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Bei Tag bist du das Hörensagen,

das flüsternd um die Vielen fließt;
die Stille nach dem Stundenschlagen,
welche sich langsam wieder schließt.

Jemehr der Tag mit immer schwächern
Gebärden sich nach Abend neigt,
jemehr bist du, mein Gott. Es steigt
dein Reich wie Rauch aus allen Dächern.

Rainer Maria Rilke
Das Stundenbuch
Frankfurt: Insel Verlag, 2000

Die Krankheit zum Tode

Gott wich aus mir,
als verdorrte die See wie Sandpapier,
als würde die Sonne zu einer Latrine.
Gott wich aus meinen Fingern.
Sie wurden zu Stein.
Mein Leib wurde zur Hammelseite,
und Verzweiflung ging im Schlachthaus um.

Jemand brachte mir in meiner Verzweiflung Orangen,
doch ich konnte keine essen,
denn Gott war in dieser Orange.
Ich konnte nicht berühren, was mir nicht gehörte.
Der Priester kam,
er sagte, Gott sei sogar in Hitler,
dann wäre Gott auch in mir.
Ich hörte das Zwitschern der Vögel nicht.
Sie waren fort.
Ich sah die stummen Wolken nicht,
sah nur den kleinen weißen Krug meines Glaubens
im Krater zerschellen.
Ich sagte immer wieder:
Ich brauche etwas, was mir Halt gibt.
Leute reichten mir Bibeln, Kruzifixe,
ein gelbes Tausendschön,
doch ich konnte sie nicht berühren,
ich – ein Haus voller Exkrement,
ich – ein geschändeter Altar,
ich, die zu Gott kriechen wollte,
konnte mich nicht bewegen, nicht essen vom Brot.

So aß ich mich selbst,
Bissen um Bissen,
und die Tränen wuschen mich,
eine Welle Feigheit nach der anderen,
verschluckte Krebs auf Krebs,
und Jesus stand über mir, blickte herab
und lachte, als Er mich gestorben sah
und legte Seinen Mund auf den meinen
und gab Seinen Atem.

Mein Blut, mein Bruder, sagte ich
und gab das gelbe Tausendschön
der Verrückten im Bett neben mir.

Anne Sexton
Buch der Torheit
Das ehrfürchtige Rudern hin zu Gott
Frankfurt 1998

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Im Umkreis
meiner Liebe
zum All
bete ich

Ich gehe auf
und unter
im Gebet

Rose Ausländer
Gesammelte Werke, Bd. 12
Frankfurt 1995

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Wir, die wir schon sehr früh, vielleicht schon im Mutterleib, aus dem Schoß des Lebens fielen.
Wir lernen niemals mit leichtem und doch festem Schritt zu gehen wie jene, die wissen, daß sie festen Boden unter den Füßen haben. Wir bringen es nie fertig, uns treiben, uns vom Rhythmus des Stroms tragen, uns wiegen zu lassen von Ebbe und Flut. Wir kommen stets aus dem Takt, wie schlechte Tänzer stolpern wir über eigene und fremde Füße. Wir können auch keine Umwege machen, unsere selbstauferlegte Sisyphusarbeit befiehlt uns, jedes Hindernis zu nehmen, jeden Stein auf dem Weg aufzuheben – aber natürlich ekeln wir uns dabei vor Kellerasseln und schaudern vor den Gebeinen der Toten. Doch unserer Aufgabe, Schmutz bei uns und anderen aufzuspüren und über die sauber gekratzen Zeichen der Vergangenheit nachzudenken, bleiben wir treu.
Wir finden nie eine dauernde Bleibe. Ist es Morgen, sehnen wir uns nach der barmherzigen Dunkelheit des Abends, und am Abend fürchten wir die schwitzenden Alpträume der Nacht. Mögen wir uns auch mit der Rüstung des Willens – und dem Schild häufig recht ansehnlicher Fähigkeiten – panzern oder uns die bunte Narrenkappe aufsetzen und lustig mit unseren Schellen klingeln, wir wissen dennoch, unsere Siege können andere täuschen, aber nie uns selber. Der Ausgang des Zweikampfs steht fest.
Es muß auch gesagt werden, daß wir nicht ermüden. Hartnäckig klammern wir uns an das Schürzenband des Lebens. Man schleift uns über Dornen, Disteln und scharfe Steine, der Mund wird uns verstopft mit Wüstensand, wir würden ohnehin nicht schreien, wir sind bedeckt von kleinen, infizierten Wunden, aber wir geben nicht auf. Wir sind ja so tapfer. Wir lassen nicht locker, denn wir haben gelernt, wer fällt, fällt weiter und fällt – in das bodenlose, das namenlose Nichts.

