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Februar 2000
Sind Sie fromm?
Eine solche Frage ist heutzutage etwa so ungehörig wie die Frage
nach der sexuellen Orientierung oder dem Monatseinkommen. Ich
selbst würde jedenfalls erstmal alles abstreiten. Wer ist schon
heute noch fromm. Religiös? Na ja. Spirituell? Selbstverständlich.
Aber fromm? Das Wort schmeckt nach Betschwester und lahmer Ente,
Kriechertum und Heuchelei – lammfromm eben. Der Begriff der Frömmigkeit
ist sicherlich nicht zufällig fast vollständig aus dem allgemeinen
Sprachgebrauch verschwunden. Der galoppierende Macht- und Ansehensverlust
der christlichen Kirchen geht auch einher mit einer tiefgreifenden
Veränderung der Sprache; in großen Teilen der Gesellschaft sorgt
das traditionell-christliche Vokabular bestenfalls noch für ein
ungläubig-mitleidiges Kopfschütteln.
Bei Wörtern, die schon seit längerem ungenutzt bzw. ungesprochen
in der Ecke liegen, sehe ich zwei Möglichkeiten: Die meisten dieser
Wörter sollten ohne viel Aufhebens beiseite gelegt und in aller
Stille begraben werden. Das gilt gerade auch für einen großen
Teil des kirchlichen Vokabulars, das verbraucht, mißbraucht, sinnentleert
und für die meisten Menschen schlicht und einfach unverständlich
ist.
Die Wörter "Frömmigkeit" und "fromm" würde
ich jedoch gerne wieder aus der Ecke hervorholen, sie gründlich
abstauben und anschließend neu füllen. Warum? Einige werden die
Antwort sicherlich schon ahnen: Weil ich fromm bin. Damit meine
ich, daß ich mit Gott spreche, streite, lache und singe, daß ich
immer wieder versuche, mein Leben auf dieses rätselhafte, wunderbare,
nervensägende und letztlich unbegreifliche "Du" hin
zu orientieren. Ein klarer Fall von Liebe also.Und damit auch
ein klarer Fall von Frömmigkeit. Dies zuzugeben finde ich durchaus
peinlich und ziemlich intim. Aber vielleicht trägt es dazu bei,
ein fast vergessenes und weitgehend in Mißkredit geratenes Wort
mit neuem Leben und frischem Wind zu füllen.
© C. Moosbach 2000

April 2000
Krankheit als Krankheit
Es begann damit, daß ich plötzlich Sehstörungen hatte. Zwei Tage
später sah ich auf dem rechten Auge praktisch nichts mehr. Mein
Gang zur Augenärztin endete mit einer Einweisung ins Krankenhaus.
Zwischen Gehirntumor und völliger Erblindung schien zu diesem
Zeitpunkt alles möglich. Nach 2 Tagen umfangreicher Untersuchungen
wurde mir mitgeteilt, daß es sich um eine Entzündung des Sehnervs
handele, die nur mit hoch dosierten Kortisoninfusionen behandelt
werden könne. Die Behandlung wurde durchgeführt, 14 Tage später
wurde ich als (vorläufig?) geheilt aus dem Krankenhaus entlassen.
Die äußerste Lapidarität, mit der ich diese Vorgänge schildere,
mag ein Hinweis sein auf die Tiefe und Intensität meines Erlebens.
Selbst ich als professionelle Be-Schreiberin zögere, das ganze
Ausmaß meiner Angst, meines Erschreckens in Worte zu fassen. Da
haben Abgründe sich aufgetan - in vielerlei Hinsicht. Dabei war
ich doch vorgewarnt: Wer als Kind vergewaltigt wurde, neigt im
allgemeinen nicht zu der Illusion, daß es im Leben gerecht zugehe
und Gott "das Schlimmste" schon zu verhindern wisse.
