um den Verfolgern zu entkommen. Dann wurde es dunkel, und an Weiterfahrt war nicht zu denken. Die Landschaft bot keinen Schutz. Ich versteckte mich in einer Toreinfahrt, lehnte das Fahrrad gegen eine Mauer und sackte zusammen. Schlotternd vor Kälte kroch ich in meinen Schlafsack, der bald vom Schnee durchnässt war. Aus Verzweiflung kramte ich den Whiskey aus dem Rucksack und genehmigte mir einen Schluck. Der Alkohol brannte in der Kehle und benebelte den Verstand. Mir war nicht bewusst, wie gefährlich es war, bei dieser Kälte zu trinken. Schnell war die Flasche geleert. Im Suff erfreute ich mich daran, einmal etwas anderes zu sehen als die Tunnel der Megalopolis. Möglicherweise war ich kurz vor dem Erfrieren, doch der Whiskey ließ mich alle Schmerzen vergessen. Die Kälte hinderte mich daran einzuschlafen, aber die Trunkenheit war ein angenehmes Gefühl. Am Himmel sah ich die Sterne funkeln. Kein Laut durchbrach die gespenstische Stille; das Land schien wie ausgestorben. Erst gegen Morgen huschte ein Fuchs durch die Toreinfahrt. Er beäugte mich mißtrauisch, zeigte aber keine Anzeichen von Aggression. Mit schmerzenden Gliedern rappelte ich mich hoch. Mein Kopf dröhnte, und die Finger waren noch immer wie Eis. Im Licht der Dämmerung setzte ich meinen Weg fort. Noch immer war ich keiner Menschenseele begegnet. Wahrscheinlich war die Strahlung zu hoch, um das Überleben an der Erdoberfläche zu ermöglichen. Am frühen Vormittag machte ich Halt bei einem zerfallenen Schuppen. Mit zittrigen Fingern sammelte ich alte Zeitungen und Holzscheite auf und entfachte ein Feuer. Es war eine Erlösung, die Hände über dem Feuer zu wärmen und in einem verrosteten Topf etwas Schnee aufzutauen, um den Durst zu stillen. Ich machte mir keine Gedanken, wie lange ich wohl im Fallout überleben würde. Mir ging es nur darum, ein bisschen Schlaf zu finden und mir noch einmal den Bauch voll zu schlagen, bevor mich meine Verfolger zur Strecke brächten. Das Feuer züngelte an den Holzscheiten entlang und spendete wohltuende Wärme. Bald war der Schlafsack getrocknet, und für einen Augenblick schien die Welt wieder im Lot. Ich dachte an Bianca und an meinen Cousin. Ich fragte mich, ob ich wohl bei meinem Ableben eine Lücke in dem Leben meiner Freunde hinterlassen würde. Bevor ich weiterfuhr, machte ich eine Bestandsaufnahme. Ich besaß einen Schlafsack, ein Taschenmesser, ein Feuerzeug und den alten Topf, den ich in einer Ecke des Schuppens gefunden hatte. Dann das Geld: Zehntausend Euros, gebündelt in Hundertern. Zappa hatte sich nicht lumpen lassen, die Lieferung schien ihm einiges wert zu sein. Ich mochte nicht wissen, was er sich einfallen ließ, wenn ich versuchte, ihn übers Ohr zu hauen. Wie ich an den Stoff kommen sollte, war mir unklar. Ich kannte nur den Namen meines Kontaktmannes und meine Anlaufstelle: Ein Lager von Aufständischen im Norden Marokkos. Wie ich die weite Strecke mit dem Fahrrad zurücklegen sollte, war mir schleierhaft. Allein die Überfahrt durch die Straße von Gibraltar stellte ein ernsthaftes Problem dar. Ich entschied mich dazu, noch eine Nacht in dem Schuppen zu verbringen, um mich an dem kleinen Feuer etwas aufzuwärmen und Kraft zu sammeln für die lange Reise. Als der dritte Tag anbrach, war ich gut gelaunt. Aber der Hunger bohrte, und ich hätte alles gegeben für eine Tafel Schokolade oder eine Schüssel mit Reis. Vergeblich hatte ich versucht, eine Maus zu fangen oder in den Ruinen ein Nahrungsdepot zu finden. Die Hoffnung auf eine Mahlzeit trieb mich vorwärts, und ich legte Kilometer um Kilometer zurück. Die Landschaft war trostlos. Überall nur ausgebrannte Häuser, zerstörte Straßen, verrottete Massengräber. Das Fahrrad war für Geländefahrten konstruiert, aber bereits am vierten Tag brachen zwei Speichen. Ich hatte keinen Ersatz und ignorierte die eiernde Felge, die bei jeder Radumdrehung an den Bremsklötzen schleifte. Am fünften Tag hatte ich Glück und fand im Keller eines zerstörten Bauernhauses ein Nahrungsmitteldepot. Die Konserven waren dreißig Jahre alt, aber durch chemische Zusätze schien der Mais noch genießbar. Ich stopfte dreißig Dosen in einen alten Postsack, den ich mit einem Riemen auf dem Gepäckträger des Fahrrads befestigte. In einer Ecke des Kellers fand ich eine verrostete Luftpumpe, die ich meiner Ausrüstung hinzufügte. So fuhr ich eine ganze Woche an dem Fluss entlang, schlief in Scheunen und ausgebrannten Bauernhäusern, wühlte im Schutt nach brauchbaren Dingen und wärmte mich nachts am Lagerfeuer. Am zehnten Tag lagerte ich mittags unter einem knorrigen Apfelbaum, in dem ein kohlschwarzer Rabe sein Nest gebaut hatte. Der Vogel fühlte sich durch meine Anwesenheit gestört, und ich nahm sein wütendes Gekrächze zum Anlass, meine Orientierung zu überdenken. Ich musste dem Fluss stromaufwärts bis nach Kehl gefolgt sein, wie ich gelegentlichen Ortsschildern entnehmen konnte. Nun galt es, die Vogesen zu überqueren und durch die Berge bis zur Saône vorzustoßen. Während all der Tage war ich keinem einzigen Menschen begegnet, und ich wähnte mich bereits vor meinen Verfolgern in Sicherheit. Ich ließ den Rhein hinter mir und kämpfte mich querfeldein durch überwucherte Schützengräben, verrosteten Stacheldraht und an verlassenen Bunkern vorbei. Mein Schutzengel war mir gnädig, denn ich schaffte die Strecke bis nach Vesoul, ohne auf eine Mine zu laufen oder mir einen Plattfuß zu holen. Dann erreichte ich die Saône, und ich folgte dem Strom, bis er breit und träge wurde und mir den Weg wies bis zur ehemaligen Stadt Lyon. In einem Vorort von Lyon fand ich einen geeigneten Schlupfwinkel, in dem ich mich zwei Tage ausruhen konnte. Es war ein klappriger Wohnwagen auf einem zerstörten Campingplatz, der für meine Zwecke perfekt war. Ich fand Werkzeug, Konserven, alte Kleidungsstücke und vergilbte Landkarten, auf denen ich meinen Standort bestimmen konnte. Bisher hatte ich von meinen Verfolgern keine Spur bemerkt. Ich wähnte mich bereits in Sicherheit und frohlockte, dass Müller den Kampf aufgegeben hatte. Überhaupt schien ganz Europa leer gefegt zu sein von Spuren menschlichen Lebens. Die Zeitungen mussten lügen, wenn sie von rebellischen Aktivitäten an allen Fronten meldeten und das Leben unter dem Joch des Regimes anpriesen. Fast hätte ich die radioaktive Strahlung in den Wind geschrieben und mich mit meiner neuen Existenz dauerhaft angefreundet. Dennoch wollte ich die Lieferung überbringen, da ich nicht das Leben meiner Freunde in Gefahr bringen mochte. So vergingen die Tage; die Temperaturen wurden zusehends erträglicher, und das Leben schien wieder ein Genuss. Ich trat wie besessen in die Pedale, und am zwanzigsten Tag erreichte ich das Mittelmeer. Es war eine Erlösung, wie sich das klare Blau des Meeres bis zum Horizont vor mir ausbreitete; ich roch den harzigen Geruch der knorrigen Kiefern und war mir sicher, dieses Erlebnis nie wieder zu vergessen. Mit schlottrigen Knien nahm ich die Abfahrt bis zur nächsten Bucht, um anschließend stundenlang mit den nackten Füßen über den Strand zu schlendern; das Fahrrad hatte ich gegen eine zerfallene Mauer gelehnt und den Schlafsack über einen Stahlträger zum Trocknen gehängt. Dann, als der Abend hereinbrach, hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis. Es war stockdunkel, und ich freute mich bereits auf das Funkeln der ersten Sterne, als ein merkwürdiges Geräusch die Stille durchbrach. Es war ein leises Surren, nicht wie der Motor eines Autos oder das Dröhnen eines Hubschraubers, mehr wie das Zischen einer gigantischen Wespe. Und dann sah ich das merkwürdigste Flugobjekt über den Himmel schweben, dem ich je begegnet war. Es sah aus wie eine riesige Zigarre, mit einem Propeller am Rumpf und einem gläsernen Führerhaus, in dem zwei vermummte Gestalten kauerten. In Zeitlupe schwebte das seltsame Fluggerät über den Strand, um dann zu beschleunigen und wie von Zauberhand getragen hinter dem Kap zu verschwinden. Ich überlegte nicht lange, wer mir da eine Aufwartung gemacht hatte. In Windeseile packte ich meine Sachen auf das Fahrrad und raste über die stockdunkle Uferstraße bis zu der nächsten Ortschaft, um mich in einem baufälligen Schuppen zu verstecken. Wer auch immer die fliegende Zigarre gesteuert hatte, er würde mir sicher keinen warmen Empfang bereiten, wenn er mich einmal aufgesammelt hatte. Überhaupt wunderte ich mich langsam, dass ich in den vier Wochen noch keinem Menschen begegnet war, denn ich war mir sicher, dass auch hier Menschen in unterirdischen Städten lebten. Aber in meinem Übermut und meiner Ignoranz schenkte ich den Dingen keine Beachtung und freute mich über jeden Kilometer, den ich auf dem Fahrrad zurücklegte. Ich ernährte mich von den Konserven, die ich gefunden hatte, durchquerte riesige Trümmerfelder und Brachland, auf dem einst Ackerbau betrieben worden war. Die Sonne wärmte meine müden Knochen, und ich tollte wie ein übermütiges Kind über die Felsen, dachte nicht an Tollwutgefahr und Strahlung, wähnte mich längst in Sicherheit vor meinen Verfolgern und dachte daran, das Geld für die Lieferung in Nordafrika zu verprassen. Aber dann kam ich in die Berge, und mit jedem Meter, den ich mich über den Pass quälte, näherte ich mich einer unsichtbaren historischen Grenze. Es war die Iberische Halbinsel, die sich vor meinen Füßen auftat, und ich war einigermaßen überrascht, als ich an einen Schlagbaum kam und mich ein Grenzschild sowie ein Dutzend Videokameras daran erinnerten, dass ich spanischen Boden betrat. Es wurde davor gewarnt, die Straße zu verlassen, da in den Büschen noch unzählige Minen aus vergangenen Scharmützeln lauerten. Mit einem Mal begriff ich, dass ich all die Tage und Wochen unter permanenter Beobachtung gestanden hatte und lediglich aufgrund einer mir unbekannten diplomatischen Entscheidung freie Fahrt genossen hatte. Die Spanier schienen weniger gastfreundlich zu sein, denn nach einer zwanzig Kilometer währenden Abfahrt zum Fuße der Pyrenäen sichtete ich die erste Militärstreife. Ich schlug alle Warnungen in den Wind, zerrte das Fahrrad die Böschung hoch und pflügte durch die Felder bis in den nahe gelegenen Wald. Ich vermutete, dass die ganze Landschaft überwacht wurde und verwanzt war und entschied mich, nur noch bei Nacht zu fahren. Im hellen Mondlicht kam ich erstaunlich gut voran, obwohl die Gegend sehr bergig war und mir meine letzten Kräfte abverlangte. Mit Gegenverkehr war nicht zu rechnen, und die wenigen Jeeps, die auf Patrouille waren, machten so viel Lärm, dass man sie kilometerweit ausmachen konnte. So kämpfte ich mich viele Nächte durch das Terrain, schlief in windschiefen Scheunen und alten Schuppen, die von einem zähen, ereignisreichen Leben auf spanischem Feld zeugten. Manchmal war mir mulmig zumute, wenn ich mich in stockdunkler Nacht durch die Wälder schlug, und zuweilen glaubte ich, im Dickicht Gestalten zu sehen, die mich beobachteten. Aber dann lachte ich über meine übertriebene Besorgnis und wähnte mich bereits am Felsen von Gibraltar, wenngleich meine Karte mir klarmachte, dass ich erst in den knochentrockenen Ruinen Andalusiens angelangt war. Selbst hier war selten ein Stein auf dem anderen geblieben, und wenngleich die Sonne tagsüber sengend heiß war, gab es auch abrupte Kälteeinbrüche, und Schneeböen erinnerten mich an die Kälte in der Megalopolis, die ich weit hinter mir gelassen hatte. Schließlich gingen mir die Konserven aus, und der Hunger stellte meine Kräfte auf eine harte Probe. Trinkwasser fand ich immer wieder, und wenngleich ich manchmal in Bächen und Tümpeln meinen Durst stillen musste, war ich nie in ernsthafter Verdurstungsgefahr. Das Brackwasser schmeckte wie abgestandene Plörre und füllte den Magen, machte mich aber müde und abgeschlagen, und ohne Nahrung war an Weiterfahrt nicht zu denken. In meiner Gier nach etwas Essbarem schlug ich alle Vorsicht in den Wind und wagte mich in eine verlassene Kaserne. Ich hoffte, in den winddurchzausten Winkeln des ehemaligen Militärcamps ein Nahrungsmitteldepot zu finden, in dem ich meine Vorräte auffüllen konnte. Mir hätte klar sein müssen, dass ich damit ein ungeschriebenes Gesetz übertrat und die Hüter des Gesetzes auf den Plan lockte. Unbesorgt sammelte ich alle Gegenstände auf, die mir von Nutzen waren und knackte die Tür zu einem Notstromraum. Konserven fand ich nicht, aber der kleine Raum, in dem verschiedene Sicherungskästen angebracht waren, versprach eine Nacht im Trockenen. Ich rollte den Schlafsack aus und war bald