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Mein Bruder Klaus wurde 1914, Bruder Wolfgang 1917 und ich, wie gesagt, 1920 wenige Wochen nach der Volksabstimmung in Marienburg geboren.

Mein Vater war Teilnehmer des ersten Weltkrieges, zum Schluß als Ordonnanzoffizier. Da er bei seinem vierjährigen Fronteinsatz niemals verwundet worden war, galt er schon als 'kugelfest'. In den letzten Tagen des Krieges wurde er jedoch schwer verwundet. Ein Querschläger riß ihm den Nasenrücken weg und zerstörte das rechte Auge. In dreizehn plastisch-chirurgischen Operationen wurde sein Gesicht wieder einigermaßen hergerichtet. Diese Arbeit muß eine ärztliche Pioniertat gewesen sein, denn der ausführende Arzt, Professor Lexner, hat sie in einem Lehrbuch ausführlich beschrieben.

Zwischen den Operationen muß Vaters Gesicht damals sehr verwüstet ausgesehen haben. Jedenfalls fürchtete meine Mutter bei meiner Zeugung, sie könnte sich 'versehen' haben. Das Gesicht, das sie erschauern ließ, habe sich bei ihr so tief in die Seele eingeprägt, daß auf dem Gesicht des gezeugten Kindes die gleiche Verwüstung sich darstellen könne. So nahe stand noch das Magische dem mythisch-katholischen Denken!

In dieser Verwundung liegt wohl auch der Keim dafür, daß die Ehe meiner Eltern nicht sehr glücklich wurde. Mutter war sehr ästhetisch, durchaus Dame und gnädige Frau, genoß sehr die Anrede "Frau Doktor" und später "Frau Senator". Doch eine Bemerkung in ihrer Aufzeichnung, 'Begleiterscheinungen der großen Verletzung störender Art mußten hingenommen und ertragen werden', wie auch die Vorstellung, sich versehen zu haben, deuten auf ihre ästhetische Kränkung hin. Mein Vater hingegen mußte sich wohl beweisen, daß seine Anziehungskraft ungebrochen geblieben war. Sie war es tatsächlich. So kam es schrittweise zur seelischen Entfremdung, während bis 1945 der äußere Rahmen erhalten blieb.

Meine Mutter war nicht eigentlich schön, jedoch schlank und gepflegt. Durch die Erziehung ihrer ältlichen, ruhebedürftigen und überfürsorglichen Eltern war sie völlig unsportlich und ängstlich geworden. Vor allem hatte sie Höhenangst, die sich auf mich übertrug und die ich nie ganz verloren habe. Mit dem Rechnen soll es bedenklich gehapert haben. Doch hatte sie Humor und konnte hinreißend erzählen. Nicht nur ich war überzeugt, einen Film selbst gesehen zu haben, dessen Inhalt sie vorher erzählt hatte. Ohne selbst Musik auszuüben - am Klavier reichte es gerade zur Begleitung von Weihnachtsliedern - war sie gleichermaßen an Musik und Literatur interessiert. Sie nahm mich schon sehr früh in Theater und Konzert mit und konnte mit ihren Söhnen leidenschaftlich über Bücher diskutieren. Rilke, Hesse, aber auch Bergengruen, Gertrud Bäumer, später dann Reinhold Schneider, Pieper, Guardini waren unsere gemeinsame Lektüre. Besonders wichtig war uns Ernst Wiechert. Seine schwerblütigen, ostpreußischen Romane, wegen ihrer überladenen Metaphorik heute kaum noch erträglich, waren zwar apolitisch, ließen aber ein Heimatgefühl spüren, mit dem wir uns identifizieren konnten, weil es sich so ganz vom 'Blut und Boden'-Mythos der Nazis unterschied. Seine berühmten, durchaus politisch gemeinten und von den Herrschenden auch so verstandenen Vorträge an der Münchner Universität waren in Vervielfältigungen über ganz Deutschland verbreitet.  Wir lasen sie als Gruß von einem besseren Deutschland in dunkler Zeit. Ich bin durch Bücher sowohl in die bürgerliche als auch in die katholische Literatur hineingewachsen. Doch störte Mutter auch kein Karl May und selbst Tom Shark - der große Detektiv, bereits für zehn Pfennig zu kaufen - wurde geduldet. Mutter und Söhne lasen Nächte durch 'Vom Winde verweht'. Im Rahmen einer bürgerlich-katholischen Welt war meine Mutter spontan, herzlich, mit etwas Alkohol sogar ausgelassen, eine vorzügliche Gastgeberin, mit unseren zwei Dienstmädchen jeder gesellschaftlichen Verpflichtung gewachsen. Mein Vater hätte in seiner Stellung keine bessere Partnerin finden können. Auf ihre drei Jungens war sie sehr stolz. Deren Freunde und später Freundinnen waren bei uns immer herzlich willkommen. Sie ließ uns Vieles durchgehen, wenn es ihrer Vorstellung vom Leben, was Jungens an Streichen zuzugestehen war, entsprach. Dazu gehörte auch, leider, der Alkohol. Mein Vater, als ehemaliger Corpsstudent war der Ansicht, daß ein werdender Mann auch was vertragen müsse. Meine Mutter meinte wohl dasselbe. Selbst eine von mir vollgekotzte Nachttischschublade erschütterte sie nicht. Voraussetzung, mit am Tisch sitzen zu dürfen wenn Gäste kamen, waren erstklassige Tischmanieren. Da wir das einsahen, ließen wir uns ihren Drill klaglos gefallen. Ich war als jüngster wohl am stärksten ihr Produkt. Als ich so drei Jahre alt war, soll ich, wenn mich jemand nach meinem Namen fragte, 'mein Süßer' geantwortet haben. Später war ich so etwas wie ihr Page, konnte den Damen die Hand küssen und Konversation machen. Sie erzog uns mit Blicken, ohne je das Problematische dieser Erziehung zu hinterfragen. Da wir jedoch sonst sehr viel Freiheit hatten, nicht übermäßig mit Schulproblemen geplagt wurden, nahmen wir drei das alles gerne in Kauf. War es doch mit vielen Annehmlichkeiten verbunden. Sie wollte am Seelenleben ihrer Söhne teilhaben, hat mit mir entsprechende Seelenstündchen abgehalten, entweder vorm Schlafengehen oder bei Spaziergängen von Zoppot nach Glettkau und zurück am Ostseestrand entlang. Als ich dann älter wurde, wußte ich meine Mitteilungen wohl zu dosieren und ihren Erwartungen anzupassen, so daß sie schließlich, wie wohl die meisten Mütter, nur die Illusion hatte, ihre Söhne wirklich zu kennen.