Eine wie ich weiß nur zu gut, daß jederzeit alles passieren kann
und daß es keinen Schutz davor gibt. Auch war ich mir darüber
im klaren, daß meine Traumatisierung sich im Falle eines Krankenhausaufenthalts
als höchst hinderlich erweisen würde. Der weitgehende Verlust
an Intimsphäre, die ausgelieferte Situation bei vielen Untersuchungen
– das allein reichte schon aus, um mich an die Grenze des Erträglichen
und darüber hinaus zu bringen. Womit ich nicht gerechnet hatte
war das Ausmaß meiner Angst. Die Vorstellung, womöglich völlig
zu erblinden und dadurch für den Rest meines Lebens den inneren
Schreckensbildern meiner Kindheit ausgeliefert zu sein, hat mich
in kaum noch kontrollierbare Panik versetzt. Womit ich ebenfalls
nicht gerechnet hatte, war meine völlige Unfähigkeit zum Gebet.
Wenn ich es versuchte, kamen "nur" Tränen, aber keine
Worte. "Wir wissen nicht, was wir beten sollen... der Geist
selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen" heißt
es im Römerbrief. Ein schöner Satz, aber so war es nicht. Ich
wußte nicht nur nicht, was ich beten sollte,
ich wußte auch nicht, wohin ich mich wenden
könnte. "Gott" war ein fernes, fremdes Wort, daß sich
– diesmal - als nicht tragfähig erwies. Was gehalten hat war das
Netz meiner Freundinnen und Freunde. Eine sagte mir, daß Gott
manchmal eben nicht "direkt", sondern "nur"
durch andere Menschen spürbar und vermittelbar sei. Eine andere
schrieb mir, daß sie und andere "inzwischen für mich glauben"
würden, solange ich es selbst nicht könne. Eine Krankenhausärztin
fand sich, die sich auf meine Not einließ und einige der für mich
schlimmsten Begleitumstände abmildern konnte.
Es bleibt zu reden von dem, was mir erspart blieb. Ich meine
die esoterische Klugscheißerei und mitleidlose Besserwisserei,
der viele Kranke heutzutage ausgesetzt sind. Krankheit als "Strafe
Gottes", das traut sich inzwischen kaum noch jemand zu sagen.
Heute heißt das: Krankheit als Weg, als Chance, als Ergebnis schlechten
Karmas oder negativen Denkens...
Die Liste ließe sich fortführen. Ich nehme an, daß sich hinter
solchen Sätzen Angst verbirgt und ein großes Bedürfnis nach Kontrolle.
Die Wahrheit aber ist: Auch wer alles "richtig" macht,
was immer das heißen mag, auch wer weder raucht noch trinkt, auch
wer täglich meditiert oder betet, auch die, auch der kann schwer
oder gar unheilbar krank werden, mit dem Zug oder Flugzeug verunglücken
und vieles mehr. Niemand weiß, warum das so ist. Das Leben ist
unendlich verletzlich und unendlich kostbar, Abgründe können sich
auftun in jedem Moment. Dann wieder unaussprechliches Glück oder
tiefer Friede. Antworten auf Fragen wie: "Warum ich?",
Erklärungen für Fragen wie: "Warum überhaupt?" gibt
es nicht. Was es gibt ist Mitgefühl und Trost, Hoffnung und ein
großes Versprechen, dem ich nicht immer glauben kann. Mehr läßt
sich nicht sagen.
© C. Moosbach 2000

Mai 2000
Warum eigentlich Kirche?
Nur wenige Tage nach meinem 18. Geburtstag bin ich aus der katholischen
Kirche ausgetreten. Innerlich war dieser Austritt längst vollzogen,
mit Erreichen der Volljährigkeit konnte ich nun endlich auch nach
außen mein Nein zur Kirche dokumentieren. Meine Abwendung vom
Christentum war zu dieser Zeit vollständig und hatte gute Gründe.