eingeschlafen. Mitten in der Nacht wurde ich wach, als ich von draußen her Schritte hörte. Ich hatte gerade noch Zeit, aus dem Schlafsack zu schlüpfen, dann hatte die Patrouille mein Versteck gefunden. Sie waren zu zweit: Bullige Streifenbeamte von der Policia Municipal in voller Ausrüstung. Es half nichts, dass ich laut um Hilfe schrie und Gott um Gerechtigkeit bat: Sie hebelten mir die Arme auf den Rücken, legten mir Handschellen an und bearbeiteten mich mit Fußtritten, bevor sie mich nach draußen zerrten und mich auf den Rücksitz des Streifenwagens hievten. Dann muss ich ohnmächtig geworden sein; ich erinnere mich nicht an die Fahrt ins Hauptquartier, wurde erst wieder wach, als ich in einem kahlen Raum auf einer steinernen Pritsche saß und das Verhör begann. Die Handschellen schnitten ins Fleisch, und bei jeder Bewegung zogen sie sich fester. Ein fetter Beamter trat in den Raum und gab mir zu Beginn eine schallende Ohrfeige. Dann begann er mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehres eine Salve von Fragen auf mich abzufeuern. Ich verstand kein Wort, denn das Verhör war auf Spanisch, und es war kein Dolmetscher anwesend. Ich verstand nur so viel, dass er meinen Namen wissen wollte und den Grund meines Aufenthaltes in Spanien. Ich sah meine einzige Chance darin, ihm meine Identität zu verleugnen. Frech behauptete ich, marokkanischer Nationalität zu sein und aus Tanger zu stammen. Der Beamte glaubte mir kein Wort und schlug mit seinem Ledergürtel auf mich ein. Als ich verbissen schwieg, zerrte er mich mit Unterstützung seiner Kollegen aus dem Verhörzimmer und sperrte mich in eine Arrestzelle. Es war dunkel dort, und ich hatte bohrenden Hunger. Immer wieder hämmerte ich an die Zellentür und schrie nach dem Wärter. Ich verlangte nach einem Dolmetscher und bat um etwas zu essen. Aber meine Klagen blieben erfolglos. Schließlich kauerte ich mich in eine Nische auf den Boden und versank in traumlosen Schlaf. Im Dunkeln schien die Zeit schneller zu vergehen, und ich hätte nicht sagen können, wie lange es dauerte, bis die Zelle geöffnet wurde. Mir kam es wie ein halbes Jahr vor, bis der Wärter mich abholte, aber es konnten nur zwei oder drei Tage gewesen sein. Wieder ging es in das Verhörzimmer, und wieder log ich, dass sich die Balken bogen. Ich hatte den Eindruck, dass dem Beamten nichts anderes übrig blieb, als meine Geschichte als wahr hinzunehmen. Aber sie waren noch lange nicht mit mir fertig. Ich bekam etwas zu essen und zu trinken – gerade genug, dass ich dem Verhör standhalten konnte -, dann wurde ich wieder in die Zelle gesperrt. Ein gutmütiger Wärter schaltete das Licht an und steckte mir ein kleines Büchlein zu, das religiöse Geschichten enthielt. Verzweifelt blätterte ich in dem Buch und bemühte mich vergeblich, den Sinn der Worte zu entziffern. Aber es dauerte nicht lange, dann hatten das nervenzerfetzende Verhör und die Gewalt der Schläge den Nebeneffekt, dass ich die Fragen der Beamten verstand. Wieder behauptete ich, Marokkaner zu sein und lediglich meine Angehörigen in der Heimat besuchen zu wollen. Sie fragten mich nach meiner Heimanschrift, und ich erfand schnell eine Adresse, die sich meiner Meinung nach arabisch anhörte. Aber die Adresse war nicht im Polizeicomputer verzeichnet, und die Fragerei begann von vorne. Um mich redseliger zu machen, wurden dem Trinkwasser Chemikalien beigesetzt. Die Drogen hatten ihre Wirkung, und ich weiß nicht mehr, wie viel ich von der Wahrheit verriet. Ich erinnere mich nur an die grelle Lampe der Verhörzelle und die Schläge, die mich trafen, wenn ich zu lange schwieg. Dann entschieden sie wohl, dass ich ein härteres Kaliber sei, und überführten mich in die Verliese der Guardia Civil. Mir war klar, dass ich jetzt ausgespielt hatte. Halb und halb erwartete ich, dass sie mich zum Auftakt nötigen würden, aber die Schergen hielten sich an die gesetzliche Vorschrift. Ich musste die Kleider ablegen, wurde kalt abgeduscht und in den gestreiften Drillich der Strafgefangenen gesteckt. Sie nahmen mir Fingerabdrücke ab, schossen ein Fahndungsfoto und setzten mir eine Spritze, der Himmel weiß, was sie enthielt. Dann begann das Verhör von neuem. Name, Adresse, Geburtsdatum und Grund des Aufenthaltes in Spanien. Nach zwei Wochen verstand ich den Sinn der Fragen und konnte gebrochen antworten. Manchmal bekam ich etwas Wasser zu trinken oder ein Bocadillo mit Käse. Dann wurde ich wieder in Dunkelhaft gelegt. Schließlich kam der Tag der Gerichtsverhandlung. Sie riefen mich unter meinem falschen Namen auf, und ich hatte den Eindruck, dass die Lügen ihre Wirkung gezeigt hatten. In einem Schnellverfahren wurde ich abgeurteilt. Der Verteidiger händigte mir eine Kopie des Urteils aus, aber ich verstand kein Wort von dem, was mir vorgeworfen wurde. Sie sperrten mich wieder in Dunkelhaft. Immerhin wurde ich jetzt regelmäßig mit Nahrung versorgt und kam wieder etwas zu Kräften. Dann wurde ich in ein Obdachlosenasyl verlegt, das mir nach den Tagen und Nächten im Knast wie ein Luxushotel vorkam. Vor dem Eingang der Herberge standen Wachen, und es schien unmöglich, das Gebäude zu verlassen. Es gab jeden Tag einfache Mahlzeiten, und den Gesprächen der anderen Obdachlosen entnahm ich, dass nicht mit Besserung zu rechnen war. Ich schlief in schäbigen Betten, ließ mich nachts von den Wanzen beißen und tagsüber von den Mücken zerstechen und wartete auf eine Gelegenheit zur Flucht. Die Chance kam früher, als ich damit gerechnet hatte. Eines Tages nahm mich ein Wärter beiseite und teilte mir mit, es sei Weihnachten. Er erlaubte mir, für zwei Stunden das Hotel zu verlassen und mir die Beine zu vertreten. Ich irrte durch die Tunnel und Straßen und kam irgendwann zum zentralen Platz der Stadt. Eine Kirche bot meinen Schritten Halt; ich reihte mich in die Schlange der Gläubigen ein und wartete darauf, dass etwas geschah. Nach einer Weile kam der Pfarrer eiligen Schrittes auf mich zu. Hastig erklärte er mir, ich könne hier nicht bleiben, steckte mir heimlich eine Tüte mit Keksen und einer Flasche Limonade zu und empfahl mir, das Heil in der Flucht zu suchen. Ich war verzweifelt. Die Menschen sprachen in einer schwer verständlichen Sprache, ich hatte keine Freunde, wusste nicht, wo ich war und wie ich das Tunnelsystem verlassen konnte. Dann rettete mich ein Zufall. Ein kleines Mädchen sprach mich an und erklärte, ich könne durch den Notausgang eines Einkaufszentrums an die Erdoberfläche zurückkehren. Ich merkte mir die Wegbeschreibung, schlich mich an dem Sicherheitspersonal eines riesigen Supermarktes vorbei zum Belüftungssystem und kletterte durch den Notausstieg zurück an die Erdoberfläche. Dann schleppte ich mich in den Schutz eines nahe gelegenen Wäldchens und brach erschöpft zusammen. Ich kam wieder zu mir, als der kalte Wind durch das Gehölz pfiff und die grauen Wolken einen Regenguss ankündigten. Den Tag über blieb ich in meinem Versteck und wagte es erst gegen Abend, zu der Kaserne zurückzukehren, um in Erfahrung zu bringen, was von meiner Ausrüstung noch übrig war. Das Fahrrad hatte die Polizei mitgenommen, aber die Tasche mit dem Geld und den Landkarten hatten sie übersehen. Der Schlafsack war nicht mehr zu gebrauchen, sie hatten ihn zerrissen und die Daunen in der Landschaft verstreut. Ich schnappte mir die Tasche und suchte dann eiligst das Weite. Im Schutze einer nahe gelegenen Scheune zählte ich das Geld und stellte zu meiner Verblüffung fest, dass nichts fehlte. Jetzt kam es nur darauf an, im Schutze der Dunkelheit bis zum Meer vorzudringen und einen Schiffer zu finden, der das Risiko einer Überfahrt nach Marokko auf sich nahm. Ich schlief tagsüber in verlassenen Gehöften und wagte mich im Schutze der Dunkelheit auf die Landstraßen, orientierte mich an verrosteten Wegweisern und versuchte auch dem Sternenhimmel eine Lagebestimmung abzugewinnen. Ich muss mehr Glück als Verstand gehabt haben, dass ich sicheren Fußes durch die Minenfelder lief und keiner Streife mehr begegnete. Der Erfolg stimmte mich übermütig; ich wähnte mich schon in Sicherheit und glaubte, keine Macht der Erde könne meine Fahrt nach Marokko mehr verhindern. Es mochten nur hundert Kilometer bis zum Meer sein, aber ohne das Fahrrad kam ich nur langsam voran. Ich musste stets nach Trinkwasser Ausschau halten und mir tagsüber einen Pennplatz suchen. Nahrung gab es genügend, denn die Hügel und Täler waren von überwucherten Zitronen- und Orangenplantagen bedeckt, von deren Früchte ich mich ernährte. Die Orangen schmeckten bitter und waren voller Kerne, aber es war besser als der Hunger, der mich so lange gequält hatte. Manchmal glaubte ich die Orientierung zu verlieren, aber dann fand ich wieder eine Trümmerstadt, die auf der Karte verzeichnet war und konnte meinen Weg fortsetzen. So mochten vier Wochen vergangen sein, bis ich schließlich das Ziel meiner Träume erreichte und sich das blaue Glitzern der Wellen vor meinen Augen ausbreitete. Das Meer schien wie eine Erlösung das Ende meiner Irrfahrt anzudeuten und ließ mein gebeuteltes Herz höher schlagen. Ich warf die Tasche mit dem Geld in die Luft, fing sie wieder auf und rannte dann bei hellichtem Tag bis zum Ufer, um auf dem heißen Sand einen Freudentanz aufzuführen. Dann erkundete ich die Umgebung. Zwanzig Kilometer weiter gab es einen kleinen Hafen, und es dümpelten sogar ein Dutzend Fischerboote auf den Wellen. Aber weit und breit war kein Schiffer in Sicht. Ich wartete bis zum Abend und legte mich dann auf der Kaimauer schlafen. Mit mehr Glück als Verstand entging ich einer weiteren Verhaftung und begegnete zwei Tage später einem bärtigen Skipper, der sein Boot startklar machte. Ich verstand soviel, dass er die Fanggründe überwachte und auf eigene Gefahr die Bunker der nahe gelegenen Stadt verlassen hatte, um einen Fang einzuholen. Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, dass man durchaus draußen überleben konnte, aber er lachte mich aus und verwies auf die staatlichen Pressemeldungen, die das Überleben auf der Erdoberfläche als unmöglich erklärten. Er gehe nur einmal im Jahr auf See, und was sonst draußen geschah, sei nicht sein Problem, es war Krieg und er sei froh, wenn er unbescholten vom Fang zurückkehren könne und die Fische beim Meeresbiologischen Institut abladen könne. Erst weigerte er sich, mich mitzunehmen, aber als ich mit einem Bündel Geldscheinen winkte, erklärte er sich bereit, mich in Ceuta abzusetzen und bei den Behörden kein Wort über meine Flucht zu verlieren. Er warf den Motor an, und das verwitterte Boot setzte sich in Bewegung, tuckerte langsam aus dem Hafen und zerteilte die Wellen. Mir wurde übel von der Schaukelei und dem scharfen Wind, und ich kauerte mich neben einer Rolle Tau auf die Planken und betete, dass kein Sturm aufkommen möge. Die Bitte wurde erhört, und obwohl das Schiff von den Wogen ordentlich durchgebeutelt wurde und ich mehr als einmal den Magen ausleerte, erreichten wir zwei Tage später das Festland. Ich steckte dem Fischer zweihundert Euros zu und sah sein Boot in der Ferne verschwinden. Die Zikaden zirpten und voller Euphorie wurde mir bewusst, dass ich mein Ziel erreicht hatte. Vielleicht wäre es der schönste Tag meines Lebens geworden: In Sicherheit vor der Polizei, mit einem Batzen Geld in der Tasche und glücklich auf dem geheimnisvollen schwarzen Kontinent gelandet. Doch Afrika entpuppte sich als verhängnisvoller Wendepunkt. Eben sah ich, wie eine Gruppe junger Leute vom anderen Ende des Kais auf mich zuschlenderte und dachte noch, vielleicht ist der Kontaktmann dabei, da wurde ich von einem grausamen Husten durchschüttelt. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, und als ich sie wieder senkte, sah ich, dass die Handfläche voller Blut war. ACHTES KAPITEL Nachdem ich meine Wunden ausgewaschen hatte und die schmerzenden Stellen mit kühlender Salbe bedeckt hatte, rekapitulierte ich die nächsten Schritte. Am gescheitesten schien es mir, eine Flucht nach vorne zu wagen und den Polizeirat aufzusuchen. Ich legte die Dienstuniform an, nahm Toto an die Leine und machte mich auf den Weg ins Präsidium. Der Hund spürte meine Unruhe und zeigte Anzeichen von Aggression. Ich parkte den Wagen in der Tiefgarage und nahm den Aufzug in die Chefetage. Die Kollegen machten ihre Witze, als sie mich kommen sahen, ließen mich jedoch gewähren, als ich, den Hund im Schlepptau, das Büro von Polizeirat Ehlert betrat. Zu meiner Überraschung war der Polizeirat nicht im Geringsten erstaunt, als er mich kommen sah, und ignorierte Toto, obwohl es verboten war, Polizeihunde in die Büros mitzunehmen. Er lachte sogar recht herzlich, versuchte einen Scherz: „Tag, Müller, waren Sie auf der Grillparty?