Cordelia Edvardson
Die Welt zusammenfügen
München 1989
(Cordelia Edvardson ist Auschwitz-Überlebende)

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Vor neuem Jahr

Von dem großen Schwunge einer dunklen Zeit
Sind wir hineingeschleudert, ruhen weit
In den Sternenecken ausgezackt,
Grasbewachsen, urwaldnackt.

In den Toren ziehen Klänge ein,
Ganze Wände Töne wie aus Stein,
Und als Licht ausströmen dicht und still
Wir vom Gottgesange, wie er will.

Henriette Hardenberg (1894-1993)
Südliches Herz
Herausgeber: Hartmut Vollmer
Zürich 1994

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Unentbehrlicher Anfang

Seit drei Ewigkeiten
suche ich dich
Unbeschreibbarer

Du schläfst
zwischen Erde und Himmel
und bist doch immer wach
ein unentbehrlicher
Anfang

Rose Ausländer
Gesammelte Werke, Bd. 14
Frankfurt 1995

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Auferstehung

Manchmal stehen wir auf
Stehen wir zur Auferstehung auf
Mitten am Tage
Mit unserem lebendigen Haar
Mit unserer atmenden Haut.

Nur das Gewohnte ist um uns.
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen.

Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.

Und dennoch leicht
Und dennoch unverwundbar
Geordnet in geheimnisvoller Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.

Marie Luise Kaschnitz
Dein Schweigen – Meine Stimme
Hamburg: Claassen-Verlag, 1962 

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Über das unaussprechliche heilige Geistes-Eingeben!

Du ungeseh´ner Blitz du dunkel-helles Licht
du Herzerfüllte Kraft doch unbegreiflichs Wesen.
Es ist was Göttliches in meinem Geist gewesen
das mich bewegt und regt. Ich spür ein seltnes Licht.

Die Seel ist von sich selbst nicht also löblich licht.
Es ist ein Wunder-Wind ein Geist ein webend Wesen
die ewig´ Atem-Kraft, das Erz-Sein selbst gewesen
das ihm in mir entzünd dies Himmel-flammend Licht.

Du Farben-Spiegel-Blick du wunderbuntes Glänzen!
du schimmerst hin und her bist unbegreiflich klar
die Geistes Taubenflüg in Wahrheits-Sonne glänzen.

Der Gott-bewegte Teich ist auch getrübet klar!
es will erst gegen ihr die Geistes-Sonn beglänzen
den Mond dann dreht er sich wird erden-ab auch klar.

Catherina Regina von Greiffenberg (1633-1694)
Gedichte
Herausgeber: Hubert Gersch
Berlin: Hensel-Verlag

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Lebenslüge

Als mir alles vollends entglitt
was mir hätte nah sein müssen
es mir noch fremder wurde
obwohl es hätte vertraut sein müssen
als ich den Menschen,
die mich kannten
zusehends unverständlicher wurde
als innere Bindungen
in die Brüche gingen
ohne Streit doch in der Tiefe

als das Gesicht das alle sahen
noch immer nicht das meine war
als mein Inneres
nicht zu dem gehörte außen
nach all der langen Zeit
als ich trotz großer Mühen
mein wahres Wesen noch nicht fand
als sich zu bestätigen schien
was ich immer schon befürchtete -
ich also völlig anders war

da glaubte ich nicht mehr der Lüge

Celina Kires
"Ich hab' es niemand erzählt..."
Gedichte, Bilder und Texte zur
Heilung sexuellen Mißbrauchs
Herausgegeben von Joachim Kix
Edition Trobisch

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Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen -, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein – vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend wie die Sprache Jesu, daß sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden, die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündet.

Dietrich Bonhoeffer
Widerstand und Ergebung
Gütersloh 1994

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