Es sollte mehr als 20 Jahre dauern, bis ich dieser Religion noch
einmal eine Chance gab.
Auch heute geht mir das allseits beliebte kirchliche Gejammer
über leere Gottesdienste und scharenweise davonlaufende Kirchenschafe
ordentlich auf die Nerven. Aus meiner Sicht sind die vielen Kirchenaustritte
die wohlverdiente Quittung für Frauenfeindlichkeit, korrupte Machtgier
und inhaltsleere Phrasendrescherei. Trotzdem bin ich vor nunmehr
5 Jahren während eines Ostergottesdienstes in die Evangelische
Kirche eingetreten. Warum? Wesentliche Teile der christlichen
Tradition sind mir nach wie vor fremd bis zuwider, beim Apostolischen
Glaubensbekenntnis und seinem "allmächtigen Vater" angefangen.
Auch nach 5 Jahren kenne ich keine Kirchengemeinde, in der ich
mich auch nur annähernd zugehörig fühle. Warum also bin ich in
der Kirche?
Es könnte etwas mit meiner ausgeprägten Starrköpfigkeit zu tun
haben. Neben aller patriarchalen Verseuchung und mittelalterlichen
Beschränktheit des Christentums trägt diese Religion ein unerschöpfliches
Potential an befreiender Wahrheit in sich. Ich denke gar nicht
daran, solche Schätze kampflos den Fundamentalisten und gedankenlosen
Nachbeterinnen zu überlassen. Und ich möchte mich auch nicht damit
zufrieden geben, für mich allein oder in kleinen Zirkeln eine
Art Privatreligion zu pflegen. Was ich will ist eine neue Reformation
und ich halte eine solche grundlegende Veränderung und Erneuerung
der Kirche – jedenfalls der Evangelischen – für möglich. Einige
wenige Male habe ich schon erlebt, wie diese neue andere Kirche
aussehen, klingen und sich anfühlen wird. Das hat zwar nicht gereicht,
um mich in der Kirche wirklich heimisch zu fühlen, aber es reicht,
um weiter in ihr zu arbeiten. Vielleicht werden sich ja manche
Kirchenobere noch wünschen, ich wäre nie eingetreten.
© C. Moosbach 2000

Juni 2000
Das Göttliche als Event
Über die Esoterik (Teil 1)
Ist es Ihnen/Euch auch schon aufgefallen? Aus einer ehemaligen
“Geheimlehre” (so die ursprüngliche Bedeutung des Wortes “Esoterik”)
ist längst ein Massenphänomen geworden. Ob Talk-Show, Massagepraxis
oder Büro - Grundbegriffe der Astrologie, der Reinkarnationslehre
oder des Tarots sind in aller Munde. Nur die Kirche hat mal wieder
nichts mitbekommen. Während sie noch mit Problemen der Abendmahlsgemeinschaft
oder Rechtfertigungslehre beschäftigt ist, weht der Zeitgeist
längst in anderen Gefilden. Ob im Seminar für Führungskräfte oder
der Psychogruppe am Wochenende: Unreflektiert und mit möglichst
wenig Wissen über gesellschaftliche oder historische Zusammenhänge
belastet werden Versatzstücke des Buddhismus oder Hinduismus zu
einem für westliche Geschmäcker gut konsumierbaren spirituellen
Brei zusammengerührt.
Ein Beispiel: Die östlichen Religionen gehen mit ihrer Reinkarnationslehre
davon aus, daß sich die Seele eines Menschen über unabsehbare
Zeiträume hinweg immer wieder neu in einem Körper inkarniert.
