Kladde
~ Februar 28, 2002
 
Stressbewältigung durch Lektüre. Deshalb bevorzuge ich dieser Tage Autoren, die mich unterhalten, aber nicht anstrengen, denn angestrengt bin ich eh. Und also ruht Zettels Traum ein wenig, aber morgen beginnt der März, den ich noch nie so herbeisehnte wie dieses Jahr (heftige Euronebenwirkung) und da wird alles besser.
 
Im Allgemeinen stört es mich nicht, vorab Informationen über Geschehnisse in einem Buch zu haben. Wer denn nun der Mörder ist, zum Beispiel, fand ich bei guten Krimis noch nie die Hauptsache: Der Weg ist das Ziel.
Bei Steven Brusts Agyar (kein Krimi) aber frage ich mich, ab wann ich gewußt hätte, worum es geht, wenn ich es nicht schon vorher getan hätte. Allmählich verdichtet er die Hinweise, die mir mit Vorwissen sofort klar sind. Aber wäre ich so drauf gekommen? Manchmal geht doch nichts über den Stand der Unschuld.
~ Februar 27, 2002
 
Aus dem literarischen Leben:

26.2.1892
Diederich Heßling begegnet in Berlin Kaiser Wilhelm II und setzt sich vor Begeisterung in eine Pfütze.
(Heinrich Mann - Der Untertan 1916)
(via Matthias Kranz)

 
Der Schockwellenreiter heißt mich auf das allerschärfste willkommen. Das hat mich so erschreckt, dass mir nun die Worte für ein behutsames und sanft abgerundetes Dankeschön fehlen.
~ Februar 24, 2002
 
Vertane Zeit: Pakt der Wölfe angesehen. Eine allzu krude Mischung mit arg durchhängendem Spannungsbogen. Mir hätte Anfang und Ende gereicht.
Dann lieber noch ein Hiaasen lesen: Stormy Weather. Florida nach dem Hurricane. Auch hier eine Mischung aus den unglaublichsten Dingen, aber hier funktioniert es. Spannung und Komik straff und pointiert. Und wieder Einfälle, das man vor Vergnügen Purzelbäume schlagen möchte. Da wird einem Werbungsjuppie (der viel zu clever ist, den Mist, den er anpreist, selber zu konsumieren) das Rauchen antrainiert, mittels eines Hundeschockhalsbandes mit dem gemeinhin Jagdhunden beigebracht wird, die Beute zu holen, aber nicht zu verspeisen.
~ Februar 21, 2002
 
Double Whammy wiedergelesen und erleichtert festgestellt, dass es so gut ist, wie ich es in Erinnerung hatte. Auf dem Grunde des Buches liegt eine tiefe Besorgnis um den Ausverkauf Floridas und wenn es hier auch einen großen und urkomischen Sieg über die Vernichter und Zerstörer gibt, so ist deren Werk doch getan und an der allgemeinen Misere ändert sich nichts. Aber es ist ein wenig augenzwinkernde Poetic Justice.
 
Von Shakespeare lasse ich mich gerne beleidigen.
(via Sofa)
~ Februar 18, 2002
 
IF THEY HANG YOU

In the early days I would say
Tell me about the girl who used to live across the way
Out on a drunk
Down in the bay
No idea you'd ever live as long as you did
She lay on your bed cold in your arms
Wishing she could be somewhere else
Maybe that same night I would say
So you're stubborn about the girls
Footsteps on the stairs late in the morning
Behind the blinds that shun the noon day light
Staring at the page burnin' midnight oil
If they hang you I'll have a few sleepless nights
At the witch-trial you would not reveal
The names of comrades that you never knew
Bad diseases
Kill or cure
I always like a man who says what's on his mind

So sungen die Mekons Ende der 80er (dieses Lied speziell sungte Sally Timms mit glasklarer Stimme und ätzendem Spott verkleidet in engelshafter Unschuld - höre auch GHOSTS OF AMERICAN ASTRONAUTS) als sie die Welt noch mit solchen Lyricperlen wie If Mars invades then we'll be allies oder History has a stutter/ It says w..w..w..watch out! verwöhnten.
Ich wußte immer, dass sich IF THEY HANG YOU um Dashiell Hammett drehte, schließlich gab es zu den einzelnen Songs Lektüreangaben und zu diesem war es The Maltese Falcon, aber wie viel er (der Song, sicher aber auch Hammett) Lillian Hellmann verdankt zeigt die alte Tante Times: Dashiell Hammett: A Memoir

~ Februar 16, 2002
 
Lord of the Rings mal nicht von Tolkien (ich sach nur: Hemingway!)
 