“ Ich war über seine freundliche Laune verwirrt, hatte damit gerechnet, aus dem Dienst entlassen zu werden oder ins Kreuzverhör zu kommen. Insgeheim hatte ich gehofft, Toto als Schutzschild benutzen zu können, aber der Polizeirat tat, als sei die Welt völlig in Ordnung. In säuselndem Ton erteilte er mir einen Auftrag. Er wisse bereits, dass Timo Lechner flüchtig sei und die Megalopolis verlassen habe; die Medien hätten den Fall mit Interesse verfolgt und seien anscheinend härter am Ball als seine eigenen Beamten. Er habe sich dazu entschlossen, mit der Presse zu kooperieren, und da die öffentliche Meinung dahin tendiere, Lechner um jeden Preis hinter Schloss und Riegel zu bringen, wolle er gute Miene zum bösen Spiel machen und mich den Fall weiter bearbeiten lassen. Allerdings solle ich mir darüber im Klaren sein, dass dies mein letzter Auftrag sei und ich mich anschließend einer Reedukation unterziehen müsse. „Unter uns gesagt, Müller, es wäre das Beste, wenn Sie umgehend Ihre Wohnung auflösen und sich auf ein unrühmliches Ende Ihrer Karriere vorbereiten. Den Hund lassen Sie einschläfern, oder Sie nehmen ihn mit. Ich lasse Ihnen einen Passierschein ausstellen, falls Sie unterwegs in Schwierigkeiten kommen sollten. Ich verlange nicht von Ihnen, dass Sie sich unnötig der Strahlung aussetzen, aber Sie sollten Lechner schnappen, bevor er weiteren Unfug anrichtet. Wir haben ihn über Satellit gesichtet, und es scheint, als sei er nach Süden unterwegs. Sie haben noch 24 Stunden Zeit, um Ihre Sachen in Ordnung zu bringen, dann nehmen Sie die Verfolgung auf.“ Ich nickte und bedankte mich für die Rücksichtnahme. Im Stillen wunderte ich mich über so viel Freundlichkeit, doch meine Erleichterung dauerte nicht lange. Die Kollegen feixten. Ich verstand nicht, was hier vor sich ging, doch Arenz half mir auf die Sprünge. „Sieh mal, Müller, du hast dich so lächerlich gemacht, dass der Fall die halbe Nation erheitert. In den Nachrichten bringen sie alle zwei Stunden etwas über Lechner und dich, ich empfehle dir, die Berichterstattung erst gar nicht mitzuverfolgen. An jeder Straßenecke werden sie über dich lachen.“ Ich schenkte seinen Unkenrufen keinen rechten Glauben, änderte jedoch meine Meinung, als ich auf der Heimfahrt zweimal von Rasern geschnitten wurde und ich sah, wie die Leute mit den Fingern auf mich zeigten. Als Polizeibeamter war ich es gewohnt, eine Zielscheibe unbegründeter Aggression zu sein, aber als ich zum hundertsten Mal ausgelacht worden war, freute ich mich fast schon darüber, die Megalopolis verlassen zu können. Ich kam zurück nach Hause, musste erst einmal zwei Fernsehteams mühselig ignorieren und kämpfte mich bis zu meinem Appartement vor, wo ich Zeuge eines ungewöhnlichen Schauspiels wurde. Eine Horde von Neugierigen, Nachbarn, Feministinnen und Reportern drängte sich in meiner Wohnung. Mitten im Wohnzimmer stand ein Gerichtsvollzieher und versteigerte das Wohnungsinventar. Die Kameramänner hatten mich voll im Bild, als ich versuchte, meine Rechte zu verteidigen und zu retten, was zu retten war. Als ich dann sah, wie die CD- ROM mit Lechners Programm den Besitzer wechselte und in der Tasche einer aufgedonnerten Person verschwand, gab ich auf. Ich zerrte Toto hinter mir her, der wild bellte, setzte mich in den Streifenwagen und verließ die Stadt. Der Passierschein war mein Ticket zur Hölle, was brauchte ich mehr? Auf allen Fernsehbildschirmen flimmerte mein Bild, jetzt konnte ich abtreten als Lachnummer der Nation. An der Grenze zur Megalopolis stand eine Streife, und ich parkte den Wagen auf dem Randstreifen. Es war Seltz, der auf mich gewartet hatte. Wie er es schaffte, immerfort zu grinsen, war mir ein Rätsel. Ich bat ihn um eine Schachtel Zigaretten, und wir rauchten schweigend eine Kippe nach der anderen. Dann zeigte ich ihm den Passierschein. Seltz schüttelte den Kopf. „Der Schein ist eine Farce. Du musst Lechner unbedingt vor der Grenze abfangen, sonst bist du erledigt. Weißt du, was es heißt, mit so einem Papier in Europa unterwegs zu sein? Ich sag es nicht gerne, aber sie werden dich in den Arsch ficken, dass du dir wünschen wirst, deine Mutter hätte dich nie geboren. Schnapp ihn dir im Sektor D, sonst bist du erledigt. Und vermeide es um Himmels willen, zu früh zur Erdoberfläche vorzudringen. Die Strahlung ist absolut tödlich.“ Ich dankte Seltz für den Hinweis, und er steckte mir noch eine Schachtel Zigarren zu. „Falls du deinen toten Punkt erreichst, rauch eine von denen. Ich sage dir, die Stumpen wirken Wunder.“ Er sah mir nach, als ich durch den Ferntunnel verschwand, und ich war mir nicht sicher, ob ich ihn je wieder sehen würde. Wäre ich kein Polizist, so hätte ich mich wahrscheinlich klammheimlich ins Ausland abgesetzt. Ich hatte meine Papiere dabei und eine wertvolle Kreditkarte, und es wäre ein Kinderspiel gewesen, das Konto zu plündern und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Aber ich war ein Bulle, und ich hatte meine Prinzipien. Ich sah es als meine Pflicht an, dem Staat zu dienen, und wenn ich in die Reedukation musste, so würde ich dieses Schicksal auf mich nehmen. Die Straße nahm kein Ende, und ich verfiel in den monotonen Rhythmus der Fernfahrer. Der Weg war deutlich ausgeschildert, lediglich die Straßensperren hinderten mich von Zeit zu Zeit an der Weiterfahrt. Die Soldaten lachten sich scheckig, als sie mich kommen sahen. „Da ist der Depp“, hörte ich sie tuscheln. „Lass ihn ruhig weiterfahren, der kommt sowieso nie mehr zurück.“ Ich fuhr weiter bis zur Goldenen Bremm und entschied mich, eine längere Ruhepause einzulegen. Ich mietete ein Zimmer im Motel und schloss meinen Laptop ans Hypernet an. Mit Hilfe des Navigationssystems konnte ich die Satellitenbilder auswerten. Lechner war ein schlauer Fuchs, er bewegte sich meist bei Nacht oder in der Dämmerung. Auf den Fotos konnte man ihn kaum erkennen, es waren nur ein oder zwei deutliche Bilder dabei. Zu meinem Glück kam er mit dem Fahrrad nur langsam vorwärts. Am einfachsten schien es mir, ihn an der Grenze abzufangen. Er musste zwangsläufig dort vorbeikommen, und mir konnte es nur recht sein, wenn ich eine Ruhepause einlegen konnte. Mein Körper schmerzte noch immer von der Folterung im Alten Revier, und mein seelisches Befinden war keinen Deut besser. Ich verkroch mich in meinem Hotelzimmer und starrte den ganzen Tag nur auf den Computerbildschirm, um Lechners Spuren zu verfolgen. Wenn es mir zu langweilig wurde, knipste ich den Fernseher an. Im Programm erschienen nur die üblichen Propagandaserien, und alle zwei Stunden erschien eine kurze Story über mich in den Nachrichten. Ich wechselte dann schnell den Kanal, da ich mein eigenes Gesicht auf dem Bildschirm nicht ertragen konnte. Ich tröstete mich damit, daß die intelligenteren Zuschauer die Lügenmärchen der kommerziellen Sender durchschauen mussten und sicher der eine oder andere Bekannte von früher noch auf meiner Seite stand. Manchmal musste ich auch an Schwester Bianca denken, und ich fragte mich, ob es ihr wohl gelungen sein mochte, eines meiner Bilder zu ersteigern. Insgeheim beneidete ich Lechner um seine Liebschaft, und ich spekulierte darauf, ihm die Frau auszuspannen. Mir war klar, dass er sich bei seiner Flucht grausam verkalkuliert hatte. Die Strahlung an der Erdoberfläche war absolut tödlich, und wenngleich man einige Wochen draußen überleben konnte, folgte nach ein bis zwei Monaten unweigerlich die Krebserkrankung. Am vierten Tag meiner Verfolgungsfahrt sichtete ich Lechner in der Gegend von Karlsruhe. Er schien gut in Form zu sein, denn jeden Tag legte er zwischen hundert und hundertfünfzig Kilometer zurück, und das bei widrigen Witterungsverhältnissen. Eis, Schnee und Hunger mussten ihm stark zusetzen, und dennoch gab er nicht auf. Langsam wunderte ich mich, wie er das durchhielt, und nach all der Zeit empfand ich fast schon ein wenig Sympathie für den Flüchtigen. Ich musste mich zwingen, diesen Gedanken zu unterdrücken. Wenn ich Lechner endlich schnappte und im Präsidium ablieferte, hatte ich noch eine Chance, meinen ehemals guten Ruf zu retten. Allein die Presse konnte mir noch einen Strich durch die Rechnung machen, denn wenn die Berichterstattung über meine Ermittlungen kein Ende nahm, musste ich für immer davon Abstand nehmen, im Streifendienst zu arbeiten. So vergingen die Tage, und da Lechner die Grenze noch immer nicht erreicht hatte und ich mir irgendwie die Zeit vertreiben musste, loggte ich mich zwischenzeitlich wieder ins Hypernet ein. Ich fand heraus, dass Lechners Computerprogramm – ein genial konzipierter Computervirus – inzwischen aktiviert worden war, wenngleich das Feministische Kampfkorps nichts davon ahnte. Sie hatten lediglich aus Neugier die CD-ROM erstanden und nichts ahnend auf die erstbeste Festplatte überspielt, ohne zu wissen, worum es sich handelte. Der Virus lauerte im Hypernet, und niemand konnte erahnen, wann das teuflische Programm aktiv würde. Es war Timo Lechners Lebenswerk. Ich konnte es gut verstehen, dass er seine ganze Energie auf das zerstörerische Programm gerichtet hatte, nachdem man ihm die Karriere systematisch verbaut hatte. Vielleicht war es das, was ihn auf seiner Flucht antrieb: Er wusste genau, dass irgendwo im Netz eine digitale Zeitbombe schlummerte, deren Wirkungsweise er allein erahnen konnte. Am Stichtag, wenn das Programm aktiv würde, wäre er der Einzige, der das Programm beenden könnte. Womöglich hatten die Programmierer den schädlichen Computervirus noch nicht einmal entdeckt. Dann kam der Tag, an dem Timo Lechner sich der Grenze näherte, und ich traf die letzten vorbereitenden Maßnahmen zur Verhaftung. Ich meldete den Sachverhalt an das Präsidium daheim, und Ehlert versprach mir, den Bundesgrenzschutz zu informieren, damit sie mir nicht dazwischenpfuschten. Ich packte meine Siebensachen ins Auto, meldete mich im Motel ab und nahm den nächstgelegenen Lastenaufzug zur Erdoberfläche. Die Straßen waren frei, und ich kam zügig voran. Nach meinen Berechnungen musste Lechner früher oder später auf der Bundesstraße aufkreuzen, denn es war der einzige Weg, der nicht vermint war, und ich konnte mir schwerlich vorstellen, dass er sich querfeldein durch die Stoppelfelder schlagen würde. Aber das Glück war nicht auf meiner Seite. Noch bevor ich einen geeigneten Beobachtungsposten beziehen konnte, ereignete sich ein folgenschweres Malheur. Irgendwer musste an meinem Auto herumgespielt haben, denn es war zu wenig Luft in den Reifen. Ich bemerkte das leider erst, als ich eine scharfe Kurve nahm und das Fahrzeug ins Schleudern kam. Der Wagen schlitterte über den Randstreifen, wälzte zwei Baken nieder und kippte dann auf die Seite, um leise tuckernd liegen zu bleiben. Ich schaltete den Motor aus und krabbelte durch die Hecktür auf die Straße. Das Auto war reif für die Halde. Die Karosserie war verbeult, ein Spiegel abgerissen, die Windschutzscheibe hatte einen tiefen Sprung. Ich war völlig durcheinander, und in der Verwirrung meldete ich den Unfall auf dem nächstgelegenen Revier. Es dauerte nur zehn Minuten, dann kam der Abschleppwagen. Zwei Streifenbeamte stießen hinzu. Sie lachten, als sie mich sahen, und teilten mir mit, es seien schon Wetten abgeschlossen, welche Dummheit ich als Nächstes anstellen würde. Womöglich war es jemand aus ihren eigenen Reihen, der die Luft aus den Reifen gelassen hatte. Der Pannenhelfer lud das schrottreife Auto auf den Laster, und die beiden Polizisten eskortierten mich auf die Wache. Ich musste den Unfall zu Protokoll geben, und die Formalitäten zogen sich endlos in die Länge. Schließlich kam ich noch ins Krankenhaus, wurde geröntgt und mit einer Halskrause versehen. Ein übliches Schleudertrauma, versicherte man mir; ich solle mir keine Sorgen machen, und das Auto sei zwar gehörig verbeult, aber noch fahrbereit. Man werde ein Auge zudrücken. Ich wurde zurückgebracht in das Motel und bekam eine Zwangspause verordnet. Mir war nicht ganz klar, ob das Sabotage war oder zu meinem Schutz diente. Denn in der Zwischenzeit hatte sich Lechner längst aus dem Staube gemacht und war über die Grenze in den Sektor F entwichen. Ich blieb drei weitere Tage in dem Motel, aber die Langeweile quälte mich schließlich so sehr, dass ich alle Warnungen in den Wind schlug und meine Fahrt fortsetzte. Ich hatte keine Ahnung von dem, was mich an der Grenze erwartete. Zwölf Grenzer umringten mein Auto, zerrten mich vom Steuer weg und nahmen mich ins Kreuzverhör. Ich verstand nur wenig, verwies auf meinen internationalen Passierschein und beteuerte, dass ich zwar Polizist sei, aber lediglich eine Stelle bei der Verkehrspolizei innehabe und dass der Grund meiner Reise ganz normaler Tourismus sei. Die Grenzer brachen in schallendes Gelächter aus. „Tourismus“, höhnte einer, der offensichtlich der Chef der Bande war, „wir werden dir jetzt zeigen, was man bei uns mit Touristen macht.