Sinn der Sache ist es, durch zahllose - meist schmerzliche - Erfahrungen
und ausdauernde Meditationspraxis irgendwann einmal vom “Rad der
Wiedergeburt” frei zu werden. Wer zur Erleuchtung, das heißt zur
Erkenntnis des Göttlichen gelangt, wird nicht wiedergeboren. Das
muß in einer von Hunger und Entbehrung geprägten Kultur eine äußerst
verlockende Vorstellung sein. In den reichen Ländern des Westens
wird diese Reinkarnationslehre allerdings zunehmend völlig anders
aufgefaßt. Was als Ausweg aus menschlichem Leiden gedacht war,
wird nun ganz im Gegenteil zum Ausdruck übersteigerter Lebens
- und Erlebnisgier. Wo ein Leben nicht
ausreicht, um all die schönen Wachstums- und Warenangebote zu
konsumieren, gibt es jetzt mehrere, viele, unendlich viele Leben.
Es ist daher nur konsequent, wenn Meditation nicht mehr als Weg
zur Überschreitung des Ich angesehen, sondern schlicht zur Steigerung
der Konzentrationsfähigkeit oder zur Befriedigung des spirituellen
Erlebnishungers benutzt wird.
Nach meiner Überzeugung befinden wir uns zur Zeit in einem Prozeß,
in dem das Gedankengut der Esoterik zum tragenden Instrument der
Herrschaftssicherung wird und in dieser Funktion das Christentum
ablöst. Es wird also höchste Zeit, sich mit dieser Ideologie,
die keine sein will, auseinander zusetzen. Ich werde mich daher
auch noch in den nächsten Kolumnen mit diesem Thema beschäftigen.
Dabei möchte ich meinen persönlichen Bezug zur Sache nicht verhehlen:
In den 80er Jahren war ich eine überzeugte und den “Meister” glühend
verehrende Bhagwan-Anhängerin. Aber davon später mehr.
© C. Moosbach 2000

Juli 2000
Das Göttliche als Event
Über die Esoterik (Teil 2)
In den 80er Jahren zeigten sich bei uns Frauen- Friedens - und
sonst wie bewegten erste Ermüdungserscheinungen. Unser jugendlicher
Schwung, mit dem wir mal kurz die Welt aus den Angeln heben und
vom Kopf auf die Füße stellen wollten, erlahmte zusehends. So
langwierig, so mühsam, so ganz und gar unspektakulär hatten wir
uns die Sache nicht vorgestellt. Lange verdrängte persönliche
Defizite und Sehnsüchte wurden spürbar und forderten ihr Recht.
Erste Psycho- und Meditationsgruppen sprossen ins karge Land der
Flugblätter und Demonstrationszüge. Da wir selbst weder ausgebeutet
noch bombardiert noch geschlagen wurden, da wir weder hungern
noch frieren mußten, war der Einsatz für mehr Gerechtigkeit und
Frieden für die meisten von uns vergleichsweise Privilegierten
nicht wirklich existentiell. Im Gegensatz zu den wirklichen Opfern
der "neuen Weltordnung" hatten wir die Wahl und wir
trafen sie. Als unser Hobby uns langweilig wurde, suchten wir
uns ein anderes. Der Rückzug ins Private wurde untermauert und
legitimiert durch die These, daß wir uns erstmal
selbst verändern, um uns selbst kümmern müßten, um dann
an einer politischen Erneuerung zu arbeiten. Inzwischen sind solche
Rationalisierungs- und Rechtfertigungsversuche längst nicht mehr
nötig, aus dem erstmal ist ein ausschließlich
geworden. Jede und jeder ist weitgehend beschwerdefrei und ganz
und gar sich selbst die Nächste und hat dabei richtig Spaß. Während
des Golfkrieges vor 10 Jahren wurde hier in Köln noch der Karnevalszug
abgesagt, den Leuten war die Lust darauf angesichts brennender
Ölquellen und Menschen wohl vergangen. Als die deutsche Bundeswehr
als Teil der NATO im letzten Jahr Serbien und das Kosovo bombardiert
hat, kümmerte das kaum noch jemanden. Demonstrationen und andere
Protestformen sind schließlich langweilig, bringen nichts und
Spaß machen sie auch nicht.