Die andere, bedenkliche Seite ihres Wesens, will ich durch zwei Träume illustrieren, die ich entweder in der gleichen Nacht, oder in kurzem Abstand träumte, als ich etwa vierzigjährig in meiner Lehranalyse meine Probleme, die sehr viel mit ihr zu tun hatten, durcharbeiten konnte: Ich liege in einem Gitterbettchen, bin ein kleines Kind. Das Zimmer ist hell, rechts von mir an der Querwand steht noch ein Bett, ebenso an der Wand gegenüber. An der Wand zu meinen Füßen steht ein Kleiderschrank. Links davon ist eine Tür. Durch die Tür kommt eine weiße Frau. Ich presse die Augen zu, wage keine Bewegung, bin starr vor Angst. Die weiße Frau beugt sich über mich: nur nicht rühren, ich schlafe ja fest; dann geht sie zu den anderen Betten und beugt sich auch über diese und verläßt schließlich  den Raum. Ich habe das Zimmer damals meiner Mutter beschrieben, es aufgezeichnet. Sie sagte: "Ja, mein Jungchen, das war das Kinderzimmer in Marienburg." Ich hatte keinen Zweifel, daß die geträumte Frau meine Mutter war. Ein Alptraum, in dem ich auf dem Weg der Regression meine Mutter als das erlebte, was sie auch sein konnte: streng und unnahbar. Als ich zweieinhalb Jahre alt war, wurde mein Vater Stadtbaurat in Frankfurt/Oder. Hier wurde mein Bruder Wolfgang, achtjährig, von einer Straßenbahn überfahren. Ihm mußte das rechte Bein unterhalb des Knies abgenommen werden. Ich habe das Bild noch deutlich vor Augen, wie meine Mutter ins Wohnzimmer kam und auf dem Sofa weinend zusammenbrach. Von nun an war ihre ganze Fürsorge und Liebe auf meinen Bruder gerichtet. Hier ist der andere Traum, den ich meiner Mutter nicht erzählte: Ich bin etwa fünf Jahre alt, säge mir das Bein unterm Knie ab und bringe es der Mutter dar.