“ Sie zogen Toto, der wütend kläffte, an seinem Halsband aus dem Auto, und dann ging alles sehr schnell. Der Grenzer entsicherte seine Pistole, schob die Waffe Toto ins Maul und drückte ab. Das Blut spritzte auf den Boden; Toto jaulte ein letztes Mal auf, dann war er tot. Ich konnte es nicht fassen. Ohnmächtig vor Wut griff ich nach meiner Dienstwaffe, aber ich hatte keine Chance. Gemeinsam fielen die Grenzschutzbeamten über mich her, und ich konnte von Glück reden, dass mir nicht das Gleiche widerfuhr wie meinem geliebten Hund. Sie legten mir Handschellen an, und dann holte der Chef zu einem rechten Haken aus, der mich in das Reich der Träume beförderte. Ich kam erst wieder zu mir, als sie mich auf der Wache ins Kreuzverhör nahmen. Es schien mir am Vernünftigsten, mit der Wahrheit nicht länger hinter dem Berg zu halten, und ich gab zu, einen flüchtigen Verbrecher zu verfolgen. Ich sah dem Grenzer an, dass er wohl im Bilde war über Timo Lechners Irrfahrt durch Europa, aber er ließ kein Wort darüber fallen. Stattdessen kassierte er alle meine Papiere ein und kommentierte dieses Vorgehen mit den Worten: „Mein Glückstag, ich wollte schon immer einen deutschen Pass besitzen.“ Sie warfen mich in ein dunkles Loch, und ich konnte froh sein, dass sie mir noch eine Schachtel Zigaretten übrig ließen und mich regelmäßig mit Nahrung versorgten. Ich begriff nicht, wie Timo Lechner der Verhaftung entgangen war, aber mir kam der vage Verdacht auf, dass sie ihre Pläne mit ihm hatten und mich zunächst daran hindern wollten, meinen Auftrag zu erfüllen. Ich saß vierzehn Tage ein, dann führten sie mich zu meinem Auto und empfahlen mir, mich nie wieder blicken zu lassen. Ich weigerte mich zu fahren, da die Beamten den Passierschein und meine Papiere einbehalten hatten. Die Grenzer lachten und sagten, den Passierschein könnte ich mir sonst wohin stecken. Aber ich blieb hartnäckig und erreichte, dass mir mein Reisepass wieder ausgehändigt wurde. Jeder hätte an meiner Stelle aufgegeben, doch mich ritt der Teufel und ich setzte die Fahrt fort. Ich kam nur langsam voran, da der Überlandtunnel stark befahren war und alle zwanzig Kilometer eine Kontrolle stattfand. Ich gab es rasch auf, mit den Streifenbeamten zu diskutieren; die übliche Vorgehensweise bestand darin, dass ich meinen Pass vorwies, den Kommentar „oui, der Depp“ entgegennahm und anschließend eine Tracht Prügel kassierte, die sich gewaschen hatte. Es musste ihnen Spaß machen, mit mir zu spielen, denn sie ließen mir das Auto und erlaubten mir anschließend, weiter zu fahren. Wahrscheinlich war es für jeden eine Gelegenheit, sich einmal abzureagieren, und da das Auto ohnehin schrottreif war, reizte es niemanden, das Fahrzeug zu konfiszieren. Ich weiß nicht, wie oft ich ins Verhör kam, beteuerte, dass ich keine Drogen mitführte und meine Dienstwaffe längst beschlagnahmt worden war. Sie hetzten mich durch das halbe Land, und allein meiner langjährigen Diensterfahrung war es zu verdanken, dass ich die Nerven behielt und nicht zur Erdoberfläche flüchtete. Ich hatte mich in den Fall verbissen, und ich dachte nicht daran, mich unnötig der Strahlung auszusetzen. Prügel konnte ich ertragen, aber gegen den Krebs durch radioaktiven Fallout war kein Kraut gewachsen. Tage später erreichte ich Marseille, und ich beschloss, meine Taktik zu ändern und Kontakte zur kriminellen Szene zu knüpfen. Ich vermutete, dass Lechner nach Spanien ausgewichen war und zum Rifgebirge unterwegs war. Alles deutete darauf hin, dass es sich um einen größeren Drogentransfer handelte. Ich verzichtete dankend darauf, auch noch die Kollegen von der spanischen Polizei kennen zu lernen und entschied mich dazu, einige Tage in Marseille zu verbringen. Die Stadt war ebenso stark untertunnelt wie die Megalopolis, aber im Unterschied zur Heimat gab es hier einen großen Hafen, der ein Umschlagplatz für zwielichtige Geschäfte aller Art war. Ich erkundigte mich bei den Taxifahrern nach einer Unterkunft und wurde an ein schmutziges Etablissement verwiesen. Mir war es gleich, solange ich mich auf einer Matratze ausstrecken konnte und in Sicherheit war vor weiteren Tiefschlägen durch die ortsansässige Polizei. Nebenan wohnte ein Callgirl, und ich hörte sie jede Nacht stöhnen, während die Freier vor der Tür Schlange standen. Anscheinend wurde Sexualität in diesem Land anders gehandhabt als daheim. Ich zog vorsichtige Erkundigungen ein, wie eine Überfahrt nach Nordafrika am besten zu bewerkstelligen sei. Es verkehrte eine reguläre Fähre nach Tanger, aber der Preis war horrend. Zu meinem Unglück knackten mir einige Halbwüchsige auch noch das Auto und stahlen den Rest von meiner Ausrüstung. Jetzt hatte ich nur noch meine Papiere und die Scheckkarte, die meine letzte Rettung war. Ich plünderte die Bankautomaten und ging dann einkaufen im Araberviertel. Viel brauchte ich nicht, aber auf eine Hose zum Wechseln legte ich schon Wert, schließlich wollte ich nicht wie ein Gammler wirken. Die Araber von Marseille waren über meine Pläne schon informiert, denn eines Tages pfiff mich ein hagerer Marokkaner in eine dunkle Hausecke und bot mir falsche Papiere zum Kauf an. Es war ein französischer Pass, der auf den Namen Jean-Pierre Maurel lautete und mit einem Foto von mir vervollständigt werden sollte. Ich zögerte zunächst, doch er überzeugte mich davon, dass ich mit einem deutschen Pass in Marokko verloren sei und machte mir das Angebot schmackhaft, indem er eine uralte Luger zu dem Handel beisteuerte. Als ich die Waffe sah, stieg ich ein. Er händigte mir die Pistole aus, und ich verschraubte sie hinter dem Armaturenbrett meines Wagens. Den Pass sollte ich in zwei Tagen ausgehändigt bekommen. Ein Batzen Scheine wechselte den Besitzer, und um das Geschäft hieb- und stichfest zu machen, lud mich der Marokkaner noch zu einem traditionellen Thé à la Menthe ein. Ich vermute, dass er irgendeine mir unbekannte Droge in den Tee mischte, denn die nächsten zwei Tage wurde ich von lebhaften Halluzinationen heimgesucht, die meine Weiterfahrt stark in Frage stellten. Dazu kam, dass die Nutte, bei der ich mich einquartiert hatte, offenbar genug von meinem absonderlichen Verhalten hatte und kurzerhand die Polizei herbeizitierte, die mich mitten in der Nacht auf die Straße setzte, nicht ohne mich zuvor noch um tausend Euros zu erleichtern. Zitternd vor Kälte verbrachte ich eine letzte Nacht in meinem Wagen, den ich am Alten Hafen geparkt hatte. Ein Haufen Penner strolchte bis zum frühen Morgen um mein Auto herum, aber niemand wagte es, mir noch den Rest meiner Ersparnisse abzunehmen. So war ich froh, als der Marokkaner mir am nächsten Tag die Papiere aushändigte und mir ein Fährticket verschacherte, das in zwei Tagen gültig wurde. Ich versuchte weitere Informationen aus ihm herauszupressen, aber er wich meinen Fragen aus. Einsilbig erklärte er, es gebe viele Dinge, die ich unbedingt wissen müsse, aber er sehe sich nicht in der Lage, sie mir mitzuteilen, da er um seine eigene Existenz bange. Er beabsichtige im Sektor F zu bleiben und seine Lehre abzuschließen, und wenn er seine Gastgeber verrate, bliebe für ihn nur die Rückkehr nach Marokko offen. Das bedeute aber mindestens zwei Jahre Knast. Ich ließ fünfe gerade sein und monierte nicht einmal den primitiv gefälschten Pass, der sicher keinen Polizeibeamten überzeugen würde. Gemeinsam tauschten wir bei Nacht und Nebel die Nummernschilder an meinem Auto aus, und als ich mich schließlich einschiffte, wechselte noch ein Bestechungsgeld den Besitzer, damit die Zöllner ein Auge zudrückten. Schon hier im Sektor F waren die Kontrollen streng: Überall Polizei und Grenzschutz, Drogenhunde und übereifrige Zöllner, die jedes Auto genau unter die Lupe nahmen. Lediglich meinem marokkanischen Freund verdankte ich, dass sie die Luger unter dem Armaturenbrett nicht entdeckten. Schließlich fuhr das Schiff seine Laderampe ein, und bei starkem Wellengang und heftigem Schlingern begann die Fahrt über das Mittelmeer. An Bord waren hauptsächlich marokkanische Händler, die mit Sack und Pack in die Heimat zurückkehrten. Sie hatten sich reichlich eingedeckt mit Konsumgütern aller Art, vom Holofernseher bis zum Hochleistungsrechner. Wahrscheinlich würden sie zwei Wochen später die Fahrt in umgekehrter Richtung antreten, diesmal üppig bepackt mit Teppichen, Lederwaren und Schmiedeerzeugnissen. Anscheinend ließ sich von Tausch- und Schmuggelgeschäften gut und gerne eine Existenz bestreiten, und wenn ein deutscher Polizist auftauchte, der seine Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen, so kam den Arabern das höchst gelegen. Zu meinem Glück ahnte ich nichts von den düsteren Plänen, in die ich verstrickt war, und genoss eine ungestörte Überfahrt, wenngleich der Wellengang mir leicht auf den Magen schlug. Ich hatte mir ein dunkles Eckchen hinter dem Treppenaufgang zum Achterdeck ausgesucht, und niemand störte meine Ruhe, als ich den Schlafsack ausrollte und in unruhige Träume versank. Das Schiff brauchte zwei volle Tage, bis es in Tanger eintraf, aber ich war so erschöpft von den Torturen meiner Verfolgungsjagd, dass ich von meiner Umgebung nichts wahrnahm, in lähmende Müdigkeit versank, bis mich ein marokkanischer Händler auf unsanfte Weise aus dem Schlummer riss. Er meinte es gut mit mir und gab mir zu verstehen, ich solle kein deutsches Wort verlauten lassen, wenn mich die marokkanische Polizei kontrolliere, denn sonst führe der Weg unweigerlich in ein abgelegenes Strafgefangenenlager im Süden Marokkos. Er überreichte mir die Visitenkarte eines Teppichhändlers in Meknes und erklärte, wenn ich irgendwelche Probleme hätte oder alleine nicht mehr weiterkäme, solle ich mich ruhig an den Händler wenden, es sei ein Cousin von ihm, der ausgezeichnete Verbindungen hätte. Ich bedankte mich ausgiebig und hastete dann in den Laderaum, gerade noch rechtzeitig, um das Auto vom Schiff zu fahren. Nach den strengen Kontrollen im Sektor F wunderte ich mich über die Nachlässigkeit der marokkanischen Zöllner. Niemand beachtete mich, als ich mit dem Auto durch das verkommene Hafenviertel fuhr und schließlich vor einem Hotel am Busbahnhof parkte. Doch kaum war ich ausgestiegen, umringte mich eine Horde Kinder, die einen Dirham verlangten und aufdringlich verkündeten, es gebe zwei Blocks weiter ein viel schöneres, komfortableres Hotel. Und wenn ich schon einmal dorthin müsse, könne ich gleich noch ein paar günstige Teppiche erstehen und an einer Stadtrundführung teilnehmen, die selbstverständlich gratis sei. „Nur für die Freundschaft, Monsieur, und um die Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern.“ Ich weigerte mich, auf das Angebot einzugehen, aber die Horde folgte mir bis in das Hotel, in dem ich zu nächtigen gedachte. Schließlich scheuchte der Pförtner sie alle mit einer wütenden Geste aus der Rezeption. Dann wandte er sich an mich. „Soyez bienvenu, Monsieur, was kann ich für Sie tun?“ Er war begeistert, als ich um ein Zimmer für die Nacht bat, und hörte nicht auf, mir die Schönheit seines Landes anzupreisen. „Bei uns ist das Leben noch lebenswert: Wir müssen uns nicht wie Kakerlaken in den Kellern verstecken. Hier gibt es keine Atombombe und keine Terroristen, und wenn Sie ein paar unvergessliche Wochen erleben wollen, dann bleiben Sie hier in Tanger.