Mit Skin Tight hat mich Carl Hiaasen vor Jahren zum sofortigen Fan bekehrt. Erbarmungslos komisch. Double Whammy dann sein bestes und Native Tongue sein abgedrehtetes Buch (feinstes Disney-Bashing). Doch nach Stormy Monday war der Rest eine Enttäuschung: Die Mischung aus abstruser Gewalt, skurrilen Protagonisten und saturierenden Epilogen, in denen jeder bekam, was ihm/ihr zustand, zündete nicht mehr. Ich weiss schon gar nicht mehr, wovon Sick Puppy handelt.
In seinem neuesten Werk nun hat Hiaasen alles etwas gedämpft. Weniger Gewalt und alltäglichere Personen. Vielleicht liegt es daran, dass Basket Case in der Journaille spielt. Carl Hiaasen ist Enthüllungsjournalist und wenn es um das eigene Fach geht, scheinen Autoren mit journalistischem Hintergrund ernster zu werden (siehe auch Pratchetts The Truth). In diesem Fall war das genau das Richtige. Die Einsprengsel über das Zeitungswesen in den Staaten allein ergeben zusammen genommen keinen üblen Essay. (Newspapers customarily do not report a private death as a suicide, on the theory it might plant the idea in the minds of other depressed people, who would immediately rush out and do themselves in. These days no paper can afford to lose subscribers.) Basket Case ist wieder unmittelbar überzeugend mit einem in Ungnade gefallenen Reporter, der nur noch Nachrufe verfassen darf und dadurch eine ungesunde Fixierung auf die Todesalter berühmter Persönlichkeiten erleidet. Nicht mehr ganz so überdreht, aber immer noch eine lachmuskelstimulierend/r Satire/Krimi.
~ Februar 15, 2002
 
Aus dem literarischen Leben:

15.2.1913
Der junge Ferdinand Panezza bricht tot im Beichtstuhl des Doms zu Mainz zusammen.
(Carl Zuckmayer - Die Fastnachtsbeichte 1959)
(via Barbara Kratzin)

~ Februar 14, 2002
 
Höfische Liebe versus Fleischliche Lust
In Never Do That to a Book unterscheidet Fadiman zwei Sorten Leser: Den einen ist das Buch heilig, es wird vorsichtig gelesen, nie aufgeschlagen auf den Rücken gedreht oder mit Eselsohren verunziert, ja es wird wie ein Kultgegenstand bewahrt, den anderen ist der Inhalt eines Buches heilig, die fleischliche Hülle behandeln sie, wie es ihnen einkömmt. Da wird reingekritzelt, in der Sauna gelesen, Seiten gelutscht oder rausgerissen oder das Buch muss als Instantplätter exotischer Käfer herhalten.
Erzogen wurde ich gewiss zu höfischer Liebe, meine Bücher sind, solange ich sie nicht ausleihe, in einwandfreiem Zustand, aber in mir nagt die fleischliche Lust. Unterstreichungen müssen sein (aber in Bleistift, läßt sich ja entfernen) und wenn keine Lesezeichen zur Hand ist, schrecke ich vor keinem Eselsohr zurück (je nach Papier ist es zurückgebogen nicht mehr zu bemerken). Wahrscheinlich aber werde ich immer ein courtly lover bleiben: was mir schon als Exzess erscheint, wird einem carnal lover nur ein mitleidiges Kopfschütteln abringen.
~ Februar 11, 2002
 
Aus dem literarischen Leben:

Anouk und Vianne Rocher treffen in Lansquenet-sous-Tannes ein.
(Joanne Harris - Chocolat 1999)
(via Barbara Kratzin)

 
Ende Januar überraschte mich Inspektor im Literarischen Rätselsalon mit einem Jubiläumsrätsel: Der 25000. Beitrag war in diesem Forum der Rätsel- und Literaturliebhaber erschienen.
Gegründet am 19.10.99 auf eine Anregung Hamlets hin geht es dort zwar nicht mehr ganz so rege zu wie am Anfang, aber dass sich der Salon so lange hält und unverändert Spaß macht, hätte ich mir damals nicht träumen lassen. Er ist nicht nur eine Spielwiese, sondern auch eine Fundgrube für Leseempfehlungen. Jhumpa Lahiris Interpreter of Maladies verdanke ich beispielsweise Lindas begeisterter Fürsprache.