Im Rückblick finde ich es verblüffend, wie perfekt das inzwischen
zum Allgemeingut gewordene Gedankengut der Esoterik in die gewendete
politische Landschaft paßte und paßt.
Wir, die wir doch eigentlich rebellisch, friedliebend und "ganz
anders" sein wollten, als die Gesellschaft um uns herum,
bereiteten die politische "Wende" der 90er Jahre vor
und machten sie erst möglich. Wir waren frauenfeindlich, aber
mit neuer, esoterischer Begründung, wir waren denkfaul, aber nie
um Worte verlegen, wir waren angeblich rebellisch, aber im Grunde
politisch dumm, wir waren zutiefst gleichgültig gegenüber dem
Schicksal anderer, aber dabei richtig authentisch. Und nicht zu
vergessen, wir hatten reichlich Spaß.
Aber ob wir auch glücklich waren?
© C. Moosbach 2000

August 2000
Das Göttliche als Event
Über die Esoterik (Teil 3)
Kürzlich las ich im Kölner Stadtanzeiger von einem gerade erschienenen
Buch mit dem Titel: "Gesundheit für Körper und Seele".
Autorin ist Louise L. Lay, die sich "als eine der bedeutendsten
spirituellen Lehrerinnen unserer Zeit feiern läßt" so der
Kölner Stadtanzeiger. Kernthese dieses Buches ist folgender Satz:
"Jeder von uns ist zu hundert Prozent selbst verantwortlich
für jede seiner Erfahrungen" (ich nehme an, Frauen sind mitgemeint).
Was für eine ungeheuerliche, was für eine dumme und in ihren Konsequenzen
geradezu zynische Behauptung. Es handelt sich um ein grundlegendes,
nie hinterfragtes Axiom der Esoterik, ein echter Glaubenssatz,
der inzwischen weit über die Grenzen der esoterischen Zirkel hinaus
akzeptiert wird. Dieser Satz ist eine entscheidende ideologische
Grundlage für die Entsolidarisierung und Entpolitisierung unserer
Zeit. Die Arbeitskollegin hat Krebs? Da wird sie irgend etwas
falsch gemacht haben. Eine Freundin ist vergewaltigt worden? Das
hat sicher auch etwas mit ihr zu tun. Konsequent zu Ende gedacht
wären dann auch die Opfer von Auschwitz selbst für ihr Schicksal
verantwortlich – wahrscheinlich hatten sie einfach ein schlechtes
Karma. Wenn alle Menschen für alles, was ihnen zustößt, letztlich
selbst verantwortlich sind: Worüber sollte ich mich dann noch
aufregen? Warum die teueren TransFair-Produkte kaufen? Warum den
Notruf für vergewaltigte Frauen unterstützen? Wenn alles was passiert
schon "irgendwie" seinen Sinn hat, was kümmert mich
dann, daß jeden Tag auf der Welt 40000 Menschen verhungern? Lieber
noch einen schönen Rosenquarz kaufen und an den nächsten Urlaub
auf Gomera denken, das eigene "Wachstum" immer fest
im Blick.
Eines der Probleme besteht daran, daß in der esoterischen Szene
selten etwas konsequent zu Ende gedacht wird. Dort wird nicht
gedacht, sondern gependelt, gefühlt und intuitiv erahnt, wobei
die Esoterikerinnen all dies natürlich für eine besonders weibliche
Fähigkeit halten. Der Irrationalismus dieser Kreise treibt oft
geradezu groteske Blüten (beispielsweise in den sogenannten Power-Armbändern,
die zur Zeit in Mode sind); aber vielleicht ist es kein Zufall,
daß die beängstigenden Triumphe der Gentechnik einhergehen mit
einem immer weiter um sich greifenden Rückfall ins magische Denken
der Voraufklärung. In ihrer Intellektuellenfeindlichkeit erinnert
die Esoterik in fataler Weise an die Naziideologie, auch dort
wurde lieber gefühlt als gedacht, das "gesunde Volksempfinden"
gegen die "jüdische" Intellektualität, "Blut und
Boden" – Romantik gegen die Eiseskälte der Moderne. Solche
politischen und historischen Zusammenhänge interessieren die Damen
und Herren Esoterikerinnen natürlich nicht. Dieses mangelnde Reflektionsvermögen
macht die Sache allerdings nicht besser – eher im Gegenteil.