“ Ich dankte ihm für die freundliche Einladung, erkundigte mich dann aber vorsichtig, wie denn die Dinge stünden, wenn ich eher wegen des Marihuanas nach Marokko gekommen sei. Der Pförtner setzte eine undurchdringliche Miene auf und erklärte dann, in diesem Fall solle ich ins Rifgebirge weiterreisen. Seine Redseligkeit ließ spürbar nach, aber er führte mich noch in den ersten Stock des Hotels und zeigte mir mein Zimmer, das billig und sauber war. Ich zahlte im Voraus für drei Nächte und ließ mich dann auf das Bett plumpsen, um ein kleines Mittagsschläfchen zu halten. Endlich hatte ich einen Ort gefunden, an dem es sich eine Weile aushalten ließ. Niemand stellte mir unbequeme Fragen, keiner schlug mich oder nahm mir meine Ausrüstung weg, und das flirrende Licht des Südens lud förmlich dazu ein, auf Leinwand festgehalten zu werden. Fast hätte ich den Grund meiner Reise vergessen und wäre ganz einfach in Afrika geblieben. Geld hatte ich genug, und es wäre die einzige Möglichkeit gewesen, mein Leben weiterhin der Malerei zu widmen. Aber wiewohl mich daheim nur Repression und Schikane erwarteten, gab es in meiner Seele einen dunklen Punkt, der mit dem Tod meines geliebten Hundes zu tun hatte, mit meiner bisherigen Arbeit als Polizist und mit der Überzeugung, dem Staat bis zum bitteren Ende zu dienen. Und dieses Pflichtbewusstsein der Gesellschaft gegenüber trieb mich weiter in die Berge Marokkos, ließ mich nicht ruhen und nicht rasten, bis mir ein Gerücht zu Ohren kam, in einem Dorf der Umgebung sei ein Deutscher gesichtet worden, der den ganzen langen Weg von der Heimat bis in das Rifgebirge mit dem Fahrrad zurückgelegt habe und – wenngleich er anscheinend wirklich krank sei – allen Ernstes nach Deutschland zurückkehren wolle, um eine gewaltige Ladung Marihuana unter das Volk zu bringen. Sofort stellte ich weitere Nachforschungen an und machte mich auf die Suche nach dem verrückten Touristen, der niemand anders als Timo Lechner sein mochte. Ich konnte nicht ahnen, dass man mir eine Falle gestellt hatte und ich nichts ahnend auf den verlockenden Köder angebissen hatte. NEUNTES KAPITEL Minuten verstrichen, und ich stand fassungslos am Kai, nahm nicht wahr, wie die Marokkaner mich umringten und wild gestikulierend auf mich einredeten. Jetzt hat das Spiel ein Ende, war der erste Gedanke, der mir schließlich durch den Kopf schoss. Ich hustete mir die Seele aus dem Leib, und niemand war da, der mir hätte Trost spenden können. Die zufällig anwesenden Marokkaner wussten natürlich gleich, was mit mir los war, raunzten: „Le type est malade.“ Das hinderte sie nicht daran, mir ihre Dienste zu unterbreiten. Ich hatte einen Schwächeanfall, warf das Fahrrad an den Straßenrand und kauerte mich dann mit dem Rücken gegen eine Hausmauer, um verzweifelt nach Luft zu schnappen. Jetzt rächte sich der unbesonnene Fluchtversuch durch radioaktiv verseuchte Landstriche, der naive Glaube, alles sei in bester Ordnung, nur weil die Strahlung nicht greifbar war und ihre Verderben bringende Wirkung erst viele Wochen später entfaltete. Hätte ich nur einen Funken Verstand besessen, dann hätte mir klar sein müssen, warum die Überlebenden des Holocausts wie Wühlmäuse unter der Erde lebten und alles mieden, was mit dem Leben auf der Erdoberfläche auch nur entfernt zusammenhing. Schließlich hatte man mir schon in der Schule eingebläut, nur in den Bunkern und Tunneln der Megalopolis sei ein mühseliges Überleben möglich. In meiner Einfalt hatte ich schließlich alle Meldungen als verlogene Propaganda eingestuft, denn niemand hinderte mich daran, meinen Weg frei zu wählen, und wenn man von den widrigen Witterungsverhältnissen absah, gab es nichts, das mich aufzuhalten schien. Jetzt kam die Quittung für das Aufbegehren gegen die staatliche Ordnung und das Leben in der Gemeinschaft. Ich war kein Arzt, aber das Blut, das aus meinen Bronchien kam, sprach eine deutliche Sprache. Was als dummer Streich begonnen hatte, wurde nun tödlicher Ernst. Auch die drei Marokkaner, die mir Luft zufächelten, waren sich schnell einig. Ich verstand nicht viel von dem, was sie sich zuflüsterten, aber ein Wort war dabei, das ich selbst mit meinen schlechten Sprachkenntnissen verstand: Krebs. Nachdem ich zehn Minuten lang Blut gehustet hatte und für einen Augenblick wieder Luft bekam, fasste ich einen Entschluss und wedelte mit einem Batzen Euros. Dann murmelte ich den Namen meines Kontaktmannes und fügte hinzu: „Taxi, bitte ein Taxi.“ Die Marokkaner beratschlagten eine Weile, dann hastete einer von ihnen in die nahe gelegene Stadt und kam mit einem ausgebeulten Kombi wieder zurück. Sie luden mein Fahrrad in den Kofferraum, schubsten mich auf den Beifahrersitz und kassierten in Windeseile noch dreihundert Euros ein. Dann begann die Fahrt. Viel nahm ich nicht von meiner Umgebung wahr und wusste auch nicht, wohin der Weg führte. Durch das geöffnete Fenster wehte ein staubiger Wind, der meiner Atemnot weiter zusetzte. Die Straße war holprig und voller Schlaglöcher. Am Straßenrand wuchsen Olivenbäume und Kiefern; die Erde war rot wie Mennige, und das Zusammenspiel der Farben fand in dem tiefblauen Himmel seine Entsprechung. So elend hatte ich mich in meinem ganzen Leben noch nie gefühlt. Der Fahrer musste laufend anhalten, damit ich meinen Kopf aus dem Fenster hängen konnte, um mich zu übergeben. Ich weiß nicht, wie viel er von dem verstand, was ich ihm mitzuteilen suchte, aber schließlich gebot er meinen Erklärungen Einhalt und murmelte entnervt: „Ja, ja, ein Doktor. Bald.“ Die Straße schlängelte sich in Serpentinen die Berge hoch, und ich entnahm den deutschen Wortbrocken meines Begleiters, dass es nicht mehr weit sei. Dummerweise kam mitten auf dem Pass ein Schneesturm auf, und das Auto schlidderte auf dem glatten Eis beinahe in den Straßengraben. Eine Gruppe marokkanischer Straßenarbeiter schob den verbeulten Kombi an, und mit viel Mühe und geballter Muskelkraft überwanden wir die starke Steigung. Fünf Kilometer weiter löste sich das Schneetreiben in Luft auf, die Temperaturen stiegen spürbar, und niemand hätte vermutet, dass der Pass kaum passierbar war. Wir rasten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit talwärts; der Fahrer schnitt die Kurven und überholte langsam fahrende Lkws in so riskanten Manövern, dass einem schon allein von dem ungewöhnlichen Fahrstil schlecht werden konnte. Ich summte ein altes Kinderlied vor mir her, um meinen Magen zu beruhigen, und schließlich erlöste die Müdigkeit mich von meinen Schmerzen. Ich wachte auf, als es dämmerte; wir waren in einem kleinen Dorf angelangt, und der Fahrer war ausgestiegen, um mit einigen Leuten auf der Straße lebhaft zu diskutieren. Der Pulk bewegte sich auf das Auto zu. Erst verspürte ich eine lähmende Beklemmung, doch dann begriff ich, dass die Menschen mir nichts Böses wollten und wir am Ende unserer Reise angelangt waren. Ein gedrungener Marokkaner mit schwarzem Kraushaar und Stoppelbart zog die Beifahrertür auf, half mir auf die Straße und schüttelte mir freundlich die Hand. „Willkommen in Chefchaouen. Ich bin Achmed Chaddam, und ich glaube, du bist eines handfesten Geschäftes wegen nach Marokko gekommen.“ Staunend begriff ich, dass ich meinen Kontaktmann gefunden hatte und am Ende meiner Reise angelangt war. Da ich noch immer an Atemnot litt, hielt ich meine Erklärungen so kurz wie möglich, verlangte dringlich nach einem Hotelzimmer und bat darum, einen Arzt konsultieren zu können. Achmed lachte kurz auf und sagte, den Wunsch nach einem Hotelzimmer könne er erfüllen, aber ich sei in Marokko, wo in diesen schweren Zeiten die Mediziner so rar seien wie das Licht in finsterer Nacht. Um meiner Forderung Nachdruck zu verleihen, öffnete ich mein Gepäck und ließ ihn einen Blick auf die druckfrischen Geldbündel werfen, die ich den ganzen mühsamen Weg bis nach Marokko gerettet hatte. Seine Augen weiteten sich, aber dann nahm sein Gesicht einen Ausdruck von unbändigem Ärger an, und er spuckte voller Wut in den Dreck. „Wenn du gekommen bist, um mich lächerlich zu machen, kannst du deine Euros behalten und Leine ziehen! Hier geht es nicht zu wie im Fastfood-Laden, sondern wir wollen ein ordentliches Geschäft abschließen. Entweder du entschuldigst dich augenblicklich, oder ich sage meinen Männern Bescheid, und dann kannst du da bleiben, wo der Pfeffer wächst!“ Mühselig versuchte ich ihn zu beschwichtigen, doch dann durchschüttelte mich ein weiterer Hustenanfall, und ich brachte keinen Ton mehr heraus. Achmed beruhigte sich wieder und führte mich in ein schäbiges Hotel, wo ich ein abgenutztes Zimmer bezog und mein Gepäck in Sicherheit war. Ich ließ Achmed nicht gehen, bis er das Geld entgegengenommen hatte. Er sträubte sich zwar bis zuletzt, aber ich sah ihm an, dass er die Summe nötig hatte und es ihm lediglich seine Höflichkeit verbot, so schnell zum Geschäft zu kommen. Für mich war das Geld nutzlos: Mir ging es nur um meine Sicherheit und darum, dass sich mein Gesundheitszustand wieder stabilisierte. Was nützten mir all die bunten Scheinchen, wenn meine Gastgeber sich dazu entschieden, mich hinterrücks auszurauben und mich mit meinem bösen Husten und dem Fieber im nächsten Straßengraben abzuladen? Ich verstand nicht viel von marokkanischer Verhandlungstaktik, aber ich spürte, dass meine Zeit knapp bemessen war und mir nichts anderes übrig blieb, als das Marihuana so bald wie möglich in Empfang zu nehmen und das Geschäft bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Achmed ließ mir die Gelegenheit, mich etwas auszuruhen, und kehrte erst am folgenden Tag in Begleitung eines hünenhaften Schweizers wieder. Er erklärte mir, er habe einen Dolmetscher mitgebracht, der sich in den nächsten Tagen um mein persönliches Wohl kümmern würde und mir in allen Fragen zur Seite stehen sollte. Der Schweizer schaute mich neugierig an, sagte aber keinen Ton und zerdrückte dann mit dem Daumen eine fette Küchenschabe, die über den Tisch krabbelte. Achmed gab ihm einen Stoß in die Rippen, woraufhin der Hüne lachte und sich dann im ulkigsten Schwyzerdütsch vorstellte. Sein Name sei Reto, und damit ich gleich Bescheid wüsste: Er sei aus dem Knast nach Marokko abgehauen, um hier seine Tage in Freiheit zu verbringen. Das Leben sei rau, und hier in Nordafrika bliebe ihm nur die Möglichkeit, sich mit Drogengeschäften ein wenig Geld zu verdienen. Es freue ihn sehr, dass ich das Geld für die Lieferung planmäßig überbracht habe, und er wolle mir die Gelegenheit geben, mich einige Tage auszuruhen, bevor ich meine Heimreise antreten könne. Ich bekam einen Hustenanfall und schnappte nach Luft. Mühsam stammelte ich ein paar unverständliche Worte. Dann riss ich mich zusammen und sprach in verständlichen Sätzen. Ob ich nicht in Marokko bleiben könne, fragte ich ihn. Schließlich hätte ich meinen Auftrag erledigt, und er sehe ja selbst, dass ich gesundheitlich am Ende sei. Reto sah mich mitleidig an und schüttelte den Kopf. „Du weißt nichts über Marokko, wirklich nichts. Hier kannst du nicht bleiben. Wir werden dir die Möglichkeit geben, ein paar schöne Tage in den Dünen zu verbringen, aber dann musst du die Heimkehr antreten. Sicher wäre es zu riskant, dir den Stoff auszuhändigen und dich gehen zu lassen. Wir müssen eine andere Transportmöglichkeit finden. Aber glaub mir, im Sektor D bist du besser aufgehoben. Daheim findest du leichter ärztliche Betreuung. Ich glaube nicht, dass du in diesem fremden Land acht Wochen überleben würdest.“ Die Erinnerung an mein vergangenes Leben zog an mir vorbei. Ich dachte an Schwester Bianca und musste fast weinen. Dann riss ich mich zusammen und räusperte mich. Ich sah Reto fest in die Augen und gab ihm die Hand. „In Ordnung, gehen wir.“ Wir packten meine wenigen Gepäckstücke ins Auto und verließen den Ort. Die Fahrt ging durch ein ausgetrocknetes Flußbett nach Süden. Die Asphaltstraße war plötzlich zu Ende, und wir fuhren auf einer staubigen Piste weiter. Reto orientierte sich an den Telefonmasten, um in dem breiten Bündel der Spuren nicht vom Weg abzukommen. So weit das Auge blickte, erstreckte sich ein riesiges Geröllfeld bis zum Horizont. Der Wagen rüttelte und holperte auf der Piste vorwärts, und die Reifen wirbelten viel Staub auf. Ich wunderte mich, dass der Wagen das mitmachte, denn es war ein ganz normaler Pkw. Aber wir legten die Strecke ohne nennenswerte Pannen zurück, und nach einer Stunde Fahrt sah ich, wie sich in der Ferne monumentale Sanddünen auftürmten. Reto lachte und deutete zum Horizont. „Gleich haben wir unser Ziel erreicht. Was du siehst, ist der Erg Chebbi, und am Fuße der Dünen liegt die Herberge, in der man uns erwartet.