Kein Roman, eine Sammlung von Kurzgeschichten gewann 2000 den Pulitzerpreis und ist inzwischen als Melancholie der Ankunft übersetzt. Da erweist es sich als Vorteil, dass Frau Lahiri bislang nur ein Werk veröffentlichte, ich hätte an diesem Titel nicht die Übersetzung von Interpreter of Maladies erkannt. (Überhaupt: Übersetzungen von Titeln - nein, ich fange doch nicht damit an.)
Es brauchte keine Seite Lektüre um von dieser Prosa überzeugt zu werden. Zurückhaltend, die notwendigen Details enthaltend, prägnant und ruhig erzeugt ihr Stil ein sofortiges Gefühl der Freundlichkeit, auch wenn in ihren Geschichten oft die tiefe Tragik des Alltags zutage tritt.
Selten habe ich so beglückt und zufrieden in der Strassenbahn gesessen, wie letzten Sonntag, als ich die erste Kurzgeschichte A Temporary Matter las, in der einem Paar die Liebe abhanden kommt.
Die Geschichten spielen teils in den Staaten, teils in Indien, sind auf selbstverständliche Weise mit indischer Exotik gewürzt und damit auch ein Augenöffner für die Menschen dieses Kulturkreises.

~ Februar 10, 2002
 
Im Litblog entdeckt: global network of dreams ist eine Suchmaschine, die Webseiten, Musik und Bücher heraussucht, die dem Benutzer aufgrund seiner Vorlieben wohl gefallen sollen.
Habe mich mal an Büchern versucht. Meine Vorlieben Hildesheimer-Johnson-Schmidt ergaben als Topempfehlung Hermann Hesse. Der war mir nun immer sehr suspekt und ich habe ihn eine Zeitlang nur gelesen, um herauszufinden, warum ich ihn nicht mag, bis ich mich fragte, warum ich mich mit ihm herumquäle und meine Zeit nicht besser mit den Autoren zubringe, die ich mag.
Weiter wird mir Paul Auster ans Herz gelegt sowie Carlos Castaneda, zwei Autoren, die mir zwar auf andere Art, aber nicht minder suspekt sind wie Hesse.
Also ein weiterer Versuch nunmehr mit Lieblingsschriftstellerinnen: Austen-Woolf-Wolf. Tada! Nicht einer der zehn folgenden Vorschläge nennt eine Autorin. Topempfehlung diesmal Shakespeare, da kann man ja nichts falsch machen (wenngleich er Stücke schrieb, keine Romane wie die vorgegebene weibliche Trias).
Nunja, mit steigender Benutzung soll Gnod ja immer intelligenter werden.
~ Februar 7, 2002
 
Unkontrollierter Genuß.
Das passiert mir nicht nur mit Schokolade, sondern mitunter auch mit Büchern. Eigentlich wollte ich ja erst meine ausgezeichnete Strassenbahnlektüre Interpreter of Maladies beenden und dann Anne Fadimans Ex Libris durch Köln kutschieren, aber dann warf ich auf der Toilette einen Blick hinein und gönnte mir nur den ersten Essay über die Heirat von Bibliotheken und war verloren. Ratzfatz war alles gelesen.
In 18 kurzen Stücken plaudert Anne Fadiman über unterschiedliche Facetten des Leselebens auf so nachvollziehbare und amüsante Weise, dass ich oft laut auflachte (insofern war es schon gut, dass ich nicht in der Strassenbahn las). Auf einige ihrer Essays werde ich hier noch eingehen.
~ Februar 6, 2002
 
Um mal den Gernhard auszugleichen:

Scorn not the Sonnet; Critic, you have frowned,
Mindless of its just honours; with this key
Shakspeare unlocked his heart; the melody
Of this small lute gave ease to Petrarch's wound;
A thousand times this pipe did Tasso sound;
With it Camoens soothed an exile's grief;
The Sonnet glittered a gay myrtle leaf
Amid the cypress with which Dante crowned
His visionary brow: a glow-worm lamp,
It cheered mild Spenser, called from Faery-land
To struggle through dark ways; and when a damp
Fell round the path of Milton, in his hand
The Thing became a trumpet; whence he blew
Soul-animating strains--alas, too few!

