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Honoré de Balzac - Trug der Dichter einen Kartoffelsack?

Die Franzosen sind noch zu erschöpft, um Balzacs 150. Todestag angemessen zu würdigen. Erst im Mai 1999 haben sie seinen 200. Geburtstag fürstlich gefeiert.

Im Herbst zeigte das Fernsehen einen dreistündigen Film, in dem der Dichter vom populärsten Mimen des Landes, Gérard Depardieu, verkörpert wurde. Jetzt reicht's erstmal.

Damit ist nicht gesagt, dass die Franzosen vom Schöpfer der "Comédie humaine" genug hätten. Wie ein Blick ins Internet belehrt, kann von der "durchschlagenden Wirkungslosigkeit", die Max Frisch den Klassikern nachsagte, keine Rede sein. Zum Thema "Balzac und die Politik" listet Yahoo France 4250 Websites auf, zu "Balzac und das Geld" 5140, zu "Balzac und die Liebe" 8630. Auch an neuen Büchern fehlt es nicht. Die Zeitschrift "L'Année balzacienne" hält Wissensdurstige auf dem letzten Stand der Forschung. Etwa 80 Filme haben seinen Kosmos auf Leinwand und Bildschirm transportiert. Spitzenreiter unter den Filmversionen sind "Eugénie Grandet" und "Oberst Chabert". Claude Chabrol, der in Balzac einen Geistesbruder entdeckte, spielt seit langem mit dem Gedanken, "Das Chagrinleder" oder "Verlorene Illusionen" zu verfilmen. Doch ist aus diesen Plänen bisher nichts geworden.

Im vergangenen Jahr wurde auch das Balzac-Museum nach längerer Renovierung wieder geöffnet. Hier wohnte der bis über den Hals verschuldete Dichter, nachdem sein Landsitz in Ville d'Avray zwangsversteigert worden war. Das Gartenhaus in der Rue Raynouard hatte den unschätzbaren Vorzug, zwei Ausgänge zu besitzen: Wenn sich ein Gläubiger nicht abweisen ließ, konnte Balzac durch den Hintereingang verschwinden. Um nicht aufgespürt zu werden, hatte er das Haus obendrein unter dem Namen seiner Haushälterin, Brugnol, gemietet, mit der er ein Liebesverhältnis unterhielt. Da die Eleganz, zu der er sich aufgrund seines - vom Vater erfundenen - Adels berechtigt glaubte, seine Finanzkraft überstieg, begnügte er sich damit, Marmorverkleidungen, Simse und Kamine mit Kohle an die Wände zu zeichnen. Davon ist nichts übrig geblieben, wohl aber seine Schneiderrechnungen: Aus einer geht hervor, dass er innerhalb eines halben Jahres 60 Paar Handschuhe bestellte. Für Literaturhistoriker aufschlussreich sind die Puppen, die er als Erinnerungsstützen benutzte, um sich bei der Konstruktion seiner Romanwelt nicht zu verheddern. Wer gestorben war, verschwand in einer Kiste.

Das Haus, in dem Balzac selbst starb, steht nicht mehr. Das Areal gehört zum Park der Rothschild-Villa, heute Schauplatz von Foto-Ausstellungen. Aber ganz ist die Erinnerung an den früheren Hausherrn nicht erloschen. Noch in seinem Todesjahr erhielt die Straße seinen Namen. Seit 1902 steht dort auch ein Denkmal, aber nicht das berühmte von Rodin. Der hatte sich nach langwierigen Vorarbeiten entschlossen, den Dichter nicht im Anzug, sondern im Morgenrock abzubilden: "Ich wollte den von Schulden gepeinigten, schlaflosen Vielschreiber zeigen, wie er sich nachts aus dem Bett erhebt, um einen Gedanken zu Papier zu bringen." Als er das Gipsmodell ausstellte, gab es einen Aufschrei. "Mit Erstaunen hört man", höhnte eine Zeitung, "dass der Bildhauer drei Jahre darauf verwendet hat, Balzacs Schneider ausfindig zu machen. Trug der Autor der ,Menschlichen Komödie' wirklich einen Kartoffelsack?" Die Société des gens de lettres, die das Denkmal bestellt hatte, wies den Entwurf zurück und beauftragte den ungefährlichen Alexandre Falguière. Rodins Denkmal wurde erst vier Jahrzehnte später für würdig befunden, Paris zu verschönern.

Unter den französischen Literaten war Balzac stets umstritten. Die Ästheten zogen seinen Zeitgenossen Stendhal vor. "Was für ein großer Mann Balzac gewesen wäre", spottete Flaubert, "wenn er hätte schreiben können." Die Sozialkritiker hingegen fühlten sich von seinem enzyklopädischen Werk mächtig angespornt. Zolas 20-bändiger Romanzyklus "Les Rougon-Macquart" wäre ohne die "Comédie humaine" nicht zu denken. Auch beim lesenden Volk ist Balzacs Ruhm ungebrochen. Als das Nachrichtenmagazin "Le Point" im vergangenen Jahr Politiker nach ihren Lieblingen unter Balzacs Romanfiguren befragte, hatte jeder eine gutbegründete Antwort parat. Einige seiner Charaktere sind geradezu nationale Typen geworden, die jeder kennt und zitiert: Vater Grandet ist der typische Geizhals, Crevel der typische Spießer, Rastignac der Aufsteiger schlechthin. Kein Pariser unterlässt es, auf der höchsten Erhebung des Père-Lachaise-Friedhofs daran zu erinnern, dass hier der vom Ehrgeiz zerfressene Provinzler Rastignac auf die Stadt, "diesen brausenden Bienenstock", heruntersah und ihr entgegenschrie: "Und jetzt zu uns beiden!"

Jörg von Uthmann

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