“ Der Zauber der Landschaft ließ mich alle Ängste und Schmerzen vergessen, und mein Herz pochte vor Freude. Ich spürte gleich, dass ich mich an diesem Ort wohl fühlen würde und dachte, vielleicht sei dies die Belohnung für all die Anstrengung, für den Hunger, die Kälte und die Angst. Reto verließ die Piste und steuerte das Fahrzeug nach Westen. Von weitem sah ich ein weiß gekalktes Gebäude, das sich flach in den Sand duckte und von einigen Tamarisken und Dattelpalmen umsäumt war. Im Hof lag eine moosüberwucherte Zisterne; vor der Herberge befand sich eine schattige Veranda, auf der ein paar einfache Holzbänke zum Verweilen einluden. Wir betraten das Haus, und mir stockte der Atem, denn in der kleinen Rezeption, über der sich der blassgrüne Schriftzug „Hôtel du long Crépuscule“ hinzog, wartete eine eigenwillige Schönheit auf uns. Ihr blondes Haar fiel ihr locker in die Stirn bis zur Schulter, und sie lächelte mich schüchtern an, als Reto mein Gepäck in dem Aufenthaltsraum absetzte und nachlässig zu der Frau herüberwinkte. Mir fehlten die Worte, aber sie blickte mich freundlich an und nestelte einladend an dem Reißverschluß ihres Rollkragenpullis. Sie ist ein Edelstein, fuhr es mir durch den Kopf, aber ist ihr Glanz nicht trügerisch? Reto unterbrach meine Gedanken und stellte mich der Frau vor. Ich erfuhr, dass sie eine Dänin sei und gelegentlich in der Herberge aushelfe, wenngleich die Hauptarbeit bei Serge liege, der den Laden leite. Reto wurde ungeduldig und zeigte mir den Schlafsaal, um dann in der urgemütlichen Küche zu verschwinden. Er werde uns etwas Schmackhaftes zubereiten, erfuhr ich; in der Zwischenzeit solle ich mich ruhig etwas umsehen und die Abgeschiedenheit des Ortes genießen. Ich ging nach draußen, und meine Schritte lenkten mich automatisch zu den Dünen hin. Leise floss der Sand in unendlich vielen Formen in die Ebene, türmte sich zu Sicheln auf, bildete Kessel und sanfte Kämme und knirschte unter den Füßen, wenn man den Aufstieg wagte, um von dem Gipfel der Düne auf eine nächste, höhere Sandformation zu blicken, die zur Eroberung einlud. Ich ließ alle Hemmungen fallen und tollte wie ein Kind durch den unendlich großen Sandkasten. Übermütig ließ ich mich vom Gipfel der Dünen bis in die Täler herunterkullern, wühlte mit den Händen im Sand und ließ ihn mir über den Kopf rinnen, um mich dann reglos auf den Boden zu legen und die Stille zu genießen. Kein Lärm, kein Laut störte die Abgeschiedenheit. Selbst der Wind war eingeschlafen und trieb nur dann und wann ein paar Sandkörner vom Kamm der Düne bis in nächste Tal. Mir war, als ob ich durch ein Nirwana ginge. Stundenlang marschierte ich durch die Einsamkeit und kehrte erst wieder zu der Herberge zurück, als es dämmerte. Reto hatte Lammkoteletts zubereitet, und ich langte zu, als sei ich kurz vor dem Verhungern. Wir entkorkten eine Flasche Wein nach der anderen, und bald waren alle Gäste der Herberge sternhagelvoll. Ich erinnere mich nicht genau, wie der Abend sich weiterhin gestaltete, undeutlich entsinne ich mich noch, wie ich den Weg ins Bett fand und die schöne Dänin sich meiner annahm, bis sie sich im Morgengrauen davonstahl, um für die Dauer der nächsten Tage auf mysteriöse Weise von der Bildfläche zu verschwinden. Der Zauber der Wüste war von kurzer Dauer, denn bald stellte sich wieder ein grausamer Husten ein, der mich dauerhaft ans Bett fesselte. Reto diagnostizierte mir kurzerhand eine Lungenentzündung und fuhr in die nahe gelegene Stadt, um in der Apotheke ein Hustenmittel einzukaufen. Der Hustensaft unterdrückte die Erkältung und verschaffte mir Linderung, aber ich sah den Dingen ins Auge und fühlte deutlich, dass meine Tage gezählt waren. Es war ein schwacher Trost, dass daheim in der Megalopolis eine Frau von mir schwanger war und bald ein Kind auf die Welt setzen würde, dem ich nichts mehr mit auf den Weg geben konnte. Hätte ich die Wahl gehabt, so wäre ich sang- und klanglos von der Welt verschwunden. Wenngleich ich nicht an Selbstmord dachte, schien es mir manchmal wie eine Erlösung nach all den Qualen, sich voller Erschöpfung im Grabe zu verschnaufen. Vielleicht waren die schönen Tage in den Dünen des Ergs eine letzte Belohnung für die langen Plagen eines mühevollen Lebens unter dem Joch des Regimes. In Marokko schienen die Uhren langsamer zu gehen. Ich war zu kurz in dem Land, um alle Zusammenhänge zu begreifen, aber Reto stand mir in Rat und Tat zur Seite. Stets war er bemüht, mir die Eigenheiten des traditionellen Lebens im Maghreb zu erklären, und als ich wieder etwas zu Kräften kam, begleitete er mich auf meinen langen Spaziergängen durch die Dünen. Er zeigte mir Orte, an denen ich Sandrosen finden konnte und farbige Steine in allen Formen und Größen. Wir erkundeten eine abgelegene Höhle mit prähistorischen Malereien und verbrachten die eine oder andere Nacht im Freien. Der Mond spendete genügend Helligkeit, um den Weg durch die Dünen zu finden, und das Siebengestirn leuchtete mit einer Klarheit am Himmel, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Es waren idyllische Tage, aber mein Blick war getrübt von der anstrengenden Reise, und ich erkannte nicht, dass das Leben in der abgeschiedenen Herberge hart und entbehrungsreich war. Und eines Nachts wurden wir alle grausam aus dem Schlaf gerissen durch das laute Schrillen einer Sirene. Ich begriff nicht, was draußen vor sich ging, aber Reto scheuchte mich kurz angebunden aus dem Schlafsaal, und alle Herbergsgäste hasteten über die Veranda und den Hof in einen nahe gelegenen Luftschutzbunker, dessen Existenz mir bis dahin verborgen geblieben war. Draußen war es stockfinster, aber in der Ferne konnte ich ein blinkendes Licht erkennen, das rasch näher kam, und über den Himmel schwebte ein seltsames Flugobjekt, das mich an die fliegende Zigarre erinnerte, die ich Wochen zuvor im Süden des Sektors F gesichtet hatte. Reto ließ mir keine Zeit, das Phänomen näher zu betrachten. Er schubste mich in den Bunker und verriegelte dann von innen die Tür. Dicht gedrängt standen wir in dem Schutzraum; ich hörte die Herbergsgäste aufgeregt atmen. Ich schien der Einzige zu sein, der über die Gefahr nicht aufgeklärt war. Reto musste eine Engelsgeduld aufbringen, um mir alles zu erklären. „Ich weiß nicht, mit welchen abenteuerlichen Propagandalügen sie dich daheim eingedeckt haben. Hier sehen wir die Dinge anders. Wer auch immer dieses Flugobjekt lenkt, es steckt keine menschliche Energie dahinter. Wir haben schon so ein Ufo abgeschossen, und ich möchte dich mit Einzelheiten verschonen. So wie ich es sehe, steckt außerirdische Intelligenz dahinter.“ Ich wagte einen zaghaften Protest. „Warum bleiben wir nicht einfach draußen und sehen nach, wer uns dort einen Besuch abstattet? Wir sind doch schließlich genügend Leute, um die Herberge vor Eindringlingen zu verteidigen.“ Reto lachte bitter. „Ich will dich nicht aufhalten. Wenn du neugierig bist, geh ruhig nach draußen. Dann hast du es auch hinter dir und musst dich nicht weiter mit deiner Pneumonie herumquälen.“ „Aber...“ „Nichts aber. Denk doch einmal nach. Was glaubst du, warum die Welt ahnungslos in den Dritten Weltkrieg getaumelt ist? Es begann mit dem Hypernet und der globalen Vernetzung. Eines Tages spielten plötzlich alle Computer verrückt, und die Atomraketen zischten über den Globus, als hätten sie sich plötzlich selbständig gemacht. Die Medien meldeten, es sei Krieg, und dann sperrten uns die Militärs in unterirdische Katakomben, in denen die Luft zum Atmen knapp bemessen war. Glaubst du vielleicht, ein Mensch kann so teuflische Energie aufbringen, die Erde rücksichtslos einzuplanieren? Ich sage dir, es steckt außerirdische Intelligenz dahinter. Sie wollen den Planeten kolonialisieren, und ich empfehle dir, dich nicht zu sehr in die Pläne dieser fremden Macht einzumischen. Oder möchtest du, dass man dir einen Chip in den Kopf pflanzt und deine Gedanken und Erinnerungen einfach umprogrammiert?“ Langsam begriff ich die Zusammenhänge. „Ich fürchte, genau das wird mir blühen, wenn ich in die Megalopolis zurückkehre.“ Er schwieg einen Moment, sagte dann: „Viel Spaß.“ Einen letzten Trumpf hatte ich auf der Hand. „Eines musst du noch wissen, bevor du mich abschreibst. Ich habe einen Computervirus programmiert, der zur Zeit noch im Verborgenen auf den Festplatten lauert. Aber eines Tages...“ Reto fiel mir ungehalten ins Wort. „Ehrlich gesagt, deine kleinen Softwarepiraterien interessieren mich nicht. Du siehst ja selbst, mit welchen Schwierigkeiten wir hier zurechtkommen müssen. Ich rate dir, in Kürze den Heimweg anzutreten. Du hast deinen Spaß gehabt, und wir haben uns zur Genüge dafür revanchiert, dass du dich als Kurier zur Verfügung gestellt hast. Wir werden die Lieferung auf anderem Wege in die Megalopolis bringen, und wenn ich ehrlich sein soll, hat Zappa sich schon telefonisch erkundigt, wann du nach Hause zurückkehrst. Er will noch seinen Spaß mit dir haben.“ Der Name traf mich wie ein elektrischer Schlag. Es war schon bitter, an einer Lungenentzündung zu leiden und keinen Arzt zur Verfügung zu haben. Es war entmutigend, den ganzen Weg wieder in umgekehrter Richtung aufzunehmen. Aber heimzukehren, nur um zum Spielball der Gesetzlosen und der Polizei gleichzeitig zu werden, das war mehr, als ich verkraften konnte. Der Zorn raubte mir die Fassung. Ich schrie Reto an: „Dann knall mich doch gleich ab, wenn es dir so gefällt!“ Er wurde rot und schrie zurück: „Allez, ich lade dich ein.“ Dann verschwand er in der Herberge, um seinen Revolver aus dem Versteck zu holen. Mir blieben nur fünf Minuten, um meine Siebensachen zusammenzuraffen und klammheimlich in der Dunkelheit der Dünen zu verschwinden. Ich hatte geglaubt, endlich in Sicherheit zu sein und Freunde gefunden zu haben, aber nun entpuppte sich die Herzlichkeit meiner Gastgeber als grausame Illusion. Ich war naiv gewesen, als ich geglaubt hatte, meine Tage in der Abgeschiedenheit der Wüste friedlich zu beenden und die Nächte mir mit den Liebkosungen der schönen Dänin versüßen zu können. Die Odyssee begann von neuem. Im Schutze der Dunkelheit legte ich den beschwerlichen Weg über die Piste bis zur nächsten Stadt zurück. Jetzt zeigte die Wüste ihr ungastliches Gesicht: Ein kalter Wind trocknete die Haut aus, und das Laufen über das spitze Geröll machte den Weg zur Qual. Ich wünschte, ich wäre noch im Besitz des Mountainbikes gewesen. Doch das Fahrrad war verloren, und ich wusste nicht, wie ich an ein Neues kommen sollte. Ich marschierte zwei Tage lang am Rande der Piste in Richtung Osten. Mehrfach fuhren Autos vorbei, und einmal brauste ein Wagen so unachtsam über die Piste, dass mir der Seitenspiegel gegen die Hand knallte und mich zur Seite schleuderte. Es blieb bei dem Schrecken, aber viel hätte nicht gefehlt, und ich wäre unter die Räder gekommen. Ich überdachte meine Lage und kam zu dem Ergebnis, dass meine Lage aussichtsloser war als je zuvor. Der Husten schüttelte mich mit grausamer Regelmäßigkeit durch; ich hatte kein Geld mehr und wusste nicht, wo ich bleiben sollte. Ich verstand kaum Französisch, und ohne den Schutz meiner Gastgeber hatte ich keine Chancen, ein Obdach und etwas Nahrung zu finden, von Medikamenten ganz zu schweigen. Mein einziger Schutz war die Abgeschiedenheit in der Wüste. Doch Hunger und Durst trieben mich zurück in die Arme der Zivilisation. Schließlich erreichte ich nach langer Wanderung glücklich die Straße. Ich entschied mich dazu, kein Auto anzuhalten, wenngleich einmal ein Wagen stoppte und der Fahrer mich entgeistert fragte, was ich in dieser Einöde zu Fuß zu suchen hätte. Ich gab keine Antwort und bat nur um etwas zu trinken, um dann meine Wanderung fortzusetzen. Mein Gesundheitszustand war verheerend. Stunden später erreichte ich ein Dorf und gab meine letzten Euros in einem schäbigen Restaurant für einen Teller mit Rührei aus. Ein Bettler kam vorbei und versuchte noch, mir den letzten Rest meines Essens vom Teller zu stehlen. Der Besitzer scheuchte ihn laut schimpfend aus dem Restaurant. Es war entmutigend zu sehen, wie das Geld allein den Weg zur Duldung in der Fremde ebnete. Ohne ein paar Euros in der Tasche war ich weniger wert als der abgerissenste marokkanische Gammler. War dies meine Bestimmung: Krank, einsam und mittellos in einem fremden Land vor die Hunde zu gehen? Ich sammelte die letzten Kräfte und schleppte mich durch das Dorf, um einen Platz zum Schlafen zu suchen. Hier gab es nicht die Möglichkeit, ein ruhiges Eckchen für die Nacht zu finden. Die Leute starrten mich unfreundlich an, murmelten: „va-t’en, chien“. Ich verirrte mich auf den örtlichen Friedhof und kletterte unbesonnen über den Zaun, der das Areal einsäumte. Gegenüber lag ein einladender Schuppen. Ich vergaß alle Vorsicht und zog die Scheunentür auf, aber drinnen drängte sich nur ein Dutzend Rinder um den Futtertrog, die in vernehmliches Muhen ausbrachen, als sie mich bemerkten. Der Besitzer kam über den Hof herbeigeeilt und schlug mich schimpfend in die Flucht. Ich schlug mich über die Straße zu den nahe gelegenen Feldern durch, um im Schutz des Gehölzes eine Pause einzulegen. Wieder hustete ich blutigen Schleim aus und war der Ohnmacht nahe. Ich kauerte mich auf den Boden und überlegte, was mir noch zu tun blieb. Die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn von der Straße, die zu den Feldern führte, näherte sich ein Polizeiwagen. Drei Leute stiegen aus und bewegten sich gemächlich auf mich zu. Ich traute meinen Augen nicht, als ich neben den beiden marokkanischen Polizisten meinen alten Widersacher erkannte: den Streifenbeamten Müller. Wie er mich gefunden hatte, war mir ein Rätsel, aber ich hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich sammelte die letzten Kräfte und rappelt mich hoch. Mit pfeifender Lunge rannte ich über die Felder davon. Die Polizisten waren gut in Form: Einer lief behende hinter mir her, während der andere über Funk die Kollegen rief. Auch Müller nahm die Verfolgung auf. Er hatte wohl seine eigenen Pläne, denn als er in Schußweite war, entsicherte er seine Pistole und legte auf mich an. Aber der Marokkaner fiel ihm in den Arm und hinderte ihn am Schuss. Ich kletterte über eine Absperrung und wollte mich über die Straße in den Wald davonstehlen, aber schon kam ein zweiter Streifenwagen angerast. Zwei weitere Gendarmen stiegen aus, und dann hatten sie mich in der Falle. Einer riss mir die Arme auf den Rücken, der Zweite stieß mich zu Boden, und ein Dritter saß mir im Genick. Es ging sehr schnell, und als die Handschellen klickten, sagte Müller so leise, dass nur ich es verstehen konnte: „Tut mir leid, Lechner, ich hätte dir dieses Schicksal gerne erspart. Jetzt hast du ausgespielt.