William Wordsworth

~ Februar 5, 2002
 
Man stelle sich diese Kladde von einem fast unmerklichen Knuspern und Knirschen begleitet vor. Das ist Regina, die sich langsam, aber unaufhaltsam weiter durch Zettels Traum bohrt.
Vier Protagonisten oder eine Kleinfamilie und ein Hagestolz. Paul und Wilma mit Tochter Franziska besuchen Einsiedler Daniel.
Paul und Dan bilden eine Männergemeinschaft gegen die Weibsbilder. Dan steht aber auch Franziska gegen die Eltern bei.
Paul ist Dans Zuträger, als erster überzeugt von den Etyms, Wilma ist die Widersacherin, die Skeptikerin. Mit ihrer Skeptik kann ich mich mitunter gut identifizieren, wäre sie nur nicht so von Poeverehrung angetrieben. (Gemeiner Kniff Schmidts, die Verfechterin der Gegenargumente zu diskreditieren.)
~ Februar 4, 2002
 
Aus dem literarischen Leben:

4.2.1882
Iwan Iljitsch Golowin stirbt.
(Leo N. Tolstoj - Der Tod des Iwan Iljitsch 1886)
(via salon.com)

~ Februar 2, 2002
 
Und ihre Mutter schrie, obgleich die Hausfrau es ihr nicht befohlen hatte, wie damals, als sie geboren wurde. Nunmehr ist sie gestorben und geistert im Epilog über den Friedhof und poliert alle Messingbeschläge ihres Mausoleums. So endet Die Geburt der Hausfrau und ihr Tod, einer der skurrilsten Romane, die ich je las. Die Handlung kippt zum Beispiel in Träume, die aber reale Auswirkungen haben oder ein Galadiner wandelt sich unter der Hand in eine Theaterszene komplett mit dem Chor der Damen eines gewissen Alters.
Zugrunde liegt die bitterböse Geschichte einer Frau im Käfig der Ehe- und Haushaltspflichten.
~ Februar 1, 2002
 
Aus dem literarischen Leben:

1.2.19..
Die Hausfrau beginnt ihre Zweiten Erinnerungen.
(Paola Masino - Die Geburt der Hausfrau und ihr Tod 1945)

 
Die Geburt der Hausfrau und ihr Tod hatte 1939 einige Schwierigkeiten mit der italienischen Zensur. Die Bibelzitate waren unerwünscht, Wörter wie Vaterland oder Nation sah man vom respektlosen Ton der Erzählung besudelt und alles sollte getilgt werden, was auf Italien als Handlungsort deutete. Die Autorin willfahrte, verstümmelte ihr Buch und es wurde gedruckt. Dann aber zerstörte ein Bombenangriff auf die Druckerei die gesamte Auflage. Leider kann man darauf nicht auf Kritik des Schicksals schließen, andere Machwerke überdauerten schliesslich die Zeiten (Nennung erübrigt sich).
Paola Masino versuchte anhand der Druckfahnen 1945 die Ursprungsversion herzustellen, allerdings: "Ich wollte mich nicht zu sehr darauf versteifen, alles wieder in Ordnung zu bringen; wenn manch Absurdes daraus entstanden ist, wer weiß, ob es sich nicht schicksalshaft und genüßlich mit den anderen, ursprünglichen Absurditäten dieses Frauenporträts vermischt (...)"
Das Buch verfasste sie übrigens auf Anraten ihres Gefährten Massimo Bontempelli. Sie litt damals unter einem Sauberkeitsfimmel und ging soweit in ihren Haus eine Brotkrume zu verstecken, die ihr Dienstmädchen dann aufspüren mußte.

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