© C. Moosbach 2000

September 2000
Das Göttliche als Event
Über die Esoterik (Teil 4)
Große Teile des esoterischen Gedankenguts gehören inzwischen
– weitgehend unreflektiert – zum Zeitgeist, übrigens bis in kirchliche
Kreise hinein. Warum ist das so? Wie kommt es beispielsweise,
daß dieselben Frauen, die sich zu Recht an der Frauenfeindlichkeit
der katholischen Kirche stören, die Frauenfeindlichkeit des Buddhismus
klaglos hinnehmen, sie oft nicht einmal bemerken? Nicht nur der
Papst, auch der tibetische Dalai Lama ist immer ein Mann, und
nur diese können nach traditionell-buddhistischer Lehre in den
Zustand der Erleuchtung gelangen. Die Inkarnation als Frau gilt
in vielen asiatischen Ländern dagegen als Ausdruck eines schlechten
Karmas, den Frauen bleibt dann nichts anderes übrig, als durch
williges Akzeptieren ihres Schicksals auf eine Wiedergeburt als
Mann zu hoffen. Ich weiß, es ist bitter, aber nicht nur die christliche
Religion war und ist patriarchal und frauenfeindlich, auch der
Buddhismus ist es, vom Hinduismus ganz zu schweigen. Allerdings
gibt es da einen wichtigen Unterschied: Die blutbefleckte Schuldgeschichte
des Christentums kennen wir, die der asiatischen Religionen dagegen
nicht. Auch das macht die Esoterik mit ihrem bunten Potpourri
fernöstlicher Versatzstücke so anziehend. Demgegenüber kommt das
Christentum nach wie vor kalt, wortlastig und formelhaft daher.
Nun rächt es sich, daß der eigenen mystischen Tradition lange
Zeit so wenig Wertschätzung entgegengebracht wurde. Gott ist eben
nicht nur im Wort, sondern auch in der Stille hörbar, Gottes Dasein
muß eben nicht blind geglaubt, sondern kann geschmeckt, erahnt
und erlebt werden.
ABER: Diese Nähe Gottes ist weder käuflich noch erzwingbar, durch
welche Übung auch immer. Schon gar nicht ist sie der ultimative
Wochenend-Kick für gelangweilte Wohlstandskinder. Gott ist kein
schnell konsumierbares "Event", sondern eine lebenslängliche
Erschütterung, eine immer währende Herausforderung, ein "stilles
Geschrei" (D. Sölle) und eine unfaßbare Gnade. Diese Gnade
ist allerdings weder kostenlos noch unverbindlich. Sie erwächst
aus der Verbundenheit mit denen, die ganz unten sind, mit denen,
die nichts vorzuweisen haben außer einer unstillbaren Sehnsucht
nach Sinn und einem großen Hunger nach Gerechtigkeit. Eine Spiritualität,
die nur um sich selber kreist, die nur am eigenen Wachstum, am
eigenen Glück, am eigenen religiösen Erlebnis interessiert ist,
mag noch so bunt, mag noch so erfolgreich sein – gotterfüllt ist
sie nicht. Die postmoderne Esoterik wirkt auch deshalb so schal
und substanzlos, weil sie ohne soziale Bezüge, ohne ethische Maßstäbe,
ohne echte Verbundenheit mit dem Ganzen bleibt. Gott aber will
für alle die Fülle des Lebens – Gott sei
Dank!
© C. Moosbach 2000

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