“ ZEHNTES KAPITEL Bei den Nachforschungen über den Verbleib Lechners sah ich mich vor das Problem gestellt, diskret vorzugehen. Hätte ich mich bei der Polizei erkundigt, so hätte man mir eine Menge unbequeme Fragen gestellt. Ich entsann mich der Visitenkarte, die mir der Marokkaner auf dem Schiff überreicht hatte. Da ich sonst keine Verbindungen hatte, besuchte ich den Teppichhändler in Meknes, den man mir empfohlen hatte. Er war von mittlerer Statur, hatte ein feistes Gesicht und einen ziemlichen Wanst, aber sein Verstand war scharf und sein Kombinationsvermögen ausgezeichnet. Er servierte mir eine Kanne Tee, und dann kamen wir auf das Geschäft zu sprechen. Er erklärte gleich, er habe von dem verrückten Deutschen gehört und sei bereit, seine Beziehungen zur örtlichen Polizei spielen zu lassen. Aber eine kleine Gegenleistung müsste ich ihm schon erweisen. Er habe bemerkt, dass mein Auto einen Unfallschaden habe und könne mir eine gute Werkstatt empfehlen, die das Auto zu einem günstigen Preis reparieren könne. Dann führte er mich durch seinen Laden, und um ihn mild zu stimmen, kaufte ich ihm noch zwei Teppiche ab, für die ich einen horrenden Preis bezahlte. Der Händler hielt sein Wort und begleitete mich auf die örtliche Polizeiwache. Ich zeigte den gefälschten Ausweis vor und behauptete frech, die französische Staatsbürgerschaft zu besitzen und Chef der Verkehrspolizei von Marseille zu sein. Zu meiner Verblüffung akzeptierten die Beamten meine frechen Lügen und stellten keine weiteren Fragen. Sie schlugen mir vor, am nächsten Tag wieder zu kommen. In der Zwischenzeit würden sie Nachforschungen anstellen, um in Erfahrung zu bringen, wo der entflohene Sträfling sich aufhalte. Dem Teppichhändler kam das gelegen, denn er lotste mich gleich in die nächste Autowerkstatt, wo ein windiger Mechaniker den Schaden begutachtete. Er schätzte den Schaden auf dreitausend Euros. Ich stimmte der Reparatur zu, entfernte allerdings vorher die Luger aus ihrem Versteck und steckte sie in die Tasche. Ohne Waffe hätte ich mich machtlos gefühlt, und was Lechner anging, so hatte ich meine eigenen Pläne. Das Auto blieb in der Werkstatt, und ich kehrte in mein Hotel zurück, wo ich ein kleines Mittagsschläfchen abhielt, das mich von meinen Sorgen und Nöten erlöste. Am nächsten Tag stellte der Teppichhändler mich zwei Geschäftspartnern von ihm vor. Der eine war ein marokkanischer Bauer mit Namen Achmed Chaddam, der andere ein gut gebauter Schweizer, der mich gleich in ein Gespräch verwickelte. Er heiße Reto und verwalte eine kleine Herberge, die nicht weit von hier liege. Er hätte die Bekanntschaft des flüchtigen Deutschen gemacht, der einige Tage in dem Hotel verbracht habe, um dann bei Nacht und Nebel in der Wüste zu verschwinden. Der Flüchtige hätte nicht für die Übernachtung bezahlt und zuletzt sogar noch versucht, aus der Rezeption die Kasse zu stehlen. Normalerweise nehme er seine Gäste in Schutz, aber in diesem Fall sei die Grenze des Zumutbaren wirklich überschritten. Der Deutsche könne nicht weit gekommen sein, da er zu Fuß unterwegs sei und keine finanziellen Mittel mehr habe. Ich fragte ihn, ob er sich als Timo Lechner ausgewiesen hatte, und Reto bejahte. Zu viert gingen wir zurück zur Polizeiwache, wo man uns nicht lange warten ließ. Zwei stämmige Polizisten nahmen mich mit auf Streife, nachdem die wichtigsten Fragen geklärt waren. Ich gab mir Mühe, mein schlechtes Französisch zu verbergen, aber sie stellten keine unbequemen Fragen und beschränkten die Konversation auf das Wesentliche. Timo Lechner sei in einem anliegenden Dorf gesichtet worden, wo er die Friedhofsruhe verletzt hätte und versucht hätte, in eine Scheune einzubrechen. Er müsse sich noch in der Nähe aufhalten; mit Unterstützung zweier weiterer Streifenwagen werde man versuchen, ihn dingfest zu machen. Ich schwieg zufrieden und widmete den Beamten keine weitere Aufmerksamkeit, die sich angeregt auf Arabisch unterhielten und anscheinend den ein oder anderen Scherz austauschten. Wir fuhren die Dorfstraße entlang, wo uns beinahe ein kleines Mädchen unter die Räder gekommen wäre, das planlos über die Straße rannte. Der Fahrer fluchte, hielt aber nicht an, um den Schaden zu begutachten. Wir bogen hinter der Siedlung auf einen Feldweg ab und bewegten uns über den holprigen Pfad auf ein Gehölz zu. Dann sichtete ich in der Ferne eine Gestalt: Es konnte nur Lechner sein. Die beiden marokkanischen Polizisten verständigten sich kurz. Der eine blieb in dem Wagen und erstattete Meldung, während der andere über die Felder auf den Flüchtigen zu rannte. Ich war schneller und hatte einen kleinen Vorsprung. Als ich in Schussweite war, zog ich die Luger aus der Tasche und hielt einen Moment inne, um zu zielen. Doch der marokkanische Beamte fiel mir in den Arm und hinderte mich am Schuss. Dann kam ein zweiter Streifenwagen angerast, und es war zu spät, um noch etwas zu unternehmen. Sie warfen Lechner zu Boden und legten ihm Handschellen an. Er sah müde und krank aus, wie er da am Boden im Dreck lag. Ich hätte ihn gerne von seinem Schicksal erlöst, aber die Gelegenheit war vertan. Die Streifenbeamten brachten ihn in die nahe gelegene Stadt und verfrachteten ihn in die Arrestzelle, wo er auf die Überführung in die Heimat wartete. Ich blieb drei weitere Tage in Meknes und wartete darauf, dass der Mechaniker die Reparatur des Autos zu Ende führte. In meinem Hotelzimmer wurde es mir langweilig, und um mir die Zeit zu vertreiben, trieb ich mich in den Souks herum und erstand das eine oder andere Andenken. Es war gewöhnungsbedürftig, allein in der Stadt unterwegs zu sein, denn ständig wurde man von Schleppern und Geschäftemachern angesprochen. Gerne hätte ich einige Szenen des marokkanischen Alltags auf Papier festgehalten, aber es erwies sich als unmöglich, geeignete Malutensilien zu erwerben. Schließlich war die Reparatur des Autos fertig gestellt, und ich wurde auf der Wache vorstellig, um Lechner nach Deutschland auszuliefern. Die marokkanischen Kollegen waren gut gelaunt und machten ihre Scherze über die Verhaftung. Sie erkundigten sich über die Arbeit bei der Verkehrspolizei und wünschten mir eine gute Fahrt, als ich Lechner ins Auto schubste und mich hinter das Steuer klemmte. Die übertriebene Freundlichkeit der Beamten hätte mich stutzig machen sollen, doch in meiner Naivität nahm ich ihre Bemühungen als selbstverständlich hin und machte mir keine Gedanken, als ich den Rückweg nach Tanger antrat. Lechner war bei schlechter Gesundheit. Mich wunderte das keineswegs, denn er war wochen- und monatelang der Strahlung ausgesetzt gewesen. Er hustete sich die Seele aus dem Leib und verdreckte die Sitzpolster meines Autos mit Blut. Lange würde er es nicht mehr machen, und so hielt ich meinen Zorn zurück und versuchte ihm die Reise so einfach wie möglich zu machen. In Tanger schiffte ich mich nach Europa ein. Die Fähre fuhr an der portugiesischen Küste entlang und sollte in wenigen Tagen Amsterdam erreichen. Die Kontrollen waren lasch, und niemand kümmerte sich um uns, als ich das Auto im Laderaum abstellte und Lechner am Sitz festkettete, damit er mir nicht ein weiteres Mal durch die Lappen ging. Ich selbst verbrachte die Zeit in einer komfortablen Kajüte und genoss das Leben auf dem Schiff in vollen Zügen. Ich stopfte mir den Bauch am kalten Büfett voll, ließ mich mit Champagner voll laufen und hing die halbe Nacht an den Spielautomaten im Zwischendeck herum, um meine letzten Euros auf den Kopf zu hauen. Mir war klar, dass mich daheim in der Megalopolis nur Unannehmlichkeiten erwarteten und ich die letzten Tage in Freiheit verbrachte. Wenn ich Lechner auslieferte, musste ich mich der Reedukation ausliefern, und nach der Gehirnwäsche würde nichts mehr so sein wie vorher. Fast verband mich eine seltsame Freundschaft mit Lechner, denn wir hatten beide nichts zu verlieren. Auf ihn wartete der Tod durch ein Bronchialkarzinom, während ich mich der staatlichen Repression aussetzen musste. Mir schien es sinnlos, ihn der Polizei auszuliefern, da er sowieso nicht mehr lange zu leben hatte. Er war sich über seine tödliche Krankheit durchaus im Klaren und bat mich, Schwester Bianca noch einmal zu besuchen und mich um sein ungeborenes Kind zu kümmern. Ich erfuhr die Geschichte mit Natascha und der Nacht am Brunnen und schüttelte den Kopf. Wenn er wirklich ein Kind gezeugt hatte, so war es im Alten Revier denkbar schlecht aufgehoben, und ich gewann nicht den Eindruck, dass diese Natascha eine ehrbare Person sei. Dennoch versprach ich, alles zu tun, was in meiner Macht stand. Lechner hatte keine Ahnung von der Wahrheit. Er wusste nicht, dass ich selbst auf der Abschussliste des Polizeirats stand und froh sein konnte, wenn ich den Posten bei der Polizei behalten konnte. Ich machte mir auch nicht die Mühe, es ihm zu erklären. Gegen Ende der Überfahrt verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zunehmend; er kotzte mir das Auto voll und redete wirres Zeug von den Außerirdischen und davon, dass die Regierung in Wirklichkeit aus Androiden bestehe, deren Aufgabe es sei, die Menschheit zu verknechten. Der Marschall, der die Geschicke des Staates lenkte, sei kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern er werde über das Hypernet von extraterrestrischen Mächten ferngesteuert, die den Planeten kolonialisieren wollten. Diese Mächte hätten den Dritten Weltkrieg entfesselt und würden bald damit beginnen, die Erde zu besiedeln. Dann schwafelte er unverständliches Zeug von seinem Computerprogramm und dem Tag X, an dem er seine persönliche Rache an der Gesellschaft auskosten würde. Ich schenkte seinem Gefasel keine Beachtung und hielt es für wahnhaftes Gerede im Fieber. So musste es einem wohl ergehen, wenn man im Sterben lag. Ich war froh, als die Fähre im Sektor H anlegte und ich den Wagen aus dem Laderaum fahren konnte. Es hätte mir noch gefehlt, mit einer Leiche im Kofferraum heimzukehren. In Amsterdam fanden scharfe Zollkontrollen statt, doch als ich mich als deutscher Polizeibeamter auswies, wurde ich durch die Absperrungen gewinkt und konnte die Heimreise antreten. Obwohl ich wußte, dass die Presseleute über mich herfallen würden wie Aasgeier, war ich froh, wieder nach Hause zu kommen. Zwar würde ich mir eine neue Wohnung suchen müssen und mich einer Gehirnwäsche unterziehen müssen, aber so schlimm konnte es gar nicht kommen, dass ich von selbst das Handtuch warf. Gut gelaunt brauste ich durch die Autobahntunnel und schaltete sogar das Radio ein, obwohl ich befürchten musste, eine Meldung über mich selbst zu hören. Die Dinge standen besser, als ich es vermutet hätte. Die Presse hatte Geschichten über Timo Lechner satt. Niemand schenkte mir Beachtung, als ich den Gefangenen in der forensischen Anstalt ablieferte. Schwester Bianca hatte zufällig Dienst, und sie schenkte Timo ein Lächeln, nach dem ich mir die Lippen geleckt hätte. Er wurde in ein Einzelzimmer verlegt, und ich sah es dem Dienst habenden Arzt an, dass er sich nicht mehr die Mühe machen würde, dem todkranken Patienten weitere Schwierigkeiten zu bereiten. Schwester Bianca durfte ihn ungestört verhätscheln, und ich beneidete das Pärchen um sein kurzes Glück. Ich kehrte derweil ins Präsidium zurück, wo Arenz und Seltz mein Büro mit den übrig gebliebenen Papierschnitzeln und den Leinwandfetzen meiner Gemälde geschmückt hatten. Erst wurde ich rot vor Wut, doch dann erkannte ich, dass ich mich nicht wehren konnte und machte gute Miene zum bösen Spiel. Seltz klopfte mir kameradschaftlich auf die Schulter und witzelte, der Polizeirat hätte sich an meinen Bildern ausgetobt, um seinen Zorn in Griff zu bekommen. Seit Wochen sei keine Meldung mehr über mich im Fernsehen gekommen. Daher habe sich der Polizeirat zu der Entscheidung durchgerungen, mich weiter meinen Dienst verrichten zu lassen. Allerdings werde ich vorübergehend in die Kleiderkammer verlegt, bis ich meine persönlichen Probleme in den Griff bekommen hätte. „Mach dir nichts daraus, Müller, für eine Weile kannst du nun Wanzen und Kleidermotten jagen.“ Ich erstattete Bericht bei Polizeirat Ehlert und erfuhr, dass meine Wohnung vom Vermieter gekündigt worden sei. Für die Übergangszeit könne ich ein Zimmer in der Rekrutenschule beziehen. Das sei zwar keine dauerhafte Lösung, aber so stünde ich wenigstens nicht auf der Straße. Von meiner Wohnungseinrichtung sei der größte Teil versteigert worden, und was meine Bilder angehe, so sei die eine Hälfte durch den Reißwolf gewandert, während der andere Teil der Gemälde von der Geschäftsführerin eines Schreibwarengeschäfts aufgekauft worden sei, die mit den Bildern ihren Lagerraum dekoriert habe. Das Malverbot sei weiterhin gültig, und dann – gegen Ende unserer Unterredung – wurde Ehlert richtig menschlich und erkundigte sich mitleidig nach dem Verbleib meines Hundes Toto. Ich verzichtete darauf, ihm Einzelheiten meiner Irrfahrt durch halb Europa mitzuteilen und sagte nur kurz und knapp, man habe den Schäferhund erschossen. Eine peinliche Pause entstand, und der Polizeirat entließ mich schließlich mit den üblichen Höflichkeitsfloskeln aus seinem Büro. Ich hatte nichts zu tun und fuhr zur Abwechslung zu dem Schreibwarenladen, in dem das Feministische Kampfkorps sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Die Bilder waren an Ort und Stelle, wie ich bald in Erfahrung brachte, aber die Verkäuferin weigerte sich, die Kunstwerke zurückzugeben. Die Gemälde seien auf ehrliche Weise ersteigert worden, und wenn ich damit nicht einverstanden sei, solle ich halt vor Gericht eine Klage einreichen. Ich verzichtete. Die Verkäuferin – es handelte sich um meine alte Bekannte Minou – versuchte mich anschließend aus dem Laden zu komplimentieren, aber mich ritt der Teufel, und ich drohte ihr mit polizeilichen Ermittlungen, die dem konspirativen Treiben des Feministischen Kampfkorps ein Ende setzen würde. Minou wurde blass und verriet in ihrer Bestürzung, dass die Organisation ohnehin vor der Selbstauflösung stünde. Die ursprünglichen Ziele seien nicht erreicht worden, und die Verbindungen zu den Aufständischen im Alten Revier hätten spürbar abgenommen. Ich riet ihr, sich um ihren Computer daheim zu kümmern, der wahrscheinlich von einem tückischen Virus befallen sei. Sie lächelte und sagte, darum mache sie sich keine Sorgen, aber wenn sie mir einen Tipp geben dürfe, solle ich mal nach meinem Wagen schauen, der sei nämlich höchstwahrscheinlich geknackt worden. Ich hastete zum Parkhaus und sah gerade noch, wie Zappa die Fahrertür zuknallte und in meinem Wagen davon fuhr. Er sah mich und konnte es sich nicht verkneifen, noch einmal kräftig auf die Hupe zu drücken, bevor er um die nächste Ecke verschwand. Das Rauschgift ist im Wagen, schoss es mir durch den Kopf. Jetzt verstand ich auch, warum ich so wenig Schwierigkeiten mit der marokkanischen Polizei gehabt hatte. Alle steckten sie unter einer Decke: Die Aufständischen vom Alten Revier hatten das Marihuana telefonisch angefordert und anschließend Timo Lechner vorgeschickt, um das Geld zu übergeben. Reto und Achmed hatten dafür gesorgt, dass das Rauschgift im Wagen eingeschweißt wurde und ihre Beziehungen zur örtlichen Polizei spielen lassen, damit der Wagen ungehindert nach Europa verschifft werden konnte. Ich war nichts als eine Marionette in ihrem geschickten Ränkespiel und konnte von Glück reden, dass ich unbehelligt davongekommen war. Sicher hatte ich mich darüber gewundert, dass der Polizei meine gefälschten Papiere nicht aufgefallen waren und die marokkanischen Kollegen spontan zugestimmt hatten, den flüchtigen Straftäter zu verhaften. Aber dass ich selbst die Drogen in die Megalopolis befördert hatte, war zu viel für mein ohnehin angeknackstes Selbstbewusstsein. Ich kehrte mit der Metro in die Rekrutenschule heim, kümmerte mich nicht darum, dass die Passanten mit den Fingern auf mich zeigten und ertrug es gelassen, dass die jungen Polizeianwärter ihre Witze über mich rissen. Ich erinnerte mich, dass ich in meinem Gepäck immer noch die Zigarren mit mir führte, die Polizeirat Ehlert und Seltz mir geschenkt hatten. Schamerfüllt kauerte ich mich in eine Ecke des kahlen, unwirtlichen Zimmers, das man mir zugewiesen hatte, und schmauchte einen Stumpen nach dem anderen. Ich weiß nicht, welche geheimnisvollen Zusätze der Tabak enthielt, aber mir war bald kannibalisch wohl, und ich vergaß die Unsicherheit meiner weiteren Existenz. Der Hausmeister fand mich am anderen Morgen, als ich völlig weggetreten auf dem Fußboden lag und immer wieder vor mich hin murmelte: „Das Huhn war zuerst da, und dann kam das Ei; gleich zündet die Lunte und ich sag bye, bye.“ Allem Anschein nach drückte der gute Mann ein Auge zu und kehrte erst gegen Nachmittag wieder, als ich mich von dem Trip halbwegs erholt hatte. Er teilte mir mit, es sei ein Telefonanruf aus dem Präsidium gekommen. Ich werde bei der Dienstaufsichtsbehörde erwartet, um die gesetzlichen Maßnahmen zur Reedukation über mich ergehen zu lassen. Natürlich kam ich zu spät, weshalb die zuständigen Beamten sich lange Erklärungen sparten und mich gleich in das nahe gelegene Krankenhaus überführten, wo mich ein Team junger Ärzte in Narkose versetzte. Ich weiß nicht, was sie mit mir anstellten, während ich bewusstlos war, aber als ich erwachte, war alles wie vorher, nur meine Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen. Ich fühlte mich pudelwohl, war motiviert, meinen Dienst bald wieder anzutreten und störte mich auch nicht daran, dass die Leute in der Metro mit den Fingern auf mich zeigten und tuschelten. Natürlich vermutete ich, dass sie mir einen Chip ins Gehirn eingepflanzt hatten und meine Nerven von nun an fremdbestimmten elektrischen Reizen ausgesetzt waren. Aber ich dachte im Ganzen wenig darüber nach und fügte mich den Anordnungen der Ärzte. Jeden Tag musste ich das Krankenhaus aufsuchen und wurde in meine Pflichten als Staatsbürger und Streifenbeamter unterwiesen. Es war wie früher in der Schule, mit dem Unterschied, dass ich ein erwachsener Mann war und die Maßnahme lediglich meiner Rehabilitation diente. Ich konnte damit leben, denn es war immer noch besser, als selbst in den Strafvollzug zu gehen und den Job für immer zu verlieren. War der Unterricht beendet, so wurde ich noch eine halbe Stunde mit dem Großrechner verkoppelt und durfte anschließend für den Rest des Tages im Präsidium verschmutzte Uniformen reinigen. Ich bekam in Aussicht gestellt, nach der Reedukation wieder in den Streifendienst übernommen zu werden und eine eigene Wohnung beziehen zu dürfen. Selbst das Malverbot sollte nicht ewig dauern. Im Ganzen war ich zufrieden, wenngleich ich oft an meinen verstorbenen Hund denken musste und die alten Narben noch manchmal schmerzten, wenn die Erinnerung an Prügel und Folter wieder hochkam. War ich guter Laune, so rief ich in der forensischen Anstalt an und erkundigte mich nach dem Schicksal von Timo Lechner. Schwester Bianca berichtete mir, es gehe rapide mit ihm bergab, er huste viel Blut und weine manchmal leise vor sich hin, wenn man ihn auf sein Schicksal anspreche. Manchmal besuche ihn sein Cousin und erleichtere ihm die schwere Qual seiner Krankheit. Ich vermied es, mich näher nach Armin Lechner zu erkundigen, um bei den Kollegen keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Mein Wagen war als gestohlen gemeldet, und ich hatte mehr Glück als Verstand, dass Ehlert keinen Verdacht schöpfte und die Umstände genauer unter die Lupe nahm. Im Alten Revier war eine ganze Woche lang die Hölle los. Jede Nacht sammelten die Kollegen zugekiffte Hippies ein, die in den Straßen randalierten, Autos anzündeten und Scheiben einschlugen. Es war die Rede von massivem Drogenkonsum hinter dem elektrischen Zaun, der das Reservat eingrenzte, aber niemand brachte die Ausschreitungen mit meiner Heimkehr in die Megalopolis in Verbindung. Ich konnte die Ärzteschaft bald davon überzeugen, dass der Unterricht in staatsbürgerlichen Pflichten von Erfolg gekrönt war und die Reedukation ihre Wirkung zeigte. Nach und nach setzte die Routine des Arbeitsalltags wieder ein, und die Leute auf der Straße vergaßen die gesammelten Lügen, die damals in der Presse über mich verbreitet worden waren. Das Leben normalisierte sich. Manchmal dachte ich noch an Timo Lechner und seinen gescheiterten Ausbruchsversuch. Die Punkerin aus dem Alten Revier, von der er mir erzählt hatte, setzte einen gesunden Sohn in die Welt, der unter den Hippies und Freaks im Alten Revier aufwachsen sollte. Timo Lechner erlebte es nicht mehr. Am Tag, als er starb, brach das gesamte Computernetz in der Megalopolis zusammen. Auf den Fernsehbildschirmen flimmerte nur Schnee, und dann erhellte sich das Bild, und das Gesicht Timo Lechners erschien auf allen Kanälen. Es war die beste Sendezeit; Millionen Zuschauer wurden Zeuge, als der Computervirus, an dem er so lange gebastelt hatte, die Kontrolle über die staatlichen Fernsehsender übernahm und seine letzten Worte in alle Haushalte übertrug. „Man sagt uns“,. erklärte Lechner im Fernsehen, „diese Welt sei die einzig Mögliche. Werte wie Humanismus und soziales Handeln gehören der Vergangenheit an. Wir haben das Recht, uns im Verborgenen eine eigene Meinung zu bilden und revolutionäre Gedanken zu entwickeln. Doch dürfen wir sie nicht laut äußern, und wenn die Gedankenpolizei davon erfährt, verfrachtet man uns umgehend in psychiatrische Krankenhäuser. Könnten wir Kinder in die Welt setzen, so bliebe uns die Möglichkeit, das kritische Gedankengut an die nächste Generation weiterzugeben. Aber man verwehrt uns jede sexuelle Handlung und zieht unsere Nachkommen fern von unserem Einfluss auf. Wer sich quer stellt, wird verhaftet und einer Gehirnwäsche unterzogen. Wir haben das atmende Antlitz der Erde vergessen und müssen wie Wühlmäuse in Kellern und Bunkern dahinvegetieren. Wehe dem, der noch eine Erinnerung an blühende Wiesen im Sonnenlicht zurückbehalten hat. Wehe dem, der aus verbotener Literatur die Schönheit des Lebens im Frieden kennen gelernt hat. Man sagt uns, der Feind stehe an allen Grenzen und drohe mit der Auslöschung unserer ganzen Nation. Aber sind wir nicht selbst unsere schlimmsten Feinde geworden? Quälen wir einander nicht täglich durch Verrat, Denunziation und Verleumdung? Meine Worte sind spärlich, und mir bleibt wenig Zeit, der staatlichen Propaganda eine Antithese entgegenzusetzen. Ich bin nur ein Einzelner, und mein Schicksal ist verwirkt. Dennoch appelliere ich an alle, die diese Meldung mitverfolgen. Wehrt euch gegen staatliche Repression und sinnlose Gewalt! Lest verbotene Literatur und zieht eure eigenen Schlüsse! Widersetzt euch den Schergen des verlogenen Systems und leistet Widerstand, wo immer es euch möglich ist! Erst wenn wir die vergessenen Werte der Generation unserer Großeltern wieder entdecken, wird es uns gelingen, eine Welt zu bauen, in der das Leben wieder lebenswert ist.“ Der Ton brach ab, und dann war Sendepause. Timo Lechner tat den letzten Atemzug, und für einen Moment war es so still in der Megalopolis, dass man glaubte, der Frieden sei greifbar nah. THE END