Hinter Mutters heiterer und lebendiger Oberfläche verbarg sich Strenge, ja Härte. Mein ältester Bruder Klaus stotterte. Die Mutter führte es auf eine Krankheit zurück, andere eher auf eine ungeduldige Erziehung, die auch bei dem kleinen Buben vor Schlägen nicht Halt machte. Ich war vielleicht zehn oder elf Jahre alt, als ich mit zwei Spielkameraden, beides Söhne von Hausmeistern in der Nachbarschaft, einen Pfirsichbaum mit reifen Früchten plünderte. Als die Eigentümerin herbeilief, konnten meine flinken, barfüßigen Freunde fliehen, ich aber wurde erkannt. Gewiß war es schwer, in unserem Klima einen Pfirsichbaum hochzuziehen. Meine Mutter hat mich jedoch nicht nur ungeheuerlich mit einem Stock verprügelt, sondern mir eine Zukunft als Verbrecher vorausgesagt. Schluchzend entfloh ich in den Garten unter einen großen Strauch und aß unter Tränen die Pfirsiche auf, die ich wohlweislich dort versteckt hatte. Sie konnte einen durch Schweigen wochenlang zermürben, bis man zu Kreuze kroch. Wenn ich ihre Normen überschritt, war sie schnell bei der Hand von Verbrechen und Verbrechern zu reden.

Als ich kaum eine Stunde nach ihrem Tode an ihr Bett trat, war nichts mehr da von rosiger Lieblichkeit, sondern da war ein herbes, ja strenges, dafür aber klares Gesicht. Ein Gesicht, bei dem man wußte, woran man war.

Während ich mich nicht erinnern kann, als Kind auf Mutters Schoß gesessen zu haben, ist es eine der schönsten Kindheitserinnerungen, wie ich auf dem Schoß des Vaters sitze und wir zweistimmig alle möglichen Volkslieder singen. Einfach nur so. Ich habe zwei oder dreimal eine richtige Tracht Prügel von ihm bezogen, wohl immer dann, wenn ich mal wieder fürchterlich gelogen hatte. Die Exekution tat dem Hintern weh, nicht jedoch der Seele; denn erstens war auch mir einsichtig, daß hier etwas geschah, was ich selbst verschuldet hatte, zweitens war damit ein Vorgang abgeschlossen, aus dem ich selbst nicht mehr herausgefunden hätte, und drittens merkte ich meinem Vater an, daß er die für notwendig erachtete Maßnahme selbst verabscheute und froh war, nun wieder normal, das heißt herzlich mit uns umgehen zu können. Als ich mit dreizehn so schwierig wurde, daß meine Mutter meinte, nur noch ein strenges Internat könne mich auf den Weg der Tugend zurückbringen, antwortete ihr mein Vater, beide hätten ihre Kinder nicht in die Welt gesetzt, um sie von anderen erziehen zu lassen. Das müßten sie schon selber schaffen. Er hatte es natürlich auch einfacher, denn sein Amt ließ ihm wenig freie Zeit.

Vater war Pragmatiker, hochintelligent, konnte Homers Gesänge seitenlang griechisch auswendig zitieren, aber er war nicht eigentlich geistig und schon gar nicht intellektuell.

Wenn er eine Kunstausstellung eröffnen sollte, gab er offen zu, von Kunst wenig zu verstehen und übergab das Wort einem Fachmann. Ich erinnere mich, wie er ein Flugzeug auf den Namen 'Ikarus' zu taufen hatte: Dabei glänzte er mit Kenntnissen griechischer Mythologie, um am Schluß den beeindruckten Zuhörern tröstend zu versichern, er habe das alles auch erst am Vortage dem Konversationslexikon entnommen. Das Gerücht, daß er als reifer Mann noch die Riesenwelle am Reck beherrscht habe, kann ich nicht bestätigen. Er war ein guter Redner und machte sehr nette Gelegenheitsgedichte. Mit einer Damenrede in Versform beeindruckten später noch seine inzwischen erwachsenen Söhne. Er war meiner Mutter nicht treu, verwöhnte sie jedoch mit liebevoll ausgesuchten Geschenken.

Das Urvertrauen, das mich in den schwersten Krisen meines Lebens nie ganz verlassen hat, verdanke ich sicher auch der liebevoll sentimentalen Zuwendung, die die Mutter ihrem 'Süßen' zukommen ließ, bis der Bruder durch die Amputation ihm diese Position streitig machte. Aber sicher nicht weniger meinem lebensklugen verläßlichen Vater. Die geistigen und künstlerischen Interessen hat jedoch meine Mutter sehr früh in mir und meinen Brüdern erweckt und gefördert.

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Last